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Die Bedürfnisse des Einzelnen

von Laurie

Kapitel 1

Der Anruf erreicht ihn am Abend des Tages, an dem sie wieder auf der Erde eingetroffen sind. Leonard hat es gewagt, seinen Arbeitsbereich im Medizinischen Corps der Sternenflotte für ein paar Minuten zu verlassen, um irgendetwas halbwegs Essbares aufzutreiben, und als der Kommunikator in seiner Tasche losschrillt, hält er es zuerst für einen schlechten Scherz. Es ist fast so, als wolle das Universum ihn dafür bestrafen, dass er sich eine kurze Auszeit nimmt.

Leonard bringt es nicht einmal über sich, sich über die Störung zu ärgern. Die Klinik der Sternenflotte ist chronisch unterbesetzt, ebenso wie die Krankenstation der Akademie – zu viel medizinisches Personal befand sich auf den Schiffen, die in der vergeblichen Rettungsmission bei Vulkan zerstört wurden –, und er ist der Letzte, der sich vor der zusätzlichen Arbeitsbelastung drücken würde. Zurzeit wird jede helfenden Hand gebraucht, und ohnehin ist Arbeit besser als untätiges Herumsitzen. Arbeit bedeutet, dass er keine Zeit hat, um über die Geschehnisse der letzten Wochen nachzudenken, und das wiederum bedeutet, dass er den unvermeidlichen Zusammenbruch hinauszögern kann. Der Psychologe in ihm weiß, wie gefährlich diese Taktik ist, aber momentan kümmert er sich nicht großartig darum.

Er braucht beschämend lange, um zu realisieren, dass das nervtötende Piepsen nicht von seinem dienstlichen Kommunikator kommt, sondern von seinem privaten. Beinahe ist er enttäuscht. So sehr er sich freut, die Nummer seiner Mutter auf dem Display zu sehen ... Gespräche mit seiner Familie sind auf ihre ganz eigene Art anstrengender, als sich um Patienten zu kümmern.

Nach einem Blick auf das nächste Chronometer beschließt Leonard, dass er sich ein paar mehr Minuten als geplant nehmen kann, und zieht sich in eine verhältnismäßig ruhige Ecke zurück.

„Hey, Mom.“ Er hofft, dass er nicht so müde klingt, wie er sich fühlt. Seine Mutter hat immer dazu tendiert, sich mehr Sorgen um ihn zu machen als nötig, und die Geschehnisse der letzten Wochen haben in dieser Hinsicht nicht geholfen.

„Leonard, Liebling, geht es dir gut?“

Er seufzt, kann jedoch nicht anders, als sich unwillkürlich zu entspannen. Es tut gut, die Stimme seiner Mutter zu hören. Telefonate mit ihr waren in den letzten Wochen, auf dem schier endlosen Weg der Enterprise zurück zu Erde, ein rares Gut – einerseits weil Leonard voll und ganz damit beschäftigt war, seinen Aufgaben als frischgebackener Erster Medizinischer Offizier nachzugehen und sich um die traumatisierte Besatzung zu kümmern, andererseits weil interplanetare Anrufe teuer sind und er die ohnehin gestressten Kommunikationsoffiziere nicht mit seinen vergleichbar unwichtigen Anliegen belästigen wollte. Viel mehr als ein vages Es geht mir gut hat Leonard in diesen Wochen nicht mit seiner Familie ausgetauscht; er kann die Besorgnis seiner Mutter sehr gut nachvollziehen.

„Klar, Mom, ich bin nur ein bisschen im Stress. Aber mir geht’s gut. Wirklich.“

Strenggenommen ist es nicht einmal eine Lüge. Er ist physisch unversehrt und alles andere lässt sich regeln, mit ein bisschen Zeit und Ruhe, irgendwann. Er hat andere Krisen in seinem Leben überstanden, er wird auch diese überstehen.

„Das ist schön zu hören.“

Stirnrunzelnd lehnt Leonard sich gegen die Wand. Zwei abgekämpfte Krankenschwestern hasten mit Kaffeebechern bewaffnet an ihm vorbei, ein Anblick, der nicht dazu beiträgt, ihm innere Ruhe zu schenken. Irgendetwas ist anders als sonst. Seine Mutter ist besorgt, ja, aber da versteckt sich noch etwas anderes in ihrer Stimme, etwas, das seine Alarmglocken schrillen lässt.

„Mom? Was ist los?“, fragt er nach, sich innerlich auf die nächste Hiobsbotschaft einrichtend. Auf eine mehr kommt es nach den letzten Wochen nicht mehr an, denkt der zynische Teil von ihm, der sich durch alle Erschöpfung der Welt nicht unterdrücken lässt.

„Wir wollten es dir ja früher sagen, aber du hattest so viel zu tun mit dieser furchtbaren Tragödie ...“

Leonard schließt die Augen, als würde alles einfacher, wenn er seine Umgebung – die angespannten Mienen, die gebeugten Schultern, die Trauerbeflaggung draußen vor dem Fenster – nicht mehr sieht. „Mom, was ist passiert?“

Er hört, wie sie tief Luft holt, doch das Zittern in ihrer Stimme lässt sich dadurch nicht unterdrücken. „Es geht um deinen Dad“, sagt sie. Jedes Wort ist ein weiterer Ziegelstein auf einer Mauer, die langsam zu groß wird, um sie zu überwinden. „Ich weiß, dass du wahnsinnig viel zu tun hast, aber glaubst du ... wäre es vielleicht möglich, dass du herkommst?“

~°~

Doktor Piper, einer seiner Ausbilder während der letzten drei Jahre und sein derzeitiger Vorgesetzter in dieser Schwebephase der Ungewissheit, ist nicht begeistert, als Leonard ihm am nächsten Vormittag eröffnet, dass er gerne seinen längst überfälligen Urlaub nehmen möchte, und zwar ab sofort.

„Hören Sie, ich weiß, dass Sie Ihren Urlaub nicht einfordern würden, wenn Sie keine triftigen Gründe dafür hätten, und Sie haben ihn weiß Gott verdient, aber zurzeit kann ich jeden fähigen Arzt hier brauchen“, sagt Piper, rhythmisch mit seinem Eingabestift auf die Oberfläche seines Schreibtischs tippend. Das Geräusch macht Leonard so nervös, dass er Piper am liebsten den Stift entrissen hätte. Er beschränkt sich darauf, die Hände hinter dem Rücken zu verschränken und sowohl das gut versteckte Lob als auch den Vorwurf mit einem Nicken hinzunehmen.

„Ich weiß, Sir. Ich würde nicht gehen, wenn es nicht nötig wäre. Es ist nicht so, dass ich vorhabe, mich irgendwo an den Strand zu legen und Cocktails zu schlürfen, das kann ich Ihnen versichern. Und ich verspreche, dass ich so schnell wie möglich wieder da bin.“

Es ist ein voreiliges Versprechen und er weiß es. Bevor er die Lage nicht mit eigenen Augen beurteilt hat, kann er sich nicht sicher sein, ob er in den nächsten Wochen überhaupt zurück nach San Francisco kommen kann – so sehr ihn die Vorstellung quält, in dieser kritischen Zeit so lang fort zu sein. Er hat andere Pflichten als die der Sternenflotte, ältere und ebenso wichtige.

Piper seufzt, tut ihm dann aber den Gefallen, endlich den verfluchten Stift beiseite zu legen. „Ich könnte Doktor Cardoso als Ihre Vertretung herbeordern, und dann ist da noch unser Neuzugang, M’Benga, er könnte ...“

Leonard gibt sich alle Mühe, seine Aufmerksamkeit nicht schweifen zu lassen, als Piper in ein gemurmeltes Selbstgespräch darüber verfällt, wie er seine Abteilungen neu organisieren möchte. Jede Sekunde, die er hier in diesem unangenehm vollgestopften Büro verbringen muss, ist eine Sekunde, die ihm in nicht allzu langer Zeit vielleicht schmerzlich fehlen wird. Alleine der Gedanke daran, was ihn am anderen Ende des Landes erwarten wird, reicht aus, um ihn angespannt auf seinen Fußballen vor- und zurückwippen zu lassen.

Dankenswerterweise ist Piper so sehr in Gedanken versunken, dass er es nicht bemerkt. „Na gut“, beschließt er endlich. „Nehmen Sie Ihren Urlaub. Und weil ich lieber Gewissheit habe und alles so früh wie möglich durchplanen will: Denken Sie, dass Ihnen zwei Wochen vorerst reichen?“

Das ist mehr, als Leonard erwartet hat. Dankbarkeit wallt in ihm auf; er hat während seiner Akademiezeit nie übermäßig viele Sympathien für Piper zusammenkratzen können, aber der Mann ist zweifelsohne ein guter Arzt und, wie sich jetzt beweist, ein guter Vorgesetzter.

„Ich denke schon, Sir. Vielen Dank.“

Piper antwortet lediglich mit einer vagen Handbewegung, schon wieder in sein PADD vertieft, und Leonard nutzt die Gelegenheit, um mit einer gemurmelten Verabschiedung aus dem Büro zu flüchten. Er hat vor seinem Aufbruch nach Atlanta noch Einiges zu erledigen. Berichte wollen fertiggestellt werden, er muss Behandlungsprotokolle mit Schwester Chapel durchgehen und vor allem muss er nach Captain Pike schauen. Es widerstrebt ihm zutiefst, Pikes Behandlung vorerst abzugeben, aber wenn irgendjemand seine Gründe nachvollziehen kann, denkt er, ist das vermutlich Christopher Pike selbst. Der Mann weiß besser als jeder andere, was es heißt, Prioritäten zu setzen, und seien sie noch so schmerzhaft.

~°~

Obwohl er weiß, dass er seinen Urlaub verdient hat, fühlt Leonard sich wie ein Verräter, als er die Klinik an diesem Abend verlässt, wie jemand, der vor seinen Problemen davonrennt – obwohl er in Wirklichkeit das genaue Gegenteil tut. Dass Jim Kirk ihn vor den Schlafräumen der Kadetten abfängt, macht es nicht leichter.

Die Gedanken daran, dass so viele dieser Räume jetzt leer sind, weil ihre Bewohner irgendwo zwischen Trümmern durchs Vakuum des Alls treiben, helfen seinem mentalen Gleichgewicht ebenfalls nicht, aber abstellen kann er sie nicht.

„Bones, du siehst scheiße aus“, lautet Jims liebenswürdige Begrüßung, die seine Sorge nicht ganz kaschieren kann.

Leonard winkt ab. „Viel zu tun.“

Er versucht nicht einmal, unbeschwert zu klingen. Jim Kirk anzulügen, ist ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, wie Leonard schnell gelernt hat. Jim mag nicht besonders gut darin sein, auf sich selbst achtzugeben, doch auf eine unheimliche Weise kennt er Leonard besser, als dieser sich selbst kennt.

Mit verschränkten Armen blockiert Jim ihm den Weg, als Leonard ohne viel Elan versucht, sich an ihm vorbeizuschieben. In diesem Moment kann Leonard nicht mehr viel von dem rebellischen jungen Mann sehen, der an jenem schicksalshaften Tag vor drei Jahren neben ihm im Shuttle nach San Francisco saß. Jim ist erwachsen geworden, wenn nicht in den letzten drei Jahren, dann in den letzten paar Wochen. Bis die Narben, die Nero hinterlassen hat, verblasst sind, wird es dauern, aber gleichzeitig weiß Leonard, dass Jim in Ordnung sein wird. Sie alle werden in Ordnung sein, irgendwann.

„Okay, Bones, lass das. Was ist los?“

Es nützt nichts, um den heißen Brei herumzureden. Wenn Jim Kirk sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann so gut wie nichts und niemand ihn aufhalten. „Ich hab für die nächsten beiden Wochen Urlaub genommen. Ich flieg zurück nach Georgia.“

Was auch immer Jim erwartet hat – diese Antwort war es offenbar nicht, seinem verdatterten Gesichtsausdruck nach zu schließen. „Wieso, ist was passiert? Alles klar mit deiner Familie?“

Verdammt, der Junge ist zu schlau für diese Galaxie. Wenigstens tritt er diesmal zur Seite, als Leonard die letzten Schritte zu seinem Zimmer zurücklegt.

Er könnte Jim ausnahmsweise anlügen. Er könnte irgendeine Ausrede erfinden, könnte die Wahrheit gerade genug verdrehen, um sich eine Verschnaufpause zu verschaffen, und Jim nähme es ihm wahrscheinlich nicht einmal übel, wenn er irgendwann die Wahrheit erführe – was er früher oder später tun wird. Aber Jim ist sein Freund, vielleicht der einzig richtige, der ihm geblieben ist. Jim verdient seine Ehrlichkeit; und wenn Leonard ihm schon nicht alles mitteilen kann, weil er selbst noch nicht weiß, was er davon halten soll, so kann er es zumindest mit der nächstbesten Wahrheit versuchen.

Jim wartet seine einladende Geste nicht ab, um ihm in das spärlich eingerichtete Zimmer zu folgen. Seit ihrer Rückkehr ist Leonard dankbarer denn je darum, dass er als Medizinstudent mit zwei Doktortiteln von vornherein ein Einzelzimmer zugeteilt bekam: Es bedeutet, dass es in diesem Raum kein zweites, anklagend leeres Bett gibt.

Ohne Umschweife lässt Jim sich auf das Sofa fallen. „Also, was ist los?“

Weil er das Gefühl hat, dass er nie wieder aufstehen wird, wenn er sich jetzt hinsetzt, beginnt Leonard, auf und ab zu gehen. „Meine Mom hat gestern angerufen. Meinem Dad geht es nicht gut, er ist im Krankenhaus, aber ich weiß nicht, wie schlimm es ist. Ich will ... ich muss jetzt einfach bei ihnen sein.“

Er bringt es nicht über sich, die Diagnose und ihre Bedeutungen zu wiederholen. Es laut auszusprechen, würde es endgültig machen.

„Scheiße, Bones, das tut mir leid. Kann ich ... brauchst du irgendwas? Kann ich irgendwie helfen?“

Gegen seinen Willen lächelt Leonard. Was auch immer passiert, solange er jemanden wie Jim Kirk an seiner Seite hat, ahnt er, dass vieles – nicht alles, aber vieles – sich besser ertragen lässt. „Danke, Jim, aber das ist etwas, was ich alleine tun muss. Ich bin nicht lang weg, nur zwei Wochen.“

Noch während er es ausspricht, erkennt er, dass das nicht lang nicht unbedingt stimmt. Zwei Wochen sind lang; zwei Wochen können ausreichen, um eine Handvoll Fremder zu so etwas wie einer Familie oder zumindest zu einem beachtlichen Team zusammenzuschweißen, wie sich während der Rückreise der Enterprise zur Erde bewiesen hat.

Jims nickt. „Okay, Bones. Ich versteh das. Melde dich mal bei mir, klar? Und wenn es irgendwas gibt, das ich tun kann ...“

„Mach ich, Jim. Und danke.“

„Und nach den zwei Wochen kommst du wieder.“ Es ist halb Feststellung, halb Frage, und fast glaubt Leonard, so etwas wie Furcht in Jims Stimme zu hören.

Er versucht, so zuversichtlich wie möglich zu klingen, und weiß nicht, wen von ihnen er damit mehr überzeugen will. „Klar.“

Jim blickt ihn an, unleserlich und fast verletzlich und Gott, er ist immer noch so jung, und Leonard gibt sich einen Ruck und setzt sich endlich neben ihn.

Sie reden noch ein wenig über dies und das, über die Reparaturarbeiten an der Enterprise, Pikes Gesundheitszustand, die Planungen für die Gedenkfeier für all die getöteten Offiziere ... Nur nicht über das, was die Zukunft für sie bereithalten wird. Dafür ist jetzt nicht der richtige Moment. Es fühlt sich vertraut an, eine Erinnerung an ihre unbeschwerten Akademietage, in denen sie keine größeren Sorgen hatten als unfreundliche Ausbilder, doch als Jim ihn später verlässt, wird Leonard das Gefühl nicht los, dass auch sein Freund irgendetwas verschwiegen hat.

~°~

Pyrrhoneuritis. Die Krankheit ist so selten, dass sie dem Großteil des Krankenhauspersonals im Medizinischen Corps auf Anhieb wahrscheinlich nichts gesagt hätte. Leonard weiß nur dank eines Studienprojekts darüber Bescheid, und als er seine Reisetasche packt, wünscht er sich, er täte es nicht und könnte sich dadurch noch ein paar letzte Momente seliger Unwissenheit bewahren.

Pyrrhoneuritis. Es ist ein weiterer schlechter Scherz des Universums auf seine Kosten. Wieso muss sein Vater sich ausgerechnet eine unheilbare Krankheit einfangen? Wieso muss ein größenwahnsinniger Romulaner aus der Zukunft sein Leben durcheinanderwirbeln? Wieso sind nun so viele Offiziere der Sternenflotte tot?

Das Universum, wie so oft, gibt ihm keine Antworten auf seine düsteren Grübeleien.

Eine der öffentlichen Transporterstationen zu benutzen, ist teuer, also nimmt Leonard ein Shuttle. Er nutzt den Flug, um alles zu lesen, was er über die Krankheit auftreiben kann, und mit jedem weiteren Artikel schwindet seine Hoffnung ein wenig mehr. Absterben der peripheren Nerven ... Kontrollverlust über die Muskeln ... immense Schmerzen ... Der Krankheitsverlauf liest sich wie das Drehbuch eines Horrorfilms und die Tatsache, dass es noch nicht einmal Ansätze einer Behandlung gibt – zumindest keine, die je erfolgreich waren –, macht es nicht besser. Als das Shuttle sich zur Landung in Atlanta bereitmacht und Leonards Augen vor Anstrengung zu tränen beginnen, ahnt er, worauf es hinauslaufen wird: Er muss seinem Vater nicht als Arzt gegenübertreten, sondern als Sohn, weil kein Arzt der Galaxie seinem Vater helfen kann.

Die Erkenntnis gefällt ihm nicht und er weiß sofort, dass er diesen Vorsatz nicht einhalten kann, egal was sein Vater am ehesten braucht. Wenn es irgendeinen Weg gäbe und Leonard ihn nicht rechtzeitig findet, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, einem Sterbenden die Hand zu halten, wird er sich das nie verzeihen.

Du bist ein schrecklicher Mensch, flüstert eine Stimme in seinem Unterbewusstsein, die unangenehm nach seiner Exfrau klingt. Leonard ignoriert sie, beißt die Zähne zusammen und steigt inmitten von unbeschwerten Urlaubern und übernächtigten Geschäftsleuten aus dem Shuttle.

~°~

Es ist schlimmer, als er erwartet hat. Drei Wochen sind seit der Diagnose vergangen und dieser Zeitraum hat ausgereicht, um den gesunden, lebensfrohen Mann, an den Leonard sich erinnert, in einen kaum wiederzuerkennenden Intensivpatienten zu verwandeln.

Leonard hält seinen Vorsatz kaum zwei Tage durch. Der Arzt in ihm lässt sich nie ganz beiseiteschieben, selbst dann, wenn er in der Rolle des sorgenden Sohnes damit beschäftigt ist, seine Mutter zu beruhigen und seinem Vater Ablenkung zu verschaffen. Wenigstens muss er sich David gegenüber nicht darum bemühen, die Situation schönzureden; David ist selbst Arzt und weiß ganz genau, was die Diagnose für ihn bedeutet.

Zu wissen, was bei einer tödlichen Krankheit passiert, und es selbst mitzuerleben, sind leider zwei völlig verschiedene Dinge – ebenso wie es zwei völlig verschiedene Dinge sind, der Arzt eines beliebigen todkranken Patienten zu sein und der Sohn eines todkranken Mannes zu sein.

Leonard hat nicht erwartet, dass es so sehr wehtun würde, seinen Vater in diesem Zustand zu sehen.

„Du kannst nichts ändern, mein Junge“, flüstert David ihm zu, als Leonard ihn das erste Mal besucht. „Nimm’s dir nicht so sehr zu Herzen. Es gibt Dinge, gegen die sind wir machtlos. Erzähl mir lieber was von der Sternenflotte. Erzähl mir von den Sternen.“

Leonard gehorcht, denn wie kann er einem Sterbenden einen Wunsch abschlagen? Er handelt einen Pakt mit sich selbst aus: Solange David wach ist, ist er der fürsorgliche Sohn; sobald David schläft oder ihn die Schwestern aus dem Krankenhaus werfen, weil die Besuchszeit vorüber ist – „Ist mir egal, ob Sie auch Arzt sind, Mr. McCoy, hier sind Sie ein Besucher wie jeder andere und darum haben Sie sich an die Regeln zu halten!“ –, wechselt er in den Arztmodus. Er schläft kaum und isst nur, wenn seine Mutter ihn daran erinnert. Jede andere Sekunde verbringt er mit Recherchen, entweder im Krankenhaus – er kennt ein paar der Ärzte und Schwestern von früher und erweckt offenbar einen so verzweifelten Eindruck, dass sie ihm Zugang zu den Laboren gewähren – oder in seinem alten Elternhaus, wo er sich mit dem wenigen dort verfügbaren Material eine Forschungsstation einrichtet.

Es muss einen Weg geben. Er kann sich nicht einfach zurücklehnen und seinen Vater sterben lassen. Zum ersten Mal überhaupt versteht er, was Jim meint, wenn er behauptet, nicht an aussichtslose Situationen zu glauben; je öfter ihn seine Recherchen allerdings in eine Sackgasse führen, desto stärker beschleicht ihn der Verdacht, dass das Schicksal zwar Jim Kirk für eine solche Einstellung belohnt, Leonard McCoy aber nicht.

„Wie geht es deinem Dad?“, fragt Jim, als Leonard seinem Versprechen nachkommt und ihn anruft. Leonard ist froh, dass es kein Videoanruf ist; es ist leichter, die Wahrheit auszusprechen, wenn er Jim dabei nicht ins Gesicht sehen muss.

„Nicht gut. Ich ... Gott, Jim. Können wir über was anderes reden? Nur für ein paar Minuten? Erzähl mir, was ich alles verpasse ...“

Er hört selbst, wie bittend er klingt, doch er ist zu erschöpft, um sich für diesen Moment der Schwäche zu schämen. Wenn er irgendjemandem gegenüber schwach sein darf, dann ist das Jim Kirk, schätzt er; und ausnahmsweise widerspricht Jim nicht. Anstatt Leonard weiter zu drängen, wie er es vor drei Jahren getan hätte, gibt er eine Anekdote über einen Streit zwischen Scotty und einem der für die Enterprise zuständigen Ingenieure zum Besten, und als Leonard das Gespräch beendet, hat er zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Atlanta das Gefühl, wieder atmen zu können.

Die Verschnaufpause hält nicht lange an. So sehr er sich bemüht, er kommt nicht voran. Es scheint einfacher, eine Zeitreise zu unternehmen, als ein Heilmittel für Pyrrhoneuritis zu finden.

Und wieso solltest ausgerechnet du es finden?, flüstert die Erinnerung an seine Exfrau ihm zu. Ein Haufen brillanter Ärzte, verstreut über die ganze Galaxie, hat sich schon daran versucht. Wieso sollte ausgerechnet Leonard H. McCoy das schaffen, was den besten Ärzten der Föderation nicht gelungen ist?

Hau ab
, befiehlt Leonard der Erinnerung, was sie nicht im Geringsten beeindruckt. Von Tag zu Tag ist er frustrierter und erschöpfter durch den Versuch, sich vor seinen Eltern und den Pflegern im Krankenhaus nichts anmerken zu lassen, bis er nach einer weiteren durchwachten Nacht am sechsten Tag einen Entschluss fällt: Wenn er schon die Rahmenbedingungen der Krankheit nicht ändern kann, kann er wenigstens versuchen, die Waagschale des Schicksals etwas mehr zu seinen Gunsten zu neigen.

„Aber du bist doch gerade erst gekommen“, sagt seine Mutter, als er ihr von seinen Plänen erzählt. Sie klingt nicht einmal enttäuscht, sondern stellt nur eine Tatsache fest, und das schmerzt. Leonard war schon immer gut im Wegrennen, so gut, dass sogar seine eigene Mutter nicht mehr überrascht darüber ist.

Nur dass es diesmal anders ist, redet er sich ein. Er läuft nicht weg. Er tut das Richtige. Es macht ihn nicht zu einem schlechten Sohn.

„Der Medizinische Corps der Sternenflotte hat mit die besten Forschungseinrichtungen der Föderation, Mom. Wenn ich irgendwo eine Lösung finden kann, dann dort.“

„Und wenn es keine Lösung gibt, Liebling?“

Er hat mit dieser Reaktion gerechnet und sich eine Antwort zurechtgelegt – ein weiterer Pakt mit sich selbst. „Drei Wochen, Mom. Wenn ich nach drei Wochen noch gar nichts gefunden hab, komme ich wieder her. Dann ist es noch nicht zu spät, um Zeit mit Dad zu verbringen, bevor sich sein Zustand so sehr verschlechtert, dass ... also, bevor es zu spät ist. Ich werde da sein, versprochen.“

Wie er seinen Vorgesetzten erklären soll, dass er in den nächsten Wochen zu nichts zu gebrauchen sein wird, ist ein völlig anderes Problem, aber eines, das er nur zu gerne ignoriert.

Seine Mutter seufzt. „Tu, was du tun musst. Aber versprich mir eines: Pass auf dich auf. Und was immer passieren wird – es ist nicht deine Schuld. Verstanden?“

Leonard beißt die Lippen zusammen und nickt. Die Lüge wiegt weniger schwer, wenn er sie nicht laut ausspricht.

~°~

Er verrät Jim nicht, dass er schon nach einer anstatt zwei Wochen zurück nach San Francisco kommt. Natürlich ist es egoistisch und natürlich hat Jim Besseres verdient, aber Leonard will mit seinen Gedanken zumindest einen weiteren halben Tag alleine bleiben. Das hier ist eine Situation, in der selbst Jim Kirk kein Wunder in letzter Minute hervorzaubern kann.

Als er das Shuttle verlässt, ist es kurz vor Mitternacht. Leonard nimmt sich einen Moment, um zum Himmel aufzublicken und zu versuchen, die Sterne inmitten all der Lichtverschmutzung auszumachen. Auf seltsame Weise fühlt er sich an jenen Tag vor drei Jahren erinnert, als er zum ersten Mal in San Francisco ankam, zu Beginn seines neuen Lebens. Damals erschien ihm die Sternenflotte wie der einzig übriggebliebene Ausweg, wie sein einziges Licht am Ende des Tunnels. Heute ist er sich nicht mehr so sicher, was das anbelangt.

Es ist zu spät, um noch ins Medizinische Corps zu gehen. Sicher, Leonard könnte sich mit seiner Schlüsselkarte Zutritt zu den Laborräumen verschaffen, aber höchstwahrscheinlich würde das die Aufmerksamkeit des Sicherheitspersonals auf sich ziehen und zu unangenehmen Fragen führen, die er vorerst vermeiden will. Nach der Erklärung, die er seinen Kollegen und Doktor Piper für seine vorzeitige Rückkehr liefern muss, ist ihm jetzt nicht zumute. Morgen. Morgen wird alles besser, heißt es nicht so?

Weil die Vorstellung, alleine in seinem Zimmer zu sitzen, nicht angenehmer ist, erlaubt Leonard sich einen kurzen Umweg – nichts weiter als eine kleine Denkpause, nachdem er den gesamten Flug für weitere Recherchen genutzt hat. Seine erschöpften Augen werden es ihm danken.

Die Reisetasche über der einen, die immer präsente Arzttasche über der anderen Schulter, schlendert er an der Bucht von San Francisco entlang. Während seiner Akademiezeit ist er gerne abends zum Hafen gekommen, wenn alles ein bisschen zu viel war; auf den Ozean zu schauen, war für ihn immer befreiender, als zu den Sternen zu blicken.

Als er eine Ecke umrundet und an seine übliche Stelle gelangt, stockt er. Normalerweise ist er alleine auf diesem abgelegenen Steg, doch in dieser Nacht hatte jemand anderes dieselbe Idee wie er. Ärger wallt in Leonard auf. Das hier ist seine Stelle, niemand sonst hat hier etwas verloren, schon gar nicht heute.

Das kleinliche Gefühl verschwindet, als er die stumme Gestalt auf dem Steg genauer in Augenschein nimmt. Hier sind die Lichter nicht so grell wie an den größeren Stegen, aber sie reichen aus, um ihn die wichtigsten Details erkennen zu lassen. Unbequem aussehende Robe ... hinter dem Rücken verschränkte Hände ... makellose Frisur ... Leonard ist zu weit entfernt, um die spitzen Ohren zu erkennen, aber das macht keinen Unterschied. Dass es sich bei dem unerwarteten Besucher um einen Vulkanier handelt, ist auch so überdeutlich – ebenso wie die Tatsache, dass irgendetwas an diesem Vulkanier anders ist.

Leonard kann sich das instinktive Wissen nur damit erklären, dass er als Arzt gut darin ist, Leute zu durchschauen, und dank der letzten Wochen unglücklicherweise mehr Erfahrung mit traumatisierten Vulkaniern hat, als er je sammeln wollte. Auf der einen Seite ist das hier ein Vulkanier, der wahrscheinlich nur ungestört meditieren will; auf der anderen Seite schreit Leonards Instinkt ihm zu, dass es gleichzeitig ein hilfsbedürftiger Patient ist.

Er zögert, bis seine Füße die Entscheidung für ihn treffen. Bevor er überlegen kann, ob er im Begriff ist, einen groben Fehler zu begehen, tritt er auf den Steg. Der Vulkanier regt sich nicht, selbst dann nicht, als Leonard mit gebührendem Abstand zu ihm stehenbleibt und seine Reisetasche absetzt.

Er räuspert sich, von Sekunde zu Sekunde unsicherer, aber er ist immer noch Arzt, verdammt noch mal, und wenn er jemals aufhört, sich um das Wohlbefinden anderer Lebewesen zu kümmern, dann ist das der Moment, in dem er sich guten Gewissens aus der nächsten Luftschleuse stürzen kann – sollte er jemals verrückt genug sein, sich noch einmal ins All zu begeben.

Zugunsten eines Gesprächs für ein paar Minuten nicht an seinen Vater denken zu müssen, ist ebenfalls keine unerfreuliche Vorstellung.

„Entschuldigen Sie die Störung, Sir ... Geht es Ihnen gut?“

Schier endlose Sekunden vergehen, bevor der Vulkanier sich zu ihm umdreht. Er ist älter, als Leonard vermutet hätte, und anhand der Reaktion, die er erhält, als der Vulkanier ihn zum ersten Mal mustert, ist er geneigt, anzunehmen, dass die Antwort auf seine Frage „nein“ lautet. Man muss genau hinschauen, um die subtilen Veränderungen in seiner Mimik zu bemerken; Leonard hat in den vergangenen Wochen gelernt, genau hinzuschauen. Wüsste er es nicht besser, würde er glauben, dass der Vulkanier überrascht ist, ihn zu sehen, fast schon geschockt und ... erfreut?

Bei Gott, er sollte eindeutig etwas Schlaf nachholen. Jetzt halluziniert er schon.

Der Vulkanier sieht ihn so lange an, dass Leonard den Impuls unterdrücken muss, von einem Fuß auf den anderen zu treten. Irgendetwas an ihm ist schmerzhaft vertraut, wie eine Erinnerung, die er in einem anderen Leben gehabt hat – doch gerade, als Leonard sich sicher ist, dass ihm einfällt, woher er diesen Mann zu kennen glaubt, spricht der Vulkanier und der Moment zerspringt.

„Die Frage könnte ich zurückgeben.“

Er klingt anders als die Vulkanier, mit denen Leonard auf der Enterprise zu tun hatte, irgendwie entspannter, ohne dass er bestimmen könnte, wieso. Unwillkürlich zieht er die Schultern hoch. Unter dem durchdringenden Blick aus Augen, die scheinbar zu viel von der Galaxie gesehen haben, fühlt er sich unwohl – es ist, als könne der Vulkanier einfach so durch ihn hindurchschauen und wüsste jedes seiner Geheimnisse.

Leonard ignoriert die Frage. Immerhin ist immer noch er der Arzt, danke schön. „Normalerweise trifft man hier um diese Uhrzeit niemanden mehr“, sagt er. Er weiß, dass Vulkanier nicht viel von belanglosen Gesprächen halten, aber momentan ist ihm das egal und es wirkt nicht so, als störe sich der Vulkanier an der Bemerkung.

„Das war auch mein Gedanke, Doktor.“

Im ersten Moment ist Leonard irritiert über die Anrede, bis ihm einfällt, dass er immer noch seine Arzttasche mit dem Logo der Föderation dabeihat, und bis ihn die Implikationen dieser Antwort einholen.

Vielleicht war es doch keine gute Idee, den Vulkanier zu belästigen – was zur Hölle hat er sich dabei gedacht? „Dann Entschuldigung, dass ich Sie gestört habe“, sagt er hastig.

Er hat sich schon halb abgewandt, als eine sanfte Erwiderung ihn zurückhält. „Sie stören nicht, im Gegenteil.“ Kurz wirkt es, als wolle der Vulkanier noch etwas hinzufügen, lässt es dann aber bleiben.

Stille legt sich über sie, unterbrochen nur von den gedämpften Geräuschen der Stadt und vom leisen Plätschern der Wellen unter ihnen.

„Hören Sie“, sagt Leonard irgendwann, „ es tut mir leid, was passiert ist. Mit Vulkan, meine ich.“

Innerlich verflucht er sich selbst für diese wenig elegante Formulierung – ein Meisterwerk der Diplomatie, McCoy, wieder einmal –, aber der Vulkanier ist nicht gekränkt oder verärgert, sondern fast amüsiert, sofern Vulkanier zu einem solchen Gefühl in der Lage sind. „Ich weiß Ihr Mitgefühl zu schätzen, Doktor.“

Obwohl Leonard den Verdacht hat, sich sekündlich weiter auf dünneres Eis zu begeben, spricht er weiter. Er war immer der Meinung, dass es manchmal wichtiger ist, überhaupt etwas zu sagen, wenn es auch nicht die hundertprozentig richtigen Worte sind. Manchmal kommt es alleine auf die Absicht dahinter an.

„Sie kommen klar, oder, Sir? Ich weiß nicht allzu viel über Vulkanier ... Aber ich weiß, dass starke mentale Traumata, wie sie durch diese Tragödie hervorgerufen wurden, durchaus zu körperlichen Reaktionen führen können. Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, zögern Sie bitte nicht, bei uns vorbeizukommen. Wir helfen gerne.“ Er erlaubt sich ein sardonisches Lächeln. „Zumindest da, wo wir es können.“

Noch immer durchbohrt ihn dieser viel zu wissende Blick. Und Leonard hat angenommen, Spock sei schlimm genug ... Trotzdem, irgendetwas hat dieser Vulkanier an sich, das ihn sympathisch macht. Vielleicht hat es etwas mit seinem Alter zu tun – vielleicht werden Vulkanier in hohem Alter lockerer, in Ermangelung eines besseren Wortes.

„Vielen Dank für das Angebot“, sagt sein Gegenüber. „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf – Sie wirken auch, als käme Ihnen Hilfe nicht ungelegen.“

Sind alle Vulkanier so verdammt gute Beobachter? An Spock ist ihm das bislang jedenfalls nicht aufgefallen, aber gut, Spock war mit so vielem anderen beschäftigt, dass ihm das verziehen sei.

Leonard kann sich die Tatsache, dass er nicht abwinkt und so tut, als sei nichts, nur durch seine Müdigkeit erklären. „Ach, ich brauch nichts. Nur Schlaf und ein Wunder und eine neue Perspektive.“

Der Vulkanier hebt eine Augenbraue an und wieder überkommt Leonard das schmerzhafte Gefühl der Vertrautheit. „Was stört Sie an Ihrer jetzigen Perspektive?“

Leonard hat den Verdacht, dass sein Gegenüber nur nicht lockerlässt, weil er sich damit von seinen eigenen Problemen ablenkt – nicht dass Vulkanier je frei heraus zugeben würden, Probleme zu haben. Diese Taktik kennt Leonard zu gut von sich selbst: Wenn es dir schlecht geht, befasse dich mit den Problemen anderer, vielleicht verschwinden deine eigenen in der Zwischenzeit. Genau diese Denkweise hat ihn ja dazu bewogen, diesen Mann überhaupt anzusprechen.

„Manchmal frag ich mich, ob es die richtige Entscheidung war, hierher zu kommen“, sagt er langsam und blickt zu den Sternen auf. Er legt nicht genauer dar, was hierher bedeutet; irgendetwas verrät ihm, dass der Vulkanier ihn auch so versteht. „Was soll ich schon da oben zwischen den Sternen? Im Zweifelsfall wartet da doch nur der Tod, und wir können nichts daran ändern.“

Dass auch in seinem Zuhause in Georgia der Tod wartet, erwähnt er nicht. Stattdessen ist er kurz davor, über sich selbst zu lachen: Über ihnen leuchten die blassen Sterne und unter ihnen schlagen die Wellen gegen das Hafenbecken und hier steht er und schüttet einem Vulkanier sein Herz aus. Und was vielleicht am Verstörendsten ist: Der Vulkanier stört sich nicht nur nicht daran, sondern er ist auch noch gut in der Rolle des unfreiwilligen Ratgebers.

„Aber Sie können es versuchen“, sagt er unendlich sanft. „Und wenn Sie es nicht tun, werden Sie sich Ihr ganzes Leben lang fragen, welche Chancen Sie verpasst haben. Sie werden sich vorwerfen, den einfachen Ausweg genommen zu haben.“ Kurz schweigt er, und als er erneut spricht, mischt sich ein Hauch des vorherigen Amüsements in seine Ernsthaftigkeit. „Aber das ist natürlich Ihre Entscheidung. Ihre Zukunft gehört Ihnen allein. Lassen Sie mich Ihnen nur versichern, dass es auch da oben zwischen den Sternen, wie Sie es ausdrücken, Lebewesen gibt, von denen Sie gebraucht werden.“

Leonard weiß nicht, wie er darauf reagieren soll. Es ist zu viel, um es auf einmal zu verarbeiten, und er ist müde und verängstigt und sein Selbsthass denkt nicht daran, abzuflauen.

„Äh ... Danke, schätze ich.“ Es ist nicht die eloquenteste aller Erwiderungen, aber er meint es trotz allem ernst. Der Vulkanier scheint sich auch daran nicht zu stören, im Gegenteil; es wirkt, als hätte er nichts anderes erwartet.

Leonard gibt sich einen Ruck. Obwohl er sich in der Gesellschaft dieses Fremden sicherer fühlt, als er jemals irgendwem gegenüber zugegeben hätte, zuallerletzt sich selbst, ist es an der Zeit, sich auf den Weg zur Akademie zu machen. Sein Bett wartet auf ihn. „Ich sollte dann wohl besser gehen und schauen, dass ich noch ein bisschen Schlaf bekomme. Danke für das Gespräch. Und wenn Sie doch noch irgendwann medizinische Hilfe brauchen, kommen Sie bei uns vorbei.“

Den letzten Teil spricht er schon halb im Gehen aus, zu erschöpft, um sich darum zu kümmern, ob er durch einen abrupten Abgang unhöflich erscheint. Der Vulkanier nickt; und als Leonard den Steg entlanggeht, könnte er schwören, dass er hinter sich ein leises, aber umso ehrlicheres „Ich danke Ihnen für das Gespräch“ hört.

~°~

Am nächsten Morgen findet er sich nach ein paar kostbaren Stunden Schlaf wieder in der Eingangshalle des Medizinischen Corps wieder, seinen Kaffeebecher wie einen Rettungsring umklammernd. Ein paar der vorbeihastenden Pflegekräfte werfen ihm irritierte Blicke zu, entscheiden sich angesichts seiner mürrischen Miene allerdings dagegen, ihn anzusprechen. Es ist ihm nur recht.

Weil ihm nicht nach einem Frühstück war, er aber weiß, dass er früher oder später irgendetwas essen muss, trottet er zu einem der Snackautomaten. Selbst ein scheußlich gesunder Proteinriegel ist besser als nichts.

Er kommt nicht dazu, sich einen Snack zu kaufen. Ablenkung stürmt in Form eines verwirrten Jim Kirk auf ihn zu. „Hey, Bones! Was machst du denn hier?“

Gegen schlechtes Gewissen ist sein Kaffe kein sonderlich wirksames Mittel, wie Leonard feststellt. Er verkneift sich einen Fluch. Er hatte fest vor, Jim anzurufen oder ihm zumindest eine Nachricht zu schreiben, jedoch erst später. Davon, hier im öffentlichen Raum überrumpelt zu werden, hält er nicht viel. Und überhaupt, seit wann ist Jim Kirk um eine Uhrzeit wie diese schon wach?

Dass sich Jim ausgerechnet in Begleitung des alten Vulkaniers von letzter Nacht befindet, trägt ebenfalls nicht dazu bei, Leonards Laune zu heben. Es kann sich nur um einen weiteren Witz vonseiten des Universums handeln. Gut, Leonard hat dem Vulkanier versichert, er könne jederzeit vorbeikommen, aber er hat damit nicht gemeint, dass er und Jim sich zusammentun sollen.

Inzwischen ist Jim vor ihm stehengeblieben und mustert ihn mit unverhohlener Sorge. „Ich dachte, du wolltest erst in einer Woche wiederkommen.“ Düstere Vorahnung wirft einen Schatten über sein Gesicht. „Hey, ist dein Dad –“

„Alles in Ordnung“, unterbricht Leonard ihn hastig. Der Vulkanier schaut schon interessierter drein, als er sollte, für einen Vulkanier natürlich. „Es hat sich nur eine Planänderung ergeben, nichts weiter.“ Er setzt ein falsches Grinsen auf, von dem er genau weiß, dass es Jim nicht täuscht. „Ich dachte, du freust sich, mich zu sehen.“

Jim verdreht die Augen auf seine patentierte Jim-Kirk-Art. „Klar“, sagt er und belässt es dankenswerterweise dabei. Unter normalen Umständen würde er gnadenlos nachhaken; dass er so friedlich ist, haben sie offenbar der Anwesenheit des Vulkaniers zu verdanken.

Der Vulkanier ist es auch, dem Jim jetzt seine Aufmerksamkeit widmet. Ein unausgesprochener Austausch findet zwischen den beiden statt, dem Leonard verständnislos folgt, dann wendet sich Jim wieder an ihn. „Äh. Bones. Ich muss dir jemanden vorstellen.“

Wenig begeistert setzt Leonard eine höfliche Miene auf. Jede Minute, die er hier verplempert, fehlt ihm für seine Forschung, fehlt David.

„Wir haben uns schon getroffen“, teilt er Jim mit, aber weil seine Mutter ihn ordentlich erzogen hat, lächelt er den Vulkanier an. „Freut mich, Sie wiederzutreffen. Ich bin –“

„Leonard McCoy“, schneidet der Vulkanier ihm das Wort ab. „Auch ich bin angenehm überrascht, wieder auf Sie zu treffen.“

Langsam wird die Sache unheimlich. Irgendetwas hat er hier verpasst. „Äh. In Ordnung?“

Jim räuspert sich. „Bones. Bitte flipp jetzt nicht aus. Ich hab dir doch gesagt, dass wir noch ein bisschen was besprechen müssen, du weißt schon, wegen dem, was vor unserem letzten Zusammenstoß mit Nero passiert ist... Ich wollte es dir viel früher sagen, aber es war so viel los und irgendwie hab ich nie den passenden Zeitpunkt erwischt ... Also, es war so, dass ich Hilfe auf Delta Vega hatte und, äh, das klingt jetzt verrückt ...“ Mit einer Geste, die alles und nichts umfasst, bricht er ab, untypischerweise auf der Suche nach den richtigen Wörtern, während der Vulkanier leidgeprüft eine Augenbraue hochzieht.

Diese kleine Bewegung lässt den Groschen fallen. Leonard fühlt sich, als hätte ihn eben ein Klingone mit seinem Bat’leth durchstoßen. Natürlich. Hier, in der grellen Beleuchtung der Klinik, als er sich den Vulkanier zum ersten Mal richtig anschaut und über alles nachdenkt, was in den letzten Wochen geschehen ist, ist die Antwort offensichtlich.

„Oh, wollt ihr mich verarschen?“, stößt er hervor, jeden Anschein von Höflichkeit aus der Luftschleuse schleudernd. „Es gibt zwei von ihm?!“

Wüsste er es nicht besser, würde er glauben, dass Spock lächelt.

~°~

„Also, nur um das noch mal klarzustellen ...“

Leonard hat die ganze Sache ruhiger aufgenommen, als wahrscheinlich gesund für ihn ist. Andererseits – nach den Geschehnissen der letzten Wochen kann ihn so schnell nichts mehr schockieren. Die Geschichte, die Jim und sein neuer Freund ihm auftischen, reißt ihn folglich nicht vom Hocker. Er kann es Jim nicht einmal verübeln, dass er ihn erst jetzt einweiht. Sie alle haben ihre Geheimnisse.

„Sie sind Spock, aber mehr als hundert Jahre aus der Zukunft.“

Jim und der Vulkanier, der, aus welchen Gründen auch immer, ihr ehemaliger Erster Offizier ist, nur in alt, nicken so einträchtig, dass es fast niedlich aussieht, nicht dass Leonard ihnen das jemals verraten hätte.

Sie haben sich in einem der leeren Behandlungsräume verbarrikadiert, um in Ruhe miteinander zu reden. Spock ist tatsächlich hier, um sich einer Routineuntersuchung zu unterziehen, offenbar hauptsächlich auf Jims Anraten hin. Dass die beiden Leonard über den Weg gelaufen sind, hat Jim als Glückstreffer bezeichnet. Leonard ist sich da nicht so sicher.

„Und Sie sind hier, weil es einen Unfall gab, der Rote Materie und ein Schwarzes Loch beinhaltet hat ... Und Nero war nicht komplett durchgeknallt, sondern nur auf einem Rachefeldzug gegen Sie unterwegs.“

„Krude ausgedrückt, aber in der Essenz korrekt.“

Leonard verdreht die Augen. Ja, es besteht kein Zweifel daran, dass es sich hier um Spock handelt, und er versucht gar nicht erst, sich eine Ausrede dafür zu überlegen, wieso er es nicht auf Anhieb gesehen hat. Wenn er zu viel darüber nachdenkt, dass der Vulkanier vor ihm eine ältere Version ihres eisigen Ersten Offiziers ist und eigentlich aus der Zukunft oder einem Paralleluniversum oder was auch immer stammt, bekommt er Kopfschmerzen, also tastet er sich lieber weiter in seiner Wiedergabe des eben Gehörten voran.

„Und Jim Kirk war Ihr bester Kumpel aus der Zukunft.“

„An Ihrer Wortwahl lässt sich feilen, aber auch das ist korrekt.“

An Jim gewandt zieht Leonard die Augenbrauen hoch. Die Bilder, wie Spock – ihr Spock, falls man ihn so bezeichnen darf – kurz davor war, Jim über einer Konsole zu erwürgen, wird er lange nicht aus dem Gedächtnis bekommen, darum ist es schwierig, sich vorzustellen, dass aus Jim und Spock jemals mehr werden könnte als ein zugegebenermaßen recht effizientes Team. Andererseits ... Jim und dieser Spock scheinen sich bestens zu verstehen. Vielleicht gibt es in diesem Universum doch so etwas wie Wunder.

„Und Sie kannten auch mich ... also, mein Zukunfts-Ich“, fährt er fort. Diese Vorstellung beschäftigt ihn mehr als alles andere. So verlockend es ist, er will nicht wissen, wie das Leben seines Anderen Ichs ausgesehen hat. Er hat genug damit zu tun, sein eigenes Leben auf die Reihe zu bekommen, ohne dabei durch die Errungenschaften eines Geistes überschattet zu werden.

„Korrekt.“

„Großartig“, murmelt Leonard. „Einfach großartig. Ich –“

Ein vertrauter Klingelton lässt ihn zusammenzucken. Mit einer Hand, die ganz bestimmt nicht zittert, zieht er seinen privaten Kommunikator hervor. Ein Blick auf das Display beschwört eine Reihe von Horrorvorstellungen herauf. Bitte nicht bitte nicht bitte nicht ...

„Sorry, ich muss da rangehen“, stößt er hervor, sich nicht darum kümmernd, ob er sich gerade vor einem altehrwürdigen Vulkanier zum Narren macht.

Verständnisvoll deutet Jim zur Tür. „Klar. Geh nur. Wir warten solange.“

Leonard schenkt ihm den Hauch eines dankbaren Lächelns, dann hastet er nach draußen.

Diesmal macht er sich nicht die Mühe, eine abgelegene Stelle zu finden. Er geht einfach um die nächste Ecke, nimmt im Gehen das Gespräch an und lehnt sich danach gegen die Wand.

„Mom? Was ist passiert?“

Er befürchtet das Schlimmste und schwankt darum zwischen bodenloser Erleichterung und Ärger auf sich selbst, als seine Mutter lediglich von ihm wissen will, wie seine Reise nach San Francisco verlief und ob er gut angekommen ist.

„Mir geht’s gut, Mom. Ich wollte dir gestern noch schreiben, aber ich hab’s einfach vergessen. Tut mir leid.“

„Das macht doch nichts, Liebling. Die Hauptsache ist, dass es dir gutgeht.“

Ganz so einfach ist es nicht, doch Leonard weiß, dass es keinen Sinn hat, mit seiner Mutter zu diskutieren. Er hätte nicht vergessen dürfen, ihr zu schreiben. Genau dieses Verhalten – nur in seiner eigenen Welt gefangen sein, immer mit den eigenen Problemen beschäftigt, und annehmen, dass seine Umwelt das selbstverständlich unterstützt – hat maßgeblich zu seiner Scheidung beigetragen. Er hat angenommen, inzwischen dazugelernt zu haben.

Und was das Es geht mir gut angeht ... Er ist sich nicht sicher, ob diese Aussage noch Geltung hat, wenn einem soeben mitgeteilt wurde, dass die Welt, wie man sie kennt, eigentlich nur wegen eines Unfalls existiert.

Sie unterhalten sich noch ein wenig über alles Mögliche, nur nicht über ausweglose Situationen, und als Leonard das Gespräch beendet, fühlt er sich etwas ruhiger. Was auch immer geschieht, seine Mutter ist für ihn da, was mehr ist, als von Winona Kirk bezüglich ihres Sohnes behauptet werden kann.

Ein Blick auf das nächste Chrono lässt die zerbrechliche Ruhe sofort wieder zerspringen. Zwanzig Minuten sind vergangen, seit Leonard Jim und Spock zurückgelassen hat, und obwohl er nicht annimmt, dass den beiden so schnell der Gesprächsstoff ausgeht, fühlt er sich unwohl dabei, sie so lange warten zu lassen. Weil das Schicksal offenbar wirklich etwas gegen ihn hat, fängt ihn auch noch, kaum dass er zwei Schritte zurückgelegt hat, ein übereifriger Assistenzarzt ab, der Leonard vage aus seiner Akademiezeit bekannt vorkommt.

„Doktor McCoy? Tut mir leid, ich weiß, dass Sie nicht im Dienst sind, aber ich brauche mal Ihre Hilfe. Ich habe da diese Patientin, bei der ich mir wirklich unsicher bin, wie ich vorgehen soll, und auf der ganzen Station ist gerade niemand, den ich fragen kann, weil alle so beschäftigt sind, aber ich will auch nicht länger warten ...“

Den verunsicherten Jungen abzuwimmeln und dabei sicherzustellen, dass er seine Patientin nicht noch versehentlich umbringt, dauert weitere fünfzehn Minuten. Leonard ist nicht einmal überrascht, als er endlich in den Behandlungsraum zurückkehrt und diesen leer vorfindet. Wahrscheinlich hat irgendjemand Jim und Spock hinausgeworfen oder irgendein unvorhergesehener Termin hat sich ergeben ... Es ist nicht seine Schuld, dass er so lange fort war, aber etwas unwohl ist ihm trotzdem. Er hätte sich gerne von Spock verabschiedet – wer weiß, wann sie einander das nächste Mal sehen werden.

Frustriert fährt sich Leonard mit der Hand durch die Haare. Alles in ihm drängt danach, sich endlich ins Labor zu begeben, doch er weiß, dass er wenigstens irgendetwas für sein schlechtes Gewissen tun muss. Kommunikation, erinnert er sich.

Können wir heute Abend noch mal in Ruhe reden?, schreibt er Jim.

Er hat nicht mit einer schnellen Antwort gerechnet und ist darum überrascht, als fast sofort eine neue Nachricht auf seinem PADD aufleuchtet.

Komm zu deinem Zimmer auf dem Campus. Sofort. Es ist wichtig!!

Irritiert starrt Leonard auf das PADD. Während er noch überlegt, ob Jim ihn veräppeln will – er weiß, dass Leonard viel zu tun hat und sich keine weitere Verzögerung leisten kann, und überhaupt, wenn er jetzt schon wieder auf dem Campus ist, können er und Spock nicht allzu lang gewartet haben –, trudelt eine weitere Nachricht ein.

Bitte. Es ist WIRKLICH wichtig. Vergiss die Klinik. Ich brauche dich hier. Sofort.

Diesmal lässt sich der Fluch nicht unterdrücken. Jim Kirk ist ein großartiger Freund, doch er kann auch ein manipulativer Mistkerl sein, der genau weiß, wie er Leonard herumbekommt. Ein Ich brauche dich von Jim hat, seit sie einander kennen, immer alles andere überwogen.

~°~

Manchmal bereut Leonard es, Jim den Zugangscode zu seinem Zimmer mitgeteilt zu haben, obwohl er weiß, dass Jim ihn früher oder später sowieso herausgefunden hätte. Jetzt, als er in das Zimmer tritt und Jim mit einer Miene, die Ernst und Erwartungsfreude gleichermaßen ausstrahlt, auf seinem Sofa sitzen sieht, ist so ein Moment.

„Du hast besser einen verdammt guten Grund dafür, mich hierher zu beordern.“

Anstelle einer Antwort hält Jim ihm ein PADD hin.

„Was soll das, Jim? Was –“

„Schau dir das an. Bitte“, drängt Jim ohne jede Spur seiner üblichen Leichtigkeit, und das beseitigt jeden Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Situation. Innerlich wappnet Leonard sich gegen einen weiteren Schicksalsschlag, als er das PADD entgegennimmt und sich neben Jim auf dem Sofa niederlässt. Er rechnet so fest damit, die nächste schlechte Botschaft überbracht zu bekommen, dass er unverzeihlich lang braucht, um zu verstehen, was die Kolonnen aus Buchstaben und Zahlen auf dem Bildschirm ihm sagen wollen.

„Jim, das ist ...“ Es kann nicht sein. Er ist müde und verzweifelt und er halluziniert, das ist es, und –

Jetzt grinst Jim doch, dieses strahlende Grinsen, das einen ganzen Raum erhellen kann. „Die Formel für ein Heilmittel für Pyrrhoneuritis. Und außerdem noch das Heilmittel für eine Krankheit, die Spock Xenopolycythemia genannt hat. Er schien das auch für sehr wichtig zu halten.“ Sein Grinsen wird noch ein Stückchen breiter. „Offenbar findet die Regel von wegen Misch dich nicht in die Angelegenheiten einer anderen Zeitlinie ein da ihr Ende, wo es um das Wohl von Freunden geht.“

„Aber ... wie ... woher ...?“

Gänzlich unverfroren zuckt Jim mit den Schultern. „Ich hab ihm nur gesagt, dass es deinem Dad nicht gutgeht, mehr nicht. Viel mehr wusste ich ja auch nicht. Den Rest hat er sich selber zusammengereimt. Deiner Reaktion nach zu schließen liegt er wohl richtig. Also los, pack deine Tasche wieder und flieg heim.“

Was reagiert man auf eine derartige Entwicklung? Was antwortet man dem besten Freund, den man hat, wenn dieser einem soeben entgegen aller Wahrscheinlichkeiten das dringend benötigte Wunder verschafft hat?

„Bones?“, fragt Jim besorgt, als das Schweigen zu lange andauert.

Leonard starrt erst ihn an und dann das PADD und wieder zurück, und dann lacht er los, und sobald er einmal damit begonnen hat, ist es ihm unmöglich, wieder aufzuhören.

~°~

Das Erste, was er tut, ist, die nötigen Daten an die Ärzte seines Vaters zu schicken. Das Zweite, was er tut, ist, seine Mutter anzurufen. Das Dritte, was er tut, ist es, einen weiteren Videoanruf zu tätigen.

„Doktor McCoy“, begrüßt Spock ihn. „Es ist angenehm, von Ihnen zu hören.“

Wird er das jemals von ihrem Spock zu hören bekommen? Er kann nicht leugnen, dass er es sich ein kleines bisschen wünscht, auch wenn er im Moment andere Prioritäten hat.

Jim hat ihm die Nummer des alten Spock – er sollte sich wirklich einen besseren Namen für ihn überlegen – gegeben, nicht ohne ein vielsagendes Grinsen. Für Leonard stand es von vornherein außer Frage, dass er sich nicht persönlich bedankt.

„Danke“, sagt er anstelle einer Begrüßung.

„Es ist unlogisch, sich für etwas zu bedanken, das darauf abzielt, Leid zu verhindern, und damit die logischste Handlungsweise darstellt“, antwortet Spock, doch er klingt dabei entspannter, als Leonard es bei einem Vulkanier je für möglich gehalten hätte.

Er verdreht die Augen, hauptsächlich weil er den Verdacht hat, dass es Spock belustigt. „Schön zu wissen, dass sich das nicht ändert. Sie sind immer noch ein furchtbarer Besserwisser.“

Spock antwortet seinerseits mit einer hochgezogenen Augenbraue. „Wie Sie meinen, Doktor.“

Es fühlt sich richtig an, so ungezwungen mit ihm zu sprechen, fast als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht – und es weckt in Leonard eine diffuse Vorfreude auf etwas, das er nicht einmal genau benennen kann.

„Also“, beginnt er, „wir sind ... waren ... werden in der Zukunft auch beste Kumpel, oder was?“

Er weiß es besser, als Spock über Details über sein Anderes Ich auszuquetschen, aber diese kleine Stichelei kann er sich nicht verkneifen. Als Spock darauf anspringt, erfüllt ihn das mit eindeutig zu viel Selbstzufriedenheit.

„Das würde ich so nicht behaupten. Schließlich würde kein Vulkanier es lange Zeit ertragen, der beste Kumpel solch geballter emotionaler Unlogik zu sein.“

Leonard kann nicht anders – er lacht auf, und diesmal ist er sich sicher, dass auch der Vulkanier lächelt.

~°~

Einen Monat später befindet sich David McCoy auf dem Weg der Besserung – ein medizinisches Wunder, wenn auch eines, das nicht ohne Hilfe vonstattenging. Leonard ist egal, ob sie durch die urplötzliche Einführung der Heilmittel für Pyrrhoneuritis und Xenopolycythemia die eine oder andere Regel des Raum-Zeit-Kontinuums gebrochen und außerdem die Fachwelt auf den Kopf gestellt haben. Es ging ihm nie darum, seinen Namen groß herauszubringen, weshalb er darauf besteht, möglichst aus dem medialen Rummel um diese bahnbrechenden Entdeckungen herausgehalten zu werden. Alles, was für ihn zählt, ist, dass seinem Vater ein neues Leben geschenkt wurde.

Er hat den letzten Monat größtenteils in Atlanta verbracht, um seinen Eltern beizustehen. Wider Erwarten gab es keine Probleme mit seinen Vorgesetzten – wie durch ein Wunder hat man in der Krankenstation der Akademie und im Medizinischen Corps der Sternenflotte festgestellt, dass man doch für ein paar Wochen auf ihn verzichten kann. Dass der ebenfalls genesende Captain Pike ein gutes Wort für ihn eingelegt hat, hat dabei sicher nicht geschadet. Leonard vermutet, dass Jim etwas mit der ganzen Sache zu tun hat, kann ihm jedoch nichts nachweisen, und Jim bestreitet natürlich alles.

Seine Ankunft in San Francisco bildet einen krassen Gegensatz zum letzten Mal, als er nach einem Aufenthalt in Georgia wieder hierherkam. Damals war er verzweifelt und ängstlich und wütend auf das Universum im Allgemeinen und sich im Besonderen; jetzt fühlt er sich zum ersten Mal seit Langem innerlich ausbalanciert und von Dankbarkeit erfüllt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er nicht dazu kommt, sich in dem Zimmer im Wohnungskomplex für Offiziere der Sternenflotte, das ihm zwischenzeitlich zugeteilt wurde, häuslich einzurichten. Er hat kaum seine Reisetasche abgestellt, als es an der Tür klingelt und er sich einem ekstatischen Jim Kirk gegenübersieht.

„Bones! Schön, dass du wieder da bist! Schau dir das an!“

Bevor Leonard weiß, wie ihm geschieht, hat Jim sich an ihm vorbei in den Raum gedrängt und hält ihm ein PADD unter die Nase. Amüsiert greift Leonard danach. „Was ist jetzt wieder? Noch mehr Geheimbotschaften aus der Zukunft? Ich hoffe –“ Der Rest der geplanten Stichelei verhallt im Nichts, als die Bedeutung der Mitteilung, die ihm vom Bildschirm entgegen leuchtet, in sein Gehirn sickert. Er liest die wenigen Zeilen einmal, dann ein zweites Mal, und erst dann blickt er fassungslos zu Jim auf.

„Sie wollen dich zum Captain der Enterprise ernennen?“ In seinen Unglauben mischt sich eine so heftige Welle von Stolz, dass ihm für den Bruchteil einer Sekunde schwindlig wird. Er hat immer gewusst, wie viel in Jim steckt, aber auf diese Weise die Bestätigung zu erhalten, macht ihn sprachlos.

„Wahnsinn, oder?“ Jim strahlt förmlich und Leonard wird von Dankbarkeit erfasst. Trotz allem, was sie in letzter Zeit durchgemacht haben, hat Jim seine kindliche Begeisterungsfähigkeit nicht verloren. Solange er sich seinen Enthusiasmus bewahrt, besteht Hoffnung für die Welt. „Ich hab’s schon vor ein paar Tagen erfahren, aber ich wollte es dir persönlich sagen. Und rate mal, wer mein Erster Medizinischer Offizier wird!“

„Oh, Freude“, sagt Leonard, obwohl er dabei unter der Macht von Jims ansteckender Freude lächeln muss.

„Bones, das wird umwerfend. Du und ich und die unendlichen Weiten des Weltalls.“

Leonard erschaudert theatralisch. „Erinnere mich nicht an die verfluchten unendlichen Weiten.“

Entschlossen klopft Jim ihm auf den Rücken. „Lass dein Zeug hier liegen und komm mit. Wir müssen feiern.“

„Jetzt?“

„Warum nicht? Genügend Anlässe haben wir ja, und wir können nicht bis in alle Ewigkeit in Trauer und Schuldgefühlen versinken.“

Dem kann Leonard nicht widersprechen, also lässt er sich von Jim aus dem Gebäude ziehen, tatsächlich mit so etwas wie Vorfreude erfüllt. Er hat sich nie als Erster Medizinischer Offizier irgendwo in den Weiten des Weltraums gesehen, zumindest nicht für längere Zeiträume, aber er hat es nie zuvor gewagt, sich vorzustellen, dass er unter Jim Kirk dienen wird.

Kaum dass sie ins Freie getreten sind, bleibt Jim so plötzlich stehen, dass Leonard fast in ihn hineinläuft. „Spock! Hey, was machen Sie denn hier?“

Tatsächlich, niemand anderes als ein gewisser Halbvulkanier hat soeben ihren Weg gekreuzt. „Captain, Doktor“, grüßt er höflich und nur etwas verwirrt angesichts der geballten Aufmerksamkeit, die ihm gilt. Die Anrede verrät, dass er besser informiert ist als Leonard, und sie zeugt zudem von einem gewissen Respekt: Noch ist Jim nicht offiziell zum Captain ernannt worden, Spock müsste ihn also nicht so bezeichnen.

Die Frage ignoriert er geflissentlich. Jim hakt nicht weiter nach; Leonard hat den Verdacht, dass Spocks Anwesenheit hier etwas mit Lieutenant Uhura zu tun haben könnte, aber wer ist er schon, dass er den Vulkanier dafür aufziehen könnte? Irgendwann vielleicht, wenn sie einander besser kennen, doch nicht jetzt.

„Hey, wollen Sie mitkommen?“, fragt Jim unvermittelt. „Bones und ich wollen die Tatsache feiern, dass ich als jüngster Captain in die Geschichte eingehe und das beste Schiff der Flotte abbekommen habe.“

Während Leonard die Augen verdreht, verschränkt Spock die Hände hinter dem Rücken. „Das menschliche Konzept des Feierns ist mir fremd, Captain.“

„Na, umso wichtiger ist es, dass wir Sie daran heranführen! Hast du was dagegen, Bones?“

Leonard schüttelt den Kopf. So merkwürdig es ist – es würde ihn nicht im Geringsten stören, wenn Spock mitkäme, im Gegenteil; die Vorstellung fühlt sich richtig an. Spocks älteres Ich wüsste es sicherlich zu schätzen, dass Jim sich so um den Vulkanier bemüht.

Spock ist weiterhin skeptisch. „Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre.“

Jims Grinsen gleicht einer Supernova. „Kommen Sie, Spock. Denken Sie drüber nach.“

„... das werde ich. Auf dem Rückweg zum Campus, der mich in dieselbe Richtung führt wie Sie, wenn Sie zu jenem Stadtteil wollen, der für seine vielfältigen Unterhaltungsmöglichkeiten bekannt ist. Auf diese Weise kann ich Sie zumindest ein Stück Ihres Weges begleiten, wenn Sie darauf bestehen.“

„Wir überzeugen Sie schon noch. Kommen Sie, wir suchen uns irgendwo ein schönes, ruhiges Restaurant aus und ich verspreche Ihnen, es wird Ihnen gefallen.“

Spock wirkt auch jetzt noch nicht überzeugt, gibt es aber auf, die Diskussion fortzuführen. Auf sein knappes Nicken hin macht Jim eine Geste, als wolle er ihm auf die Schulter klopfen und könne sich nur im letzten Moment beherrschen. „Immerhin. Los geht’s, meine Herren.“

Energiegeladen schreitet er voran. Leonard und Spock folgen in einem etwas gesetzteren Tempo, einen Blick austauschend, den Leonard als Worauf haben wir uns da eingelassen? interpretiert. Trotzdem ist es ihm unmöglich, sich nicht von Jims guter Laune anstecken zu lassen; und als er schließlich nach Jim und Spock in das gemütlichste Restaurant tritt, das sie finden, versteht er zum ersten Mal, was mit der Behauptung gemeint ist, dass das Universum nicht faul genug für Zufälle sei.

Sämtliche Zweifel sind wie weggewischt. Er wird dort oben zwischen den Sternen gebraucht und er wird hier gebraucht, an der Seite dieser beiden Männer, und er wäre verdammt, wenn er den einfachen Ausweg nähme.
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