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Scherbenmosaik

von Laurie

Kapitel 1

Dass Leonard McCoy einen betrunkenen Jim Kirk zurück nach Hause schleifte, geschah zum ersten Mal acht Tage nach ihrer Ankunft in der Akademie.

Er wusste selbst nicht, was ihn in dieser nasskalten Herbstnacht dazu bewogen hatte, die Abgeschiedenheit seines Zimmers gegen das hektische Nachtleben San Franciscos einzutauschen. Wahrscheinlich trafen an diesem Tag schlichtweg all die Komponenten zusammen, die im Laufe der Woche aufeinander aufgebaut hatten, bis der Druck in seinem Inneren unerträglich wurde und die Wände seines Zimmers sich immer enger um ihn schlossen. Er musste einfach hinaus, musste sich wenigstens für eine kostbare Stunde der Illusion hingeben, vor seinen Problemen davonlaufen zu können.

Da gab es die Flutwelle der Veränderung, die über ihm zusammengeschlagen war ...
Die Flucht in ein neues Leben, das ihm zu groß für sich erschien, größer, als er handhaben konnte ...
Die Erinnerungen an das, was er zurückgelassen hatte ...
Das Unverständnis seiner Exfrau, die ihn bei ihrem letzten Anruf gefragt hatte, ob er endgültig von allen guten Geistern verlassen sei, bevor sich das Gespräch wieder den altbekannten Vorwürfen und gegenseitigen Beschuldigungen zugewandt hatte ...

Leonard schüttelte den Kopf, um Jocelyns Stimme aus seinen Gedanken zu vertreiben, verärgert über sich selbst. Unwiederbringlich verloren. Weder die Schuldgefühle noch die verzweifelte Wut würden die Scheidung rückgängig machen oder ihm seine Tochter zurückgeben.

Mit hochgezogenen Schultern, den Kopf gegen den überraschend scharfen Wind gebeugt, beschleunigte Leonard seine Schritte. Er achtete kaum auf den Weg; im Grunde war ihm egal, wohin ihn seine Beine trugen. Überall wäre es besser als an dem Ort, den er verlassen hatte. Wegrennen hilft nicht, Len, aber genau das tust du. Immer und immer wieder, flüsterte eine Stimme in seinem Geist, die verdächtig nach der seiner Exfrau klang, und er ging nur noch schneller.

Wenigstens eine Last war von seinen Schultern genommen worden: Das Aufnahmeverfahren lag endlich hinter ihm. Es war die Hölle gewesen, das auf jeden Fall, aber wider Erwarten hatte er bestanden und durfte sich nun offiziell als Kadett der Sternenflottenakademie bezeichnen. Er wusste nicht, ob ihm diese Tatsache Befriedigung verschaffte oder ihn verängstigte.

Die anderen Kadetten schienen die Dinge einfacher zu sehen – aber, dachte Leonard mit bitterem Zynismus, die anderen Kadetten waren noch halbe Kinder, illusorisch und von der Launenhaftigkeit des Schicksals verschont geblieben. Und diese Kinder hatten offenbar beschlossen, die erfolgreiche Aufnahme mit einer ausgedehnten Tour durch die Kneipen der Stadt zu feiern.

Leonard hatte sich von vornherein von diesem Vorhaben ausgeklinkt; nicht; dass sich irgendjemand die Mühe gegeben hätte, ihn zu fragen, ob er sich nicht einer der Gruppen anschließen wollte. Medizinstudenten blieben gerne für sich, erst recht pessimistische Studenten mit Flugangst und einer Abneigung gegen soziale Konventionen. Trinken konnte er auch alleine, ohne das Grölen betrunkener Möchtegern-Offiziere und ohne ohrenbetäubende, geschmacklose Musik um sich herum.

Trotzdem ließ sich in dieser Nacht den weitreichenderen Auswirkungen jenes Aspekts des sozialen Lebens nicht ganz ausweichen. Es war wohl eine dieser Gelegenheiten, in denen Weichen für die Zukunft gestellt wurden, unbeabsichtigt und unbewusst, aber mit tiefgreifenden Folgen. Leonard hatte den Glauben an eine höhere Macht spätestens nach dem Tod seines Vaters aufgegeben, doch rückblickend würde es ihm manchmal wie der Wille des Schicksals vorkommen, der ihn ausgerechnet am Hinterhof einer Bar vorbeiführte, in der sich eine Horde frischgebackener Kadetten betrank.

Anfangs schenkte er dem in die Tage gekommenen Gebäude kaum Beachtung. Die monotone Musik, die sich ihren Weg nach draußen bahnte und sich mit der nächtlichen Geräuschkulisse vermischte, verriet ihm alles, was er über die Qualität der dort erhältlichen Drinks wissen musste – kein Anreiz, um innezuhalten.

Er hatte den Hof schon fast hinter sich gelassen, als andere, verdächtigere Geräusche die Nacht durchdrangen – ein dumpfer Aufprall, ein Stöhnen.

Leonard blieb stehen, aufmerksam lauschend. Ein weiteres Stöhnen, diesmal deutlicher, ließ ihn resigniert die Augen verdrehen. Er wusste nur zu gut, was das zu bedeuten hatte, und so gerne er einfach weitergegangen wäre, zur Genüge ausgelastet mit seinen eigenen Problemen – der Arzt in ihm verbot ihm, sich einfach abzuwenden.

In Gedanken verfluchte er alles und jeden, nicht zum ersten Mal an diesem Abend, und machte auf dem Absatz kehrt.

Der schwache Lichtschein, der von der Straße seinen Weg in den verwahrlosten Hof fand, lüftete den Schleier der Dunkelheit gerade genug, um Leonard eine schmale Figur erkennen zu lassen, die einige Schritte von der Hintertür der Bar entfernt auf dem Boden kniete. Den Gestank nach billigem Schnaps, der von dem Mann ausging, konnte man sogar auf der Straße noch riechen, und Leonard verzog angewidert das Gesicht, als er langsam auf die Gestalt zutrat; das hier war nur der Anfang, das wusste er genau.

„Hallo?“

Seine Stimme hallte unverhältnismäßig laut in der Halbdunkelheit wider, und der am Boden kniende Mann gab ein schwaches Stöhnen von sich. Unberührt blieb Leonard vor ihm stehen und blickte auf ihn hinab.

Es war immer besser, sich anzukündigen – man wusste nie, wie verschiedene Personen auf übermäßigen Alkoholkonsum reagierten. Ihn selbst versetzte der Alkohol einfach nur in Melancholie und Selbstmitleid, doch diese harmlose Variante bildete seiner Erfahrung nach eher die Ausnahme; unangenehm viele Menschen reagierten stattdessen mit nicht zu unterschätzender Aggressivität. Auch wenn der Mann auf dem Boden nicht den Anschein erweckte, als könnte er in seinem Zustand noch eine Gefahr für sich selbst und andere darstellen – sicher war sicher.

Vorsichtig ließ Leonard sich in die Hocke sinken. Von dort aus bekam er ein besseres Bild seines Gegenübers: ein junger Mann, dem, obwohl er keine Uniform trug, der Kadett ebenso deutlich anzusehen war wie seine Betrunkenheit.

Das also ist die Zukunft der Sternenflotte, dachte Leonard zynisch. Stockbesoffen und wimmernd auf allen Vieren in einem heruntergekommenen Hinterhof, und ich könnte meine ärztliche Zulassung darauf verwetten, dass dieser Junge sich in spätestens fünf Minuten die Seele aus dem Leib kotzt.

„Hey, Junge. Schauen Sie mich mal an“, befahl er, vielleicht ein wenig gröber, als es sich für einen empfindsamen Arzt gehörte; aber immerhin hatte ihn niemand darum gebeten, sich um diese klägliche Gestalt zu kümmern, und außerdem war dieser Junge eindeutig selbst schuld an seinem Elend. Wahrscheinlich war er ohnehin zu betrunken, um sich am nächsten Tag an Leonards Hilfe zu erinnern, und falls er es doch täte, wüsste er sie nicht zu schätzen. Es war immer dasselbe.

Zögerlich kam der junge Mann seiner Anordnung nach. Als er den Kopf hob, fiel das schwache Licht zum ersten Mal auf sein Gesicht, und Leonard stockte für einen kurzen Moment der Atem. Gesprächsfetzen schossen durch seinen Geist, die Erinnerung an das Vibrieren eines metallischen Ungetüms um ihn herum, die Angst davor, lebendig darin begraben zu werden ... Ich glaube, diese Dinger sind ziemlich sicher ... Die aufgesetzte Gelassenheit des jungen Mannes neben ihm, ein junger Mann, dessen Gesicht und Hemd deutliche Spuren einer brutalen Schlägerei zierten, der die Flasche entgegennahm, die Leonard ihm reichte, und sich vorstellte als –

„Jim Kirk“, sagte Leonard ungläubig. Derselbe Jim Kirk, der auf dem Flug von Iowa nach San Francisco neben ihm gesessen hatte und ihn, wenn auch nur unbewusst, davon abgehalten hatte, vor lauter Flugangst endgültig die Nerven zu verlieren. Ausgerechnet.

Kirks Augen weiteten sich, und Leonard erwartete (befürchtete? hoffte?), dass auch er ihn erkannte; doch diese Annahme löste sich in Luft auf, sobald Kirk zu sprechen begann.

„Bones? Bissu das?“, lallte er. Sein Atem roch so sehr nach Hochprozentigem, dass Leonard sich Mühe geben musste, nicht durch den Mund zu atmen. Er schüttelte den Kopf, irgendwo zwischen Verwirrung, Resignation und Ärger.

„Wen immer Sie damit meinen, Junge, ich bin es nicht.“

„Bones?“, wiederholte Kirk, undeutlicher als zuvor, und ehe Leonard eine Vermutung darüber anstellen konnte, was zur Hölle in Kirks vom Alkohol umnebelten Gehirn vor sich gehen mochte, krümmte Kirk sich zusammen und übergab sich direkt neben Leonard.

„Oh, verdammt!“

Hastig sprang Leonard auf, zu angewidert, um den Gedanken an ein selbstzufriedenes Hab ich’s doch geahnt zuzulassen.

„Scheiße“, murmelte Kirk am Boden, und in diesem Fall stimmte Leonard ihm uneingeschränkt zu. Wieso war es eigentlich immer er, der aufwischen, zusammenkehren und reparieren durfte, was andere zerbrochen hatten? Es lag nicht nur an seinem Beruf; manchmal kam es ihm vor, als machte sich das Schicksal mit besonderer Vorliebe über ihn lustig.

Wäre er nur drei Minuten früher an dieser Bar vorübergegangen, ehe Kirk aus dem Hinterausgang gestolpert kam, hätte er sich nun nicht um das Chaos vor ihm kümmern müssen. Allerdings hätte Kirk dann leicht an jemanden geraten können, der seinen derzeitigen Zustand schamlos ausgenutzt hätte.

Mit einem Seufzen ging Leonard wieder vor dem jungen Mann in die Hocke, der Pfütze von Erbrochenem sorgfältig ausweichend. Einiges davon war auf Kirks Jacke gelandet, und Leonard reichte ihm zuallererst eines der guten, alten Taschentücher, die er aus Gewohnheit mit sich herumschleppte. Jocelyn hatte sich regelmäßig darüber lustig gemacht, hatte ihn als hoffnungslos altmodisch bezeichnet, aber in Situationen wie dieser zeigte sich einmal wieder der Nutzen solider, alter Errungenschaften der Menschheit, und ja, dazu gehörten auch einfache Taschentücher.

„Hier, nehmen Sie das.“

Zögernd griff Kirk nach dem Taschentuch und begann, ungeschickt erst seinen Mund und dann seine Jacke abzuwischen, offenbar zu betrunken, um sich vor Leonard, einem fast vollständig Fremden, zu schämen. Als er fertig war, ließ er das Taschentuch einfach fallen.

„Okay, hören Sie zu“, sagte Leonard in dem Tonfall, den er auch störrischen Patienten gegenüber anwandte. „Ich werde Sie wieder zur Akademie bringen, verstanden? Stehen Sie auf.“

Er erwartete nicht wirklich, dass Kirk in seinem benebelten Zustand die Bedeutung seiner Wörter verstand; umso mehr überraschte es ihn, als Kirk den Kopf schüttelte. Offensichtlich gab es noch einen winzigen Teil in ihm, der über so etwas wie Selbstkontrolle verfügte.

„Kann noch nich‘ gehn“, nuschelte er. „Muss nommal rein ...“

„Sie müssen nirgendwo hin, außer zurück zur Akademie und in Ihr Bett“, erwiderte Leonard bestimmt.

„Drinnen is‘ mein ...“, begann Kirk undeutlich, doch Leonard schnitt ihm das Wort ab. Es genügte, dass er Kirk hier nicht einfach liegen ließ, wie eine böse Stimme in seinem Hinterkopf, die nichts mit dem Arzt zu tun hatte, halbherzig verlangte; da konnte man wirklich nicht von ihm verlangen, dass er sich um Kirks sonstige Wehwehchen kümmerte.

„Passen Sie mal auf“, sagte er streng und schien damit tatsächlich einen Bruchteil von Kirks Aufmerksamkeit zu erreichen. „Ich stelle Sie jetzt vor eine ganz einfache Wahl: Entweder, Sie reißen sich zusammen und kommen ohne Beschwerden mit mir mit, oder ich rufe ein Taxi, lasse Sie auf Ihre Kosten zur Akademie karren, informiere Ihren akademischen Ausbilder über Ihre Ankunft und bitte ihn darum, Sie in Empfang zu nehmen. Ich bin mir sicher, er wird sehr begeistert sein.“

„Solltes‘ du als Arzt nich‘ freundlicher zu den Leuten sein?“, murmelte Kirk, doch sein Widerstand gehörte endgültig der Vergangenheit an. Klaglos ließ er es geschehen, dass Leonard die Zähle zusammenbiss und sich innerlich wappnete, dann nach Kirks Arm griff und ihn auf die Beine zog.

Schwankend beförderte er Kirk vom Hinterhof zur Straße, ihn halb schiebend, halb tragend. Nach nicht einmal einem Dutzend Schritten erkannte er, dass sein Unterfangen wenig Sinn hatte; wenn er Kirk auf diese Weise zur Akademie begleiten wollte, wären sie bei Sonnenaufgang noch nicht angekommen. Kirk schien jeden Willen verloren zu haben, sich eigenständig zu bewegen, und Leonard war sich ziemlich sicher, dass der andere Mann sich einfach zu Boden fallen gelassen hätte, sobald Leonard den Griff um seine Oberarme gelöst hätte.

Mit einem Fluchen versuchte er, sein Kommunikationsgerät aus der Tasche zu ziehen, ohne Kirk dabei loszulassen.

„Du schuldest mir was, Junge“, knurrte er, ehe er widerwillig ein Taxi rief – die einzige Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam. Der Taxifahrer jedenfalls, der einige Zeit später vor ihnen am Straßenrand hielt, schien ihm darin zuzustimmen.

„Hatte das eine oder andere Gläschen zu viel, Ihr Freund, was?“, bemerkte er mit einem Blick, der sowohl Geringschätzung als auch Mitgefühl widerspiegelte, als Leonard Kirk auf die Rückbank bugsierte.

Es kam Leonard wie ein weiterer Hohn des Schicksals vor, dass er ausgerechnet an eines der wenigen Taxis geraten war, die noch nicht von einem Autopiloten gesteuert wurden. Er musste sich zurückhalten, um dem Fahrer nicht mitzuteilen, dass Jim Kirk um Himmels willen nicht sein Freund war – so weit kommt es noch! –,  und beschränkte sich auf ein genervtes „Kann man wohl sagen.“
Den Fahrer schien das zufriedenzustellen.

Leonard verbrachte die kurze Fahrt damit, zu hoffen, dass Kirk sich nicht wieder übergeben müsste, und damit, ihn gleichzeitig zu verfluchen. Dieses Kind war schuld daran, dass Leonard einen viel zu großen Teil seiner Credits dafür verschwenden musste, den hoffnungslos überteuerten Fahrtpreis für das Taxi zu begleichen.

Er war mehr als erleichtert, als der Fahrer sie endlich vor dem Gelände der Akademie absetzte und mit einem fröhlichen „Dann kümmern Sie sich mal um Ihren Freund“ in der Dunkelheit verschwand. Nur noch wenige Minuten, und er könnte diesen unerfreulichen Abend zu einem Ende bringen.

Als er seinen ziellosen Spaziergang durch die Stadt begonnen hatte, hatte er den vagen Vorsatz gehabt, sich später noch zu betrinken; Kirks jämmerlicher Anblick hatte diesen Wunsch schnell wieder verscheucht. Stattdessen würde er sich einfach ins Bett legen und versuchen, sein ganzes elendes Leben zu vergessen, wenn auch nur für wenige Stunden.

„Bones? Sin‘ wir daheim?“, nuschelte Kirk, und Leonard fühlte sich zu erschöpft, um mit Ärger oder Spott zu reagieren.

„Ja. Wir sind daheim“, sagte er matt. Die feine Ironie in seinen Worten entging ihm nicht; wer war er schon, dass er noch irgendeinen Ort in diesem verdammten Universum daheim nennen konnte?

Er verstärkte seinen Griff um Kirks Arm und steuerte seinen unfreiwilligen Begleiter auf das Hauptgebäude der Akademie zu, seine verschiedenen Möglichkeiten abwägend. Er könnte Kirk irgendwie dazu bringen, ihm den Zugangscode für sein Zimmer zu verraten und ihn dort absetzen; sein erster, weniger nobler Impuls allerdings bestand darin, Jim einfach bei einem der für die Kadetten verantwortlichen Offiziere abzuladen und dieses Kind sein Leben alleine in den Griff bekommen zu lassen. Sollte er alleine mit den Konsequenzen seines unverantwortlichen Handelns fertigwerden.

Wieso auch nicht? Er und Jim Kirk waren einander nichts mehr schuldig. Kirk hatte ihm geholfen, den Flug zur Akademie zu überstehen, ohne sich übergeben oder vor Angst in die Hose machen zu müssen, und im Gegenzug hatte Leonard seine gebrochene Nase gerichtet, sobald sie gelandet waren und sein Magen sich wieder beruhigt hatte. Damit waren sie offiziell quitt; es gab also keinen Grund für ihn, sich jetzt die Probleme dieses fremden Kadetten aufzuhalsen, zusätzlich zur Last seiner eigenen Sorgen.

Keinen Grund außer dem flehenden Blick in Kirks Augen, die sich erwartungsvoll auf Leonards Gesicht hefteten.

„Ach, verdammt.“

Wütend auf die Menschheit im Allgemeinen und sich selbst im Besonderen drehte Leonard sich so ruckartig um, dass Kirk an seiner Seite fast sein ohnehin auf einer sehr wackeligen Basis aufgebautes Gleichgewicht verlor.

„Bones? Wohin gehn wir?“

„Halt einfach die Klappe und komm mit“, knurrte Leonard. Er wusste genau, dass er bereuen würde, was er gerade im Begriff zu tun war, aber bei Gott, machte das wirklich noch einen Unterschied? Seine derzeitige Ausgangssituation sah dermaßen schlecht aus, dass es auf eine Belastung mehr oder weniger auch nicht mehr ankäme.

Später würde Leonard auf die Frage, wieso er den hilflosen, ihm so gut wie unbekannten Jim Kirk ausgerechnet in sein eigenes Zimmer brachte, nicht beantworten können. Er hätte sich einen Dreck um die Angelegenheiten dieses jungen Mannes scheren sollen, er hätte sich seiner wohlverdienten Ruhe hingeben sollen ... aber stattdessen schleifte er Kirk zu dem etwas abseits gelegenen Gebäude mit Schlafräumen, die vorzugsweise den Kadetten der Abschlussklasse zugewiesen wurden und in denen Leonard zu seiner großen Erleichterung ebenfalls ein Zimmer ergattert hatte.

Manchmal brachte ein Doktortitel eben doch Vorteile mit sich, die den anderen Kadetten versagt blieben. Natürlich beschwerten sie sich hinter vorgehaltener Hand über diese Sonderbehandlung, aber Leonard war längst über den Punkt hinaus, an dem es ihn noch gekümmert hätte, wenn andere über ihn redeten. Sollten sie ruhig neidisch sein – er war froh um sein Einzelzimmer, froh darum, seine Privatsphäre nicht mit einem beliebigen Fremden teilen zu müssen, schlimmstenfalls mit einem übereifrigen Hitzkopf ohne Sinn für Ruhe und Harmonie, der bei seinem Glück noch zehn Jahre jünger als er wäre und sich für den nächsten Retter des Universums hielt ...

Nein, seine Privatsphäre war Leonard heilig. Und dennoch gewährte er in dieser Nacht einem jungen, betrunkenen Mann Zugang dazu, den er kaum kannte und der seine Hilfe womöglich gar nicht verdient hätte. Und es gab keine rationale Erklärung dafür, wieso er sich darauf einließ.

Seine altruistischen Anwandlungen würden ihn noch irgendwann ins Grab bringen.

„Ich hoffe, du weißt zu schätzen, was ich gerade für dich tue“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, als er vor seiner Zimmertüre innehielt, um den Zugangscode einzugeben.

Der Gang lag, genauso wie der größte Teil des Gebäudes, im Halbdunkeln; mittlerweile war es spät genug, um Leonard neugierige Blicke der anderen Kadetten zu ersparen. Jeder, der noch halbwegs bei Sinnen war, lag um diese Zeit längst im Bett, abgesehen vielleicht von ein paar leichtsinnigen Neulingen, die sich hingebungsvoll in den Kneipen der Stadt betranken.

„Wo sin‘ wir?“, fragte Kirk undeutlich. Inzwischen ruhte fast sein gesamtes Körpergewicht auf Leonard.

„In meinem Zimmer“, antwortete Leonard widerwillig.

Er steuerte Kirk auf das Sofa zu, setzte ihn mit einer gewissen Erleichterung dort ab und entledigte sich seiner Jacke. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass Kirk viel zu erschöpft war, um auf dumme Gedanken zu kommen, ging dann in den angrenzenden Schlafraum und kehrte kurze Zeit später mit einer Decke und einem Kissen zurück. Beides warf er neben Kirk auf das Sofa, der zusammengesunken und mit geschlossenen Augen halb auf der Armlehne lag.

„Hey, aufwachen.“

Leonard schnippte mit den Fingern, und zwei blutunterlaufene Augen öffneten sich widerstrebend, nur um sich sofort wieder gegen das grelle Licht zusammenzukneifen.

„Also, hör mir noch mal genau zu. Ich verlasse mich darauf, dass du dich hier benimmst, klar? Das hier ist keine Wohltätigkeitsanstalt, und glaub ja nicht, dass ich dich nicht jederzeit hinauswerfen könnte, wenn du mir auf die Nerven gehst. Das Bad ist dort drüben; ich werde dir ein Glas Wasser auf den Tisch dort stellen und eine Schüssel neben das Sofa, falls du dich übergeben musst, und du bist ruhig und benimmst dich zivilisiert, kapiert?“

Im Grunde glaubte er nicht, dass diese Ermahnung nötig war; Kirk erweckte nicht den Eindruck, als ob ihm in dieser Nacht weitere Dummheiten einfallen würden.

„Ach ja, und zieh die Schuhe aus. Und deine Jacke“, befahl Leonard. Mehr gab es nicht zu sagen.

Er drehte sich um und schritt auf das Badezimmer zu, bis ihn eine müde Stimme zurückhielt.

„Alles klar ... Bones.“

Leonard runzelte die Stirn, doch er wandte sich nicht noch einmal um. Er würde später herausfinden, wieso Kirk ihm diesen lächerlichen Namen verpasst hatte – entweder halluzinierte der Junge, oder er machte sich selbst in seinem unrühmlichen Zustand noch einen Spaß daraus, andere Menschen zu veräppeln.

Für diese Nacht jedenfalls hatte Leonard sich mehr als genug um Jim Kirk gekümmert, und er wollte nichts weiter, als sich endlich in sein Bett fallen zu lassen.

Was kümmerte es ihn, ob Kirk am Morgen mit einem Kater gigantischer Ausmaße aufwachen würde. Was kümmerte es ihn, dass Kirk nach wie vor seine nicht mehr wirklich saubere Alltagskleidung trug; und sollte sich herausstellen, dass es höllisch unbequem wäre, eine Nacht auf dem Sofa zu verbringen, wäre das nicht Leonards Problem.

Immerhin war er Arzt und kein Kindermädchen.
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