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Modranhit

von Gabi

Kapitel 1

Hand in Hand gingen die beiden Offiziere über den Platz, auf dem es vor Geschäftigkeit im Augenblick nur so wimmelte. Reinigungseinheiten schwebten auf ihren Antigravkissen über die Steinplatten, um sie gründlich und schonend zu säubern. Bald würde das eingelassene Muster aus bunten Steinen deutlich hervortreten, bevor es bis zur nächsten Festlichkeit wieder vom Schmutz der zahlreichen Schuhe verstaubt wurde, die tagein tagaus darüber liefen. Heute Nacht feierten die Bajoraner eines ihrer Lichterfeste zu Modranhit, der Wintersonnenwende.

Kira wollte so gerne wieder ein Fest auf bajoranischer Erde begehen. Es hatte sie keine Sekunde gebraucht, um Odo zu überreden sie zu begleiten. Der Formwandler liebte es, an der privaten Welt dieser wunderbaren Frau teilzuhaben, die sie nur mit ihm teilte, und sonst mit niemandem.

Kira lächelte ihm zu und zog ihn ein wenig an der Hand, bis sie beide an einem Rand des Platzes standen, von welchem aus man die Darstellung erkennen konnte. Typisch bajoranisch handelte es sich um eine Szene aus einer der ältesten Überlieferungen, wie Rehor in der Höhle das erste Mal auf die Propheten traf. Der blaue Quarz, der für die Umrisse der Höhle verwendet worden war, stammte aus dem Baraq-Gebirge hoch oben im Norden.

„Hier fing unser Glauben an“, erklärte sie Odo mit einem Nicken zu dem Mosaik, das in Teilen immer wieder unter den Reinigungseinheiten verschwand, nur um dann glänzender wieder hervorzutreten. „Und er hat uns seitdem sicher durch die Dunkelheit geleitet… Was ist?“ Sie runzelte ein wenig die Stirn, als sie das Schmunzeln im Gesicht des Gestaltwandlers bemerkte.

Odo bemühte sich augenblicklich wieder ein ernstes Gesicht aufzusetzen. „Nichts, Nerys. Ich finde es nur so schön, dir zuzusehen, wenn du über deinen Glauben sprichst. Dein Gesicht beginnt dann …“, er suchte nach den passenden Worten, „… irgendwie von innen zu leuchten. Du wirkst in diesen Momenten so … wahrhaftig.“

Kiras Augenbrauen kletterten in die Höhe, dann musste auch sie schmunzeln. „Wahrhaftig? Das ist sicherlich eines der ungewöhnlichsten Komplimente, das ich jemals gehört habe.“ Sie legte ihren Kopf schräg, um ihn mit neckendem Blick anzusehen. „Es war doch als Kompliment gedacht, oder?“

„Aber natürlich!“, beeilte sich Odo zu versichern. Die gutaussehende Bajoranerin schaffte es immer und immer wieder ihn aus der Fassung zu bringen. Er verstand sie weit besser als jeden anderen Humanoiden, dem er jemals begegnet war, doch selbst bei ihr war er immer noch nicht in die Tiefe aller Nuancen vorgedrungen. Sie lachte auf, als sie sein verdattertes Gesicht bemerkte, lehnte sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Nasenspitze.

„Wenn ich mich richtig erinnere, dann war ich das letzte Mal, als ich zur Modranhit-Feier an diesem Ort war, alles andere als wahrhaftig.“

Odo ahmte mit seinen Gesichtszügen das Heben der Augenbrauen nach, was Kira dazu ermunterte zu erzählen...



Die junge Nerys kauerte im Schutz eines kleinen Verschlags am Rand des großen Festplatzes der Stadt Ganarain. An normalen Tagen wurden auf dem Holztisch, unter dem sie hockte, Waren feil geboten, doch heute war kein normaler Tag. Heute Nacht war Modranhit, die Wintersonnenwende, die längste Nacht des Jahres. Dass Bajoraner dieses Fest feierten hatte sie als kleines Mädchen bereits im Singha-Flüchtlingslager mitbekommen. Ihr Vater hatte stets gesagt, dass nach dieser Nacht die Tage wieder länger würden und alles besser käme. Natürlich kam es nie besser – doch die Hoffnung dieser Nacht war etwas Wertvolles, was das kleine Mädchen stets tief in seinem Herzen getragen hatte. Seit eineinhalb Jahren war sie nicht mehr im Flüchtlingslager, sondern an dem einzigen freien Platz, den sie jemals auf Bajor erlebt hatte, bei ihrer Shakaar. Die Stadtbewohner, welche hier so geschäftig herumliefen, mochten sich frei wähnen. Doch in den Augen des Mädchens waren sie lediglich Marionetten der allgegenwärtig patrouillierenden cardassianischen Soldaten. Keinen Deut besser als die Bajoraner in den Flüchtlingslagern, lediglich besser gekleidet und ernährt.

Lupaza hatte sie letztes Jahr zu dieser Zeit mit in die Stadt genommen, um Besorgungen zu erledigen. Ganarain war eine Kleinstadt, die alles bot, was sie an Grundausstattung benötigten, und dennoch unwichtig genug für eine der überbordenden cardassianischen Militärprovinzen wie sie sich in den bajoranischen Großstädten manifestiert hatten. Der bajoranische Stadtrat war ein Schattenkabinett unter dem Befehl des für diesen Sektor zuständigen Guls. Um zu verhindern, dass Ganarain stärker befestigt wurde, hatte Shakaar jede Aktion innerhalb der Stadt und im näheren Umland untersagt. Es war für ihre Versorgung und damit für ihr Überleben notwendig, dass sie einigermaßen unbehelligt in der Stadt handeln konnten.

Nerys hatte dort zum ersten Mal erlebt, wie Modranhit gefeiert werden konnte. Es hatte sich ihr nachhaltig eingeprägt und sie wollte es dieses Jahr wieder ansehen. Ihr erster Impuls war es gewesen, sich davon zu schleichen. Doch ihre Gruppe basierte nicht auf Heimlichkeiten voreinander sondern auf Vertrauen. Das hatte sie in ihrem zarten Alter von vierzehn Jahren bereits nachhaltig verinnerlicht. Also hatte sie schweren Herzens ihren Kommandanten gefragt, ob sie aus ihrem Winterlager hinabsteigen dürfte. Erwartet hatte sie ein ‚Nein‘, erhalten hatte sie überraschenderweise ein ‚Ja‘. Seit sie ihren ersten Einsatz an den Waffen erfolgreich absolviert hatte, hatte sich das Verhältnis von Seiten ihres Kommandanten geändert. Hatte er sie davor nur als kleines Botenmädchen für Hilfsarbeiten angesehen, trat er ihr nun auf Augenhöhe entgegen. Er gewährte ihr einen Vertrauensvorschub, von dem sie wusste, dass sie ihn sich erst noch erarbeiten musste. Und die Propheten sollten sie verfluchen, wenn sie dieses Vertrauen missbrauchte. Er hatte ihr nicht sagen müssen, dass sie vorsichtig sein sollte, dass sie durch ihre Spuren im Schnee niemandem die Richtung ihres Lagers verraten durfte, dass sie sich nicht erwischen lassen sollte. Er hatte sie lediglich ernst angesehen und sie hatte genickt. Dann hatte sie in weitem Bogen mit dem Abstieg aus den Bergen begonnen, bis sie schließlich hier angelangt war, um ein wenig von der Festlichkeit und Hoffnung dieser Nacht in ihrem Herzen tanken zu können.

Zahlreiche Bajoraner eilten die Arme voll mit Ruten, immergrünen Zweigen und getrockneten Kräutern hin und her, um Gestelle und den kleinen Altar zu schmücken. Am Rand des Platzes waren in regelmäßigem Abstand cardassianische Soldaten postiert, die ihre Augen nicht von dem Geschehen ließen.

Versammlungen waren unter der cardassianischen Besatzungsregierung verboten, das Begehen der religiösen Feiertage jedoch gestattet. Veranstaltungen wie die öffentliche Danksagung an Modranhit standen auf einem schmalen Grat und wurden argwöhnisch von den Besatzern beobachtet.

Es entging Nerys nicht, dass neben mindestens zweien der Soldaten bajoranische Bürger standen, die recht geflissentlich dreinblickten. Ohne Zweifel war es ihre Aufgabe, augenblicklich Alarm zu schlagen, wenn sich eine Gebetsformel nicht nur als solche herausstellte, sondern als verdeckten Aufruf zum Widerstand. Kollaborateure! Die junge Nerys hasste sie mit noch größerer Leidenschaft als die Löffelköpfe. Doch für heute Nacht wollte sie den Hass ruhen lassen und sich an der Gegenwart ihrer Götter erwärmen. Sie zog die Thermojacke enger um ihren schmalen Körper. Sie war dankbar für die Kleidung, die sie in der Shakaar erhalten hatten. So gutes Material hatte sie nie zuvor in ihrem Leben besessen. Die Militärjacke war ihr etliche Nummern zu groß, doch dadurch konnte sie sich nur umso besser hinein kuscheln. Hier unten in Ganarain lag der Schnee zwar nur fleckenweise und nicht in tiefen Wehen wie oben vor dem Eingang ihres Winterlagers, doch der kalte Wind pfiff nicht minder durch die Gassen.

Während sie sich ihrer warmen Jacke erfreute und geistesabwesend am Ende ihres rotblonden Zopfes knabberte, fiel ihr eine Bewegung unter dem Altar auf, der gerade ausladend geschmückt wurde. Noch ein wenig hektischer als die es umgebenden Füße, hüpfte ein kleines Tier dort herum, das offensichtlich nicht wusste, in welcher Richtung es die Flucht ergreifen sollte. Immer wieder machte es einen mutigen Ausfall, nur um sich sofort wieder unter den Altar zu flüchten. Nerys erkannte die kleine stumpfe Schnauze und die schwarzen Knopfaugen als einen Lepor. Sie hatte durch die starren Zäune des Singha-Lagers das eine oder andere Mal cardassianische Mädchen beobachtet, wie sie mit diesen Tieren spielten. Es war einer ihrer sehnlichsten Wünsche gewesen, auch einen Lepor als Haustier zu haben ...



„Du hast von diesem Moment an natürlich keinen anderen Gedanken mehr gehabt, als diesen … dieses Tier einzufangen“, bemerkte Odo lächelnd.

Kira schenkte ihm ein offenes Grinsen. „Du kennst mich zu gut. Ich habe von diesem Moment an keinen anderen Gedanken mehr gehabt, als den Lepor einzufangen. Das sind kleine Säuger, etwa so groß“, sie beschrieb mit den Händen einen Abstand, der in etwa der Länge ihres Unterarms entsprach. „Ganz weich und kuschelig mit runden Ohren und einem Stummelschwanz. Vor allem im Winterfell sind sie für kleine Mädchen einfach unwiderstehlich“, gestand sie reumütig.

Die Reinigungsroboter hatten ihre Arbeit beendet. Das Mosaik auf dem Festplatz leuchtete jetzt wieder in den blaugrauen und rötlichbraunen Tönen, in denen es bei seiner Entstehung erstrahlt war. Kira legte ihren Arm um Odos Rücken, während sie das Bild versonnen betrachtete. „Schön, nicht wahr?“

Der Gestaltwandler nickte, doch er meinte nicht das Mosaik damit.

Jetzt, wo der Platz gesäubert war, begannen die Mitglieder des Festkomitees, die zu gleicher Zahl aus den Prylaren des städtischen Klosters wie aus Stadtbewohnern bestanden, mit der Arbeit des Schmückens. Ein Altar für die Zeremonie wurde herangetragen und mit kostbaren Tüchern abgedeckt. Jeweils zwei Akolythen trugen die schweren Krystalium-Schalen, in denen später die Bateret-Blätter verbrannt wurden.

„Und so hast du dich ins Getümmel gestürzt, um das Tier zu fangen?“, hakte Odo nach, als Kira drohte ihre Geschichte beim Anblick des geschäftigen Treibens zu vergessen. „Das klingt aber nicht sehr bedacht“, gab er zu bedenken.

Kira verstärkte ihren Griff um seine Taille. „Ich habe kein bisschen nachgedacht. Es war plötzlich einfach das Wichtigste für mich, dieses kleine Wesen streicheln zu können. Alles andere zählte nicht mehr. Kennst Du dieses Gefühl?“

Der Gestaltwandler nickte vielsagend...


Nerys hoffte, dass sie im allgemeinen Trubel nicht auffiel, als sie sich unter dem Bretterverschlag hervorwagte. Sie wich den geschäftigen Erwachsenen so gut es ging aus, während sie sich dem Altar näherte, immer die kleinen Bewegungen im Schatten unter dem Tisch im Auge behaltend. Einige der Bajoraner bemerkten sie, beachteten sie jedoch nicht weiter. Sich nach den cardassianischen Soldaten umzudrehen verbot sie sich. Das hätte nur unnötige Aufmerksamkeit erweckt. Sie musste so tun, als ob die Besatzer gar nicht da waren. Sie war nur ein kleines Mädchen aus der Stadt, das sein Haustier suchte …

Sie war so sehr damit beschäftigt, unauffällig zu wirken und gleichzeitig nicht den Lepor aus den Augen zu verlieren, dass sie die ältere Bajoranerin übersah, der sie in den Weg lief. Die Frau war über und über mit beerenbehangenen immergrünen Ästen beladen, so dass sie den Bereich genau vor ihren Füßen nicht überblicken konnte und darauf vertraute, dass ihr Platz gemacht wurde. Sie hatte nicht mit einem Mädchen gerechnet, dessen Gedanken einzig und alleine bei einem Lepor weilten.

In einem Regen aus Blättern und Beeren gingen beide zu Boden. Sie fluchten laut auf und gaben sich gegenseitig die Schuld nicht aufgepasst zu haben. Augenblicklich wurden die cardassianischen Soldaten auf sie aufmerksam.

„Was ist da los?“, wollte einer von ihnen wissen.

Sowohl die Grünzeugträgerin als auch Nerys zogen die Köpfe ein. Beide jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Während die ältere Bajoranerin ihren Respekt und ihre Demut vor den stärkeren Besatzern ausdrückte, wäre es Nerys nicht im Traum eingefallen, vor einem von ihnen zu buckeln. Sie wollte jedoch nicht, dass ihr Gesicht zu sehr gesehen wurde. Noch war die Shakaar eine recht gesichtslose Organisation in dieser Gegend. Es wäre nicht hilfreich, wenn ihre hübschen Züge wegen eines so blöden Zwischenfalls im Gedächtnis des einen oder anderen Cardassianers haften blieben. „Mein Lepor ist entlaufen“, murmelte sie daher in ihren Kragen und zeigte auf das Tierchen unter dem Tisch in der Hoffnung, dass sich in der Menge hier niemand befand, dem es rechtmäßig gehörte.

„Ist das ein Grund ohne zu schauen hier rumzurennen?“, regte sich die andere Frau auf. Sie hatte sich wieder aufgerappelt und sammelte ihre Zweige ein. Nerys hatte es sicherlich der Gegenwart der Soldaten zu verdanken, dass sie nicht noch mehr von der Älteren zu hören bekam. „Los hilf mir.“

„Hilf ihr!“, wies auch der Cardassianer sie an.

Nerys schluckte jeden Kommentar hinunter, der ihr auf der Zunge lag, heftete den Blick immer noch auf den Boden und nickte lediglich. Sie konnte erkennen, wie der Lepor in seinen Fluchtversuchen innegehalten hatte und jetzt die Beeren auf dem Boden anstierte. Er hatte ganz offensichtlich Hunger ...



„Das sind Rinboreen-Sträucher.“ Kira deutete mit der Hand auf das um den Altar errichtete Gerüst, welches nun üppig mit immergrünen Zweigen geschmückt wurde, an denen rotgoldene Beeren hingen. „Als Kind waren sie immer mein kleiner Hoffnungsschimmer, dass auch der schlimmste Winter nicht alles Leben besiegen kann.“ Sie lächelte reumütig, wie sie das immer tat, wenn sie an das trostlose Leben ihrer Kindheit zurückdachte. „Sogar im Singha-Lager wuchsen ein paar dieser Sträucher. Wir haben immer die Beeren gepflückt und so getan, als wären sie die allergrößten Kostbarkeiten – bis sie dann nach ein paar Tagen vermatscht waren.“ Sie lehnte sich näher an Odo. Der Gestaltwandler legte den Arm um ihre Schulter und erwiderte nichts. Es genügte ihm, ihren Worten zu lauschen. In ihrer Gegenwart war er zuhause.

Ein paar Kinder rannten Fangen spielend über den Platz und wurden sogleich von den Erwachsenen verscheucht, bevor sie die Gestelle zum Einsturz bringen konnten. Kichernd und lachend flohen sie in eine der auf den Platz mündenden Seitengassen, in den Händen stolz erbeutete Zweige mit Rinboreen-Beeren.

„Es tut so gut zu sehen, dass sie jetzt lachen und spielen können ohne Angst vor Übergriffen. Ach, Odo!“ Sie legte den Kopf auf seine Schulter.

Er wartete ab, ob ihrem Seufzer noch etwas folgte, doch sie blieb stumm verwoben in den Erinnerungen, die sich momentan in ihrem Gedächtnis abspielten. Um seine Geliebte nicht zu sehr in Melancholie abgleiten zu lassen, erinnerte er sie leise an die Geschichte, die sie begonnen hatte zu erzählen. „Und, hast du den Lepor hervorlocken können…?“


Während sie missmutig die Zweige aufsammelte, schielte sie immer wieder zu dem kleinen Altar hinüber. Andere Bajoraner in ihrer Nähe waren jetzt auch auf das Tier aufmerksam geworden. Glücklicherweise erklang von nirgendwo ein „Das ist mein Lepor.“ Nerys hatte sich mittlerweile so in die fixe Idee dieses Haustiers gesteigert, dass sie höchstwahrscheinlich in ihrer temperamentvollen Art einen Streit mit dem wahren Besitzer angefangen hätte.

„Kann ich ein paar der Zweige für mein …“, sie überlegte fieberhaft nach einem Namen. Ihr fiel in der Eile nichts ein, so nahm sie den ersten haarigen Namen, der ihr in den Sinn kam, „… für meinen Furel haben?“

„Ich denke überhaupt nicht daran!“, entgegnete die ältere Bajoranerin empört. Sie raffte die nun wesentlich unordentlicher aussehenden Rinboreen-Zweige zusammen und brachte sie auf die andere Seite des Altars außerhalb von Nerys‘ Reichweite.

„Nimm ein paar von meinen.“ Ein paar frische Äste mit saftig leuchtenden Beeren erschienen in ihrem Gesichtsfeld. Ein älterer Herr streckte sie ihr entgegen. „Dein Lepor sieht aus als hätte er Hunger.“

Nerys nahm die Zweige misstrauisch entgegen. In einer besseren Welt hätte sie gelächelt und sich bedankt, doch so bemerkte sie nur: „Ich mach nichts dafür!“

Der Mann stockte kurz, doch dann schenkte er ihr ein trauriges Lächeln, während er den Kopf schüttelte. „Ich will nichts von dir. Nimm sie einfach. Besinnliches Modranhit.“ Er wandte sich ab und ging seines Weges um dem Mädchen zu verdeutlichen, dass seine Geste in der Tat keinen Hintergedanken beinhaltet hatte.

Nerys schämte sich für ihre rüde Reaktion, doch ihr Stolz verbot es ihr, dem Mann hinterher zu gehen und sich zu bedanken. Stattdessen kniete sie sich vor dem Altar auf den Boden und wedelte ein wenig mit den beerenbehafteten Zweigen herum. „Hjmm … lecker … komm, du hast sicher Hunger …“ Sie zwang sich dazu, die Gegenwart der anderen Bajoraner und insbesondere diejenige der cardassianischen Soldaten zu ignorieren und die Tatsache auszuschalten, dass sie sich momentan aktiv in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit brachte. Wenn Shakaar sie so sehen könnte, würde er ihr nie mehr erlauben, sich alleine vom Lager zu entfernen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sicherlich kein Besatzer auf die Idee käme, dass eine Rebellin etwas derart Idiotisches tun würde.

Während sie noch über ihr unüberlegtes Handeln sinnierte, hatte sie nicht bemerkt, dass der Lepor sich tatsächlich hervorgewagt hatte. Der Geruch von frisch geschlagenen Rinboreen-Zweigen war verlockender als die Angst vor den vielen herum eilenden Füßen. Die kleine Schnauze mit den Tasthaaren schnupperte nervös und er setzte eine kleine weißbraune Pfote vor die andere. Schließlich hatte das Tierchen die ersten Beeren erreicht, entblößte zaghaft seine Nagerzähnchen und zupfte eine saftige rotgoldene Frucht ab. Zufrieden mit dem Geschmack brachte es die Hinterläufe zu den Vorderpfoten, plusterte sich zu einer kleinen Fellkugel auf und fraß mutiger geworden weiter.

Nerys lächelte. Sie schob sich ein wenig näher, dann packte sie blitzschnell zu. Der Lepor zuckte zusammen, beruhigte sich aber recht rasch, als sie ihn an sich drückte und die Beeren immer noch in Reichweite der Schnauze waren. Es handelte sich definitiv um einen Lepor, der diese Art von Behandlung gewohnt war.

Das junge Mädchen betrachtete das Tier stolz. Es war eine andere Art von Stolz als diejenige, die sie überkam, wenn ein Anschlag erfolgreich verlaufen war. Eine ruhige Art, die sich fast noch besser anfühlte.

Die erwachsenen Bajoraner in ihrer Nähe, die nicht damit beschäftigt waren, sich darüber aufzuregen, dass sie die Vorbereitungen zum Fest aufhielt, bedachten sie mit nachsichtigen Blicken. Ein kleines Mädchen und sein Haustier. Ein seltsam normaler Anblick in diesen unnormalen Zeiten.

Jetzt, da sie ihren Schatz im Arm hielt, kehrte so allmählich ein wenig rationales Denken in Nerys‘ Bewusstsein zurück. Was sollte sie jetzt tun? Das Tier wieder laufen zu lassen oder gar den rechtmäßigen Besitzer ausfindig zu machen, stand außer Frage. Wahrscheinlich hatte es ohnehin jemand ausgesetzt, weil er sich nicht mehr darum kümmern wollte.

Das Fell war herrlich weich, als sie ihre Hand hindurch gleiten ließ. Sie hatte noch nie etwas so Schönes in ihrem Leben gehabt. Sie wollte es behalten. Dass es ihr ausgerechnet an Modranhit über den Weg gelaufen war, dem Fest der Hoffnung, konnte kein Zufall sein.

Die Frage, ob sie mit dem Tier im Arm den beschwerlichen Aufstieg zum Winterlager der Shakaar überhaupt schaffen würde, und was gar ihr Kommandant zu dem Neuzugang sagte, blendete sie sicherheitshalber aus.

Auf den Lepor einsprechend zog sie sich von dem Festplatz zurück. Es war ihr nicht mehr wichtig, der Messe beizuwohnen und den Gebeten der Prylaren zu lauschen. Doch auch wenn sie momentan vollauf mit ihrem neuen Freund beschäftigt war, waren ihre geschärften Rebellensinne nicht vollkommen eingelullt.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie einer derjenigen Bajoraner, die sie anfangs als Kollaborateure eingestuft hatte, dem neben ihm stehenden cardassianischen Soldaten etwas zuflüsterte und dabei aufgeregt in ihre Richtung gestikulierte. Nerys wartete nicht ab, wie der Soldat darauf reagierte. Sie sah zu, dass sie von der offenen Fläche des Festplatzes hinunter in die Schatten der nächstgelegenen Seitengasse kam. Dort beschleunigte sie ihr Tempo. Erst nur wenig, dann als sie aus der Sicht des Platzes geraten war, begann sie zu rennen. Sie bog mehrfach ab, bis sie nicht mehr genau wusste, wo sie war. Erst dann verlangsamte sie ihr Tempo wieder. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass sie hier in Ganarain auffiel.

Gerade, als sie aufatmen wollte, hörte sie hinter sich den gleichmäßigen Schritt fester Militärstiefel.

Verdammt! Nerys versuchte, ihren Atem ruhig zu halten. Das war nur Zufall, es war nur eine Patrouille, welche ihren routinemäßigen Rundgang durch die Straßen der Stadt machte …

„Das Gesicht habe ich nicht gesehen, aber sie hat einen langen blonden Zopf …“

Nerys‘ Herz setzte einen Schlag aus. Es handelte sich definitiv nicht um eine Routine. Hastig klemmte sie sich die Rinboreen-Zweige unter den Arm und stülpte sich mit der freien Hand die Kapuze über den Kopf. Ihre Haare würden sie nicht verraten.

„… und sie trägt eine Militärjacke. Das hätte mir auch gleich auffallen können. Keiner von den Typen hier besitzt so etwas.“

Nerys stieß einen verhaltenen Fluch aus. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht, als sie sich aus ihrer Deckung auf den Platz hinaus gewagt hatte. Natürlich mussten die schweren Thermojacken auffallen, welche die Shakaar für diesen Winter erbeutet hatte. Sie hätte sich für ihre Gedankenlosigkeit ohrfeigen können, wenn sie jetzt nicht andere Sorgen gehabt hätte.



Odo blickte Kira von der Seite an, als sie für einen Moment in der Erzählung innehielt. Die Sonne war bereits der längsten Nacht des Jahres gewichen, überall auf dem Festplatz wurden nun die Feuer entzündet. Meterhohe Leuchter und große Becken mit brennender Flüssigkeit. Die Flammen spiegelten sich in den tiefdunklen Augen der Bajoranerin und ließen den Sternenhimmel in ihnen lebendig werden. „Deine Starrköpfigkeit hat dich wahrscheinlich daran gehindert, das Tier oder die Zweige abzulegen, um damit beweglicher für die Flucht zu sein?“

Sie wandte ihm das Gesicht zu. Ein seltener, leicht schamhafter Ausdruck lag darin. „Das kommt nicht wirklich überraschend?“

„Nicht wirklich“, lächelte Odo. „Wenn du dir etwas in den Kopf setzt, dann bist du nicht mehr davon abzubringen – auch nicht von einer Armee von Cardassianern.“

Ihre Mundwinkel zuckten. „Das kann manches Mal auf die Nerven gehen, nicht?“

„Ganz im Gegenteil“, beeilte sich der Gestaltwandler zu versichern. „Diese Zielstrebigkeit war das Erste, was mir an dir aufgefallen ist. Du warst so anders als die anderen Humanoiden, die ich kennengelernt habe. In dir brannte ein Feuer.“

Kiras Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, ihre Augen verformten sich dabei zu den dunklen Halbmonden, die Odo so liebte.

„Dann werde ich dafür sorgen, dass das Feuer nicht so schnell erlischt.“ Sie schlang beide Arme um die Taille ihres Partners. Mit der untergegangenen Sonne war auch die Restwärme verschwunden. Es wurde nun empfindlich kalt. Odos Nähe spendete ihr nicht nur Geborgenheit sondern auch Wärme.

„Ich glaube nicht, dass irgendjemand im Stande ist, dieses Feuer jemals zu löschen.“ Odos Ernsthaftigkeit berührte sie. Ihr war bewusst, dass sie die eine Konstante war, die für den Gestaltwandler in der völlig chaotisch anmutenden Welt der Solids einen Sinn machte. Es lag eine große Verantwortung in ihrer Beziehung.

Verträumt betrachtete sie wieder die Flammenbecken, ihren Kopf auf Odos Schulter gebettet. Über dem Festplatz war nun eine wunderbare Ruhe eingekehrt. Die Bajoraner hatten sich an den Rand des Lichterspektakels zurückgezogen und warteten nun auf die Prozession des Vedeks mit seinem Gefolge.

Während auch Kira wartete, sprach sie weiter …


Wohin sollte Nerys sich wenden? Sie blickt die Gasse hinunter, in welcher sie sich gerade befand. Es war nur ein schmaler Durchgang zwischen hohen Häuserblöcken. Hier war sie viel zu leicht festzusetzen. Sie hastete zum Ende der Gasse und duckte sich in den Schatten der Mauer. Die kreuzende Straße war breiter und Nerys erkannte sie als diejenige wieder, über welche sie am Nachmittag nach Ganarain hinein gekommen war. Rasch huschte sie um die Ecke, den Rücken dicht an den Gebäudewänden. Der Lepor, den sie an ihr Herz gedrückt hielt, schien von ihrer Nervosität unbeeindruckt. Sie konnte die gleichmäßige Bewegung spüren, welche das Kauen der Rinboreen-Beeren verursachte.

„Wir beide verschwinden jetzt schleunigst“, flüsterte sie dem Tier zu.

Sie hatte gerade das Ende der Bebauung erreicht, als der Trupp Cardassianer auf die Zugangsstraße hinaus trat. Die meisten Bajoraner hatten sich auf dem Festplatz versammelt, um die Messe zu Modranhit zu zelebrieren, und so waren die Straßen leer. Das hieß, dass sie keine Möglichkeit hatte, sich zwischen anderen zu verbergen. Zu Gute kam ihr lediglich die schwache Beleuchtung, welche die Cardassianer überall in den bajoranischen Städten eingeführt hatten. Die zur Verfügung stehende Energie hatte sinnvollen Bereichen wie dem Abbau von Uridium-Erz zu dienen.

Nerys warf sich mit Lepor und Rinboreen-Zweigen bepackt in das niedrige Gebüsch, das sich an das letzte Gebäude anschloss. Doch sie war nicht schnell genug.

„Da drüben war etwas!“, hörte sie die unangenehme Stimme rufen. „Da im Buschwerk.“

Sie versuchte sich tiefer in das Geäst zurück zu ziehen. Es wurde zunehmend schwieriger mit dem Ballast, den sie hielt. Ihr Heil in der Flucht über das anschließende freie Gelände zu suchen, wagte sie nicht. Die Cardassianer würden sie höchstwahrscheinlich augenblicklich entdecken. Das alles nur, weil sie unbedingt ein Haustier haben wollte … Sie spürte, wie leichte Panik in ihrer Kehle aufstieg und drohte ihr rationales Denken zu beeinflussen. „Propheten, helft mir!“, flüsterte sie. „Wenn ihr mich hier wieder heil raus bringt, mache ich keine unbedachten Sachen mehr. Ich verspreche es.“

Schließlich blieb sie mit dem Arm an einem Strauch hängen, während sich der Rest ihres Körpers bereits in einer halben Drehung nach links befand. Die enge Verbindung zwischen Arm und Körper löste sich und der Lepor plumpste zu Boden. Ihr erster Impuls war es, nach dem Tier zu greifen. Doch die heftige Bewegung im Gebüsch, die sie dadurch auslösen würde, hätte sie genauso klar verraten, als wenn sie aufgestanden und „hierher“ gerufen hätte. Mit Entsetzen im Blick sah sie ihr Modranhit-Geschenk davon hoppeln, während sie unbeweglich sitzen bleiben musste. Sie kämpfte gegen die Tränen an, die ihr aufgrund dieser Ungerechtigkeit in die Augen schießen wollten.

Der erste Schlag des Phasergewehrs auf das Gebüsch ließ sie augenblicklich jedes Hadern mit dem persönlichen Schicksal vergessen. Sie erstarrte und versuchte mit dem sie umgebenden Holz zu verschmelzen.

„Na los, komm raus! Wir haben dich gesehen!“, dröhnte die cardassianische Stimme, während ein weiterer Hieb von Waffe auf Blätter erfolgte.

Das recht ziellose Schlagen machte ihr klar, dass die Soldaten sie nicht gesehen hatten. Vielleicht, wenn sie sich nicht bewegte, wenn sie eins wurde mit der bajoranischen Vegetation … vielleicht …

„Hier drüben!“

Der Soldat, der genau neben ihrem Versteck gestanden hatte, machte einen Schritt auf den Rufenden zu.

„Das ist nur eins von den Viechern, die in der Nähe der Stadt rumlungern... Mist verfehlt!“

„Jetzt verschwend‘ bloß keine Energie, indem du auf das Vieh schießt. Lass uns die andere Seite runter gehen.“

Kira konnte ihr Glück kaum fassen. Mit angehaltenem Atem, um sich nicht durch ihr erleichtertes Seufzen zu verraten, blieb sie sitzen und lauschte den sich entfernenden Schritten und Stimmen, bis sie diese nicht mehr vernahm. Dann wartete sie noch eine Weile länger.

Schließlich wagte sie es, unter dem Gebüsch hervorzukriechen. Die harten, teilweise gefrorenen Zweige zerkratzten ihr Hände und Wangen. Doch sie nahm es als Hochgefühl an.

Am Rand der Vegetation verharrte sie noch einmal und starrte so lang die Zugangsstraße hinauf, bis sie sich völlig sicher war, dass von dort keine Gefahr mehr drohte. Sie zwängte sich hinaus.

Und dort saß er.

Die dunklen Knopfaugen betrachteten sie, als wollten sie fragen, wo sie denn so lange geblieben war. Die weiche Schnauze zuckte leicht.

Dieses Mal gelang es Nerys nicht, die Tränen zurückzuhalten. Ungebeten schossen sie ihr in die Augen. Vorsichtig streckte sie die Arme nach dem Tier aus, das sich problemlos hochheben ließ.

„Ich danke euch!“, flüsterte sie heiser in den Himmel der längsten Nacht des Jahres.



„Und dann bist du mit dem Tier den gesamten Weg zu eurem Winterlager zurückgeklettert?“ Odo kannte die Antwort auf die Frage bereits.

Kiras leichtes Lachen pflanzte sich als Schwingung in den Molekülen seines Körpers fort. „Nichts hätte mich danach noch davon trennen können. Frag nicht, was Edon gesagt hat, als ich mit Furel in unserem Lager auftauchte. Er war nicht einmal wütend, so fassungslos war er.“

Sie beobachteten beide die Prozession der Geistlichen, die sich würdevoll zwischen den Flammenbecken zum Altar bewegte. Die Prylaren schwärmten in einem Halbkreis aus und entzündeten die Bateret-Blätter in den schweren Schalen, während der Vedek sich zu der versammelten Menge umwandte. Die Hitze der danebenstehenden Kerzen verstärkte den intensiv würzigen Geruch, der kurz darauf den Platz erfüllte.

Kira schloss die Augen und atmete tief ein. So roch Heimat.

„Aber du musstest den Lepor dann laufen lassen …?“, hakte Odo leise nach.

Sie schüttelte den Kopf an seiner Schulter, die Augen immer noch geschlossen. „Ich hätte es auf einen Kampf ankommen lassen, so besessen war ich von der Vorstellung, dass die Propheten mir dieses Geschenk gemacht hatten. Edon hat das gespürt und mich gewähren lassen. Immerhin habe ich allen erzählt, dass sie mir durch dieses kleine Tier das Leben gerettet haben, als sie die Cardassianer damit ablenkten.“

Jetzt war es an Odo, auf seine stockende, leise Art zu lachen. „Das war Zufall, Nerys.“

„Ja, meinst du?“ Die blickte ihn an. Ihre Augen widersprachen ihm nicht, stimmten ihm auch nicht zu – sie baten ihn lediglich darum, ihren Glauben zu akzeptieren.

Während die Feuer ihre Gesichter wärmten, ließ die Kälte der Nacht allmählich die Rücken der Bajoraner erzittern.

„Das Verrückte daran war, dass nach dieser Nacht tatsächlich alles ein kleines bisschen besser für mich wurde. So wie mein Vater das im Lager immer versprochen hatte.“

Odo spürte das leichte Zittern des schlanken Körpers neben sich. Die Moleküle in seinem Arm verloren ihre feste Bindung untereinander, bis sich das goldene Wabern zum Schulteransatz hin ausbreitete. Eine geschmeidige Decke legte sich um die geliebte Frau, hüllte ihre Konturen ein und bot ihr Schutz vor der Nacht.

Der Gestaltwandler wollte dafür sorgen, dass für Kira mit dieser Modranhit-Feier alles noch ein kleines bisschen besser wurde.



Besinnliches Modranhit.
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