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Größer als Worte

von Laurie

Winona

Warnung für dieses Kapitel: erwähnte/angedeutete Gewalt gegenüber Kindern (off-screen)
Die meisten anderen Kinder in Jims Alter strukturieren ihr Jahr nach Schulzeit und Ferien, nach Freizeit und lästigen Verpflichtungen. Jim strukturiert sein Jahr danach, wann er seine Mutter wiedersieht.

Dass das Wort „bald“ eine Vielzahl an möglichen Bedeutungen in sich vereint, hat er schon früh gelernt – ungefähr um den Zeitpunkt herum, an dem ihm zum ersten Mal klargeworden ist, dass es für andere Kinder nicht normal ist, ihr Leben in einem konstanten Zustand des Wartens zu verbringen. „Bald“ kann von „nächster Woche“ bis zu „in vier Monaten“ alles bedeuten, und in manchen Fällen, unter anderem der Versicherung „bald wird sich alles ändern“, kann es auch „nie“ bedeuten.

Das letzte „bald“ hat sieben Wochen und zwei Tage gedauert.

Jim ist damit beschäftigt, auf Franks Befehl hin sein Zimmer aufzuräumen, und hört nicht, wie das Taxi vor dem Haus hält. Frank war sehr bestimmt, was dieses Aufräumen angeht; seine genaue Wortwahl lautete: „Wenn du jetzt nicht endlich tust, was ich dir sage, sorge ich dafür, dass du in nächster Zeit keinen einzigen Finger mehr rühren kannst.“ Jims Erfahrung nach liegt diese Drohung im oberen Bereich von Franks Nachdrücklichkeitsskala, irgendwo zwischen „Dir zeig ich schon, wer hier das Sagen hat“ und „Ich brech dir jeden Knochen, ich schwör’s.“ Auf jeden Fall ist sie weit genug oben, um ihn zum Handeln zu bringen. Ein „Ich sorge dafür, dass du in nächster Zeit keinen einzigen Finger mehr rühren kannst“ von Frank läuft zwar meistens auf eine aufgeplatzte Lippe und ein paar blaue Flecken hinaus und manchmal lässt Jim sich darauf ein, einfach nur, weil es befriedigend ist, gegen Frank zu rebellieren; diesmal ist allerdings kein günstiger Zeitpunkt dafür. Derzeit steht Schwimmen auf dem Lehrplan für den Sportunterricht in der Schule und Jim hat keine Lust, argwöhnische Fragen zu beantworten, sollte der noch nie dagewesene Fall eintreten, dass jemand nachfragt.

Missmutig dreht er ein Miniaturmodell eines Raumschiffes (Walker-Klasse, als ob das Jim irgendetwas bedeutet) zwischen seinen Fingern. Seine Mutter hat es ihm zum letzten Geburtstag geschenkt und am liebsten hätte Jim es sofort weggeworfen. Es braucht eine ganz besondere Art von Unwissenheit, um nicht zu bemerken, dass Jim alles verabscheut – verabscheuen muss –, was mit dem Weltraum und der Sternenflotte zu tun hat, und Mom beherrscht sie meisterhaft. Letzten Endes hat Jim das Modell doch zusammengebaut, weil es trotz allem doch eine Verbindung zu seiner Mutter und auch zu seinem Vater darstellt.

Als seine Zimmertür stürmisch aufgerissen wird, lässt er das Modell beinahe fallen. Sein Puls schießt in die Höhe, bis er erkennt, dass der Eindringling nicht Frank ist.

Sam blickt ihn so missbilligend an, wie nur ältere Brüder es können. Ich kann nicht glauben, dass du ihm tatsächlich gehorchst, sagt dieser Blick, aber wenigstens diesmal verkneift Sam es sich, den Vorwurf laut auszusprechen.

„Mom ist da“, sagt er stattdessen so gleichgültig, wie er allem im Leben begegnet, was ihm unangenehm ist.

Zum zweiten Mal lässt Jim das Modell beinahe fallen; diesmal allerdings schlägt sein Herz nicht aus Furcht und schlechtem Gewissen schneller, sondern aus Freude. Ohne sich weiter um Sam zu kümmern, stürzt er ans Fenster. Er sieht gerade noch, wie das Taxi in der Ferne verschwindet.

Sie ist mit dem Taxi gekommen, anstatt sich von Frank aus der Stadt abholen zu lassen. Das heißt ... dass sie viel Gepäck bei sich hat und das wiederum heißt, dass sie länger bleibt? Oder bedeutet es genau das Gegenteil?

Jim denkt nicht länger darüber nach. Mom ist wieder da, und diesmal muss sie länger bleiben. Sie hat es ihm versprochen.

„Es wird diesmal genau wie die letzten Male sein, das ist dir doch klar?“, unterbricht Sam seine hoffnungsvollen Gedanken mit der Brutalität eines Teenagers. „Und selbst falls sie diesmal länger bleibt – glaubst du echt, dass sie sich dadurch mehr für dich interessieren wird?“

Jim beißt sich auf die Unterlippe. Wenn er jetzt etwas erwidert, wird das unweigerlich auf einen Streit mit seinem Bruder hinauslaufen, und das wäre das Ende aller seiner Freude. Er mag dieses seltene Gefühl der Freude viel zu sehr, um es sich selbst zu verderben. Und außerdem liegt Sam sowieso falsch. Gut, er ist schon vierzehn und Jim ist erst neun, aber das heißt nicht, dass er immer recht haben muss. Diesmal wird es anders sein, das weiß Jim. Diesmal wird Mom lange genug bleiben, um zu lernen, wie man eine gute Mutter ist.

Wortlos stößt er sich vom Fensterbrett ab und drängt sich an Sam vorbei. Von unten dringt die Stimme seiner Mutter an sein Ohr, zwar vermischt mit Franks Stimme, doch selbst das trübt die Freude kaum.

Er trampelt die Treppe lauter als sonst hinunter, damit Mom weiß, dass er kommt, und bereit für ihn ist. In ihrer Anwesenheit wird Frank sich nicht über den Lärm beschweren, das weiß er aus Erfahrung.

„Mom!“

Dort steht sie, am Fuß der Treppe, und blickt zu ihm auf. Sie lächelt sogar ein wenig, und wenn das kein gutes Zeichen ist, weiß er auch nicht weiter. Selbst ein gekünsteltes, müdes Lächeln ist besser als gar keines und auf jeden Fall besser als Franks Stirnrunzeln, und es lässt das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas nicht ganz stimmt, in den Hintergrund treten.

„Hey, Jim.“ Sie breitet nicht die Arme für ihn aus, wie die Mütter seiner Klassenkameraden es oft genug für ihre Kinder tun, aber als er die Arme um sie schlingt, erwidert sie die Umarmung.

„Du bist wieder da“, murmelt er in ihre Bluse, die nach Weichspüler und Parfüm und Mom riecht.

Sanft schiebt sie ihn von sich. Ihr Lächeln ist verschwunden; kein Wunder, denn nun kommt Sam die Treppe herunter und Jim kann die düstere Stimmung seines Bruders so deutlich spüren, als schubse er Gewitterwolken vor sich her.

„Wie lang bleibst du diesmal?“, will Sam wissen, einige Stufen vor dem Treppenende innehaltend, so dass er größer als Mom und auch größer als Frank ist. Jim kann sich nicht an das letzte Mal erinnern, als Sam Mom umarmt hat.

Mom presst die Lippen aufeinander, wie es auch Frank immer tut, wenn er über irgendetwas nicht reden will. Bei diesem Anblick fällt Jims Freude in sich zusammen; die Klarheit, die mit der Ernüchterung einhergeht, schärft seine Wahrnehmung und er erkennt, was sein Unterbewusstsein schon die ganze Zeit über beschäftigt hat. Das einzige Gepäckstück, das Mom bei sich trägt, ist ihre kleine Handtasche. Größere Koffer sind nirgendwo zu sehen.

Moms Mund presst sich noch ein wenig fester zusammen.

„Jetzt lasst sie doch erst mal ankommen, Jungs“, mahnt Frank. Nur der Tatsache, dass sie direkt neben ihm steht, ist geschuldet, dass er es in einem normalen Tonfall sagt, anstatt sie anzublaffen.

Unbeeindruckt verschränkt Sam die Arme. „Wie lang?“, wiederholt er.

Ohne wirklich zu merken, was er tut, bewegt Jim sich rückwärts, näher zu seinem Bruder hin. Sam ist nervig und meistens schlecht gelaunt und er klaut manchmal Jims Nachtisch, aber er stellt sich auch zwischen Jim und Frank, wann immer Frank sich vergisst. Sam ist sicher, auf eine Art, die selbst Mom nie sein wird.

„Mom?“ Bittend blickt Jim zu ihr hoch.

Endlich entspannen sich Moms Gesichtszüge etwas. Statt verhaltenem Schuldbewusstsein bestimmt nun wieder die Mischung aus Resignation und Gleichgültigkeit ihre Miene, die Jim von klein auf kennt. „Es gab eine Planänderung.“

Sam schnaubt verächtlich auf. Jim kann seinen unausgesprochenen Kommentar förmlich hören: Die letzten neun Jahre waren eine einzige Planänderung. Und damit hat er recht, oder? Zumindest hat er damit bisher recht gehabt. Diesmal allerdings ... Obwohl Jim es besser wissen sollte, kann er nicht anders, als sich immer noch an die Hoffnung zu klammern, dass alles ein Missverständnis ist, dass alles doch noch gut werden wird.

„Es hat sich alles spontan ergeben“, fährt Mom fort, die rebellische Stimmung ihres ältesten Sohnes gekonnt ignorierend. „Wir haben in der Nähe von Quadra Sigma III eine Subraumanomalie gefunden. Etwas in dieser Art wurde noch nie zuvor katalogisiert. Es ist eine ungeheure Chance für die Wissenschaft –“ Mom unterbricht sich, als merke sie selber, wie hohl das alles klingt. „Am Montag brechen wir auf.“

„Montag?“, wiederholt Jim ungläubig. „Du bist nur das Wochenende hier?“ Nicht einmal drei ganze Tage? In nur drei Tagen lernt niemand, eine richtige Mutter zu sein. Drei Tage sind nicht genug, um Mom davon zu überzeugen, Frank aus dem Haus zu jagen.

„Ich bin bald wieder da, Jimmy, das verspreche ich. Und dann machen wir endlich alles, was wir uns schon so lange vorgenommen haben. Okay?“

Diese letzte Aussage ist eine der weiteren Konstanten in seinem Leben. Wie oft er sie schon gehört hat, weiß er nicht mehr; oft genug jedenfalls, um von ihr fast schon als einem Freund denken zu können. Normalerweise antwortet er auf ihr „Okay?“ ebenfalls mit einem Okay oder nickt zumindest. Diesmal jedoch reicht ihm bald nicht aus. Diesmal, angetrieben durch Sams missbilligende Präsenz hinter seinem Rücken und das Wissen darum, dass er kein kleines Kind mehr ist – er ist fast zehn! –, bleibt er stumm, starrt einfach an ihr und an Franks genervter Miene vorbei. Das Schlimmste ist, dass sie es nicht einmal zu bemerken scheint. Für sie ist das Thema erledigt; sie lässt ihre Söhne stehen, wie sie es schon so oft getan hat, und wendet sich Richtung Küche.

„Also, was wollen wir essen?“

~°~

Die nächsten beiden Tage ist Jim damit beschäftigt, endlose Pläne zu schmieden und sie wieder zu verwerfen. Wie bringt er seine Mutter dazu, die neue Mission abzusagen?

In seiner Verzweiflung, Wut und Enttäuschung erreicht seine Kreativität ungeahnte Höhen. Es geht sogar so weit, dass er überlegt, irgendjemanden anzuheuern, der sich für ihn in die Computer der Sternenflotte hackt und die Mission absagt. Eine andere seiner Ideen hat mehr Aussicht auf Erfolg: Er könnte sich mit Absicht verletzen, und zwar so stark, dass Mom keine andere Wahl hätte, als daheim zu bleiben, bis er wieder gesund ist. Als er vor ein paar Jahren eine schwere Lungenentzündung hatte, hat sie ihre Arbeit auch aufgeschoben und ihn jeden Tag im Krankenhaus besucht.

„Du bist doch bescheuert“, sagt Sam, als Jim ihm gegenüber diese Idee ganz vorsichtig andeutet.

Jim verschränkt die Arme, halb gekränkt und halb von einem seltsamen Gefühl der Wärme erfüllt, das daher rührt, dass so etwas wie Besorgnis in Sams Ton mitschwingt. Für einen Moment sieht Sam tatsächlich aus, als ziehe er selbst in Erwägung, sich zu verletzen, so dass Jim es nicht tun muss. Dann verschließt seine Miene sich wieder.

„Das würde doch sowieso nicht funktionieren. Mom würde nur Frank dazu verdonnern, sich um dich zu kümmern, und trotzdem gehen.“

Die kühle Einschätzung schneidet Jim tief ins Herz. Er ist noch nicht so weit, dass er den Glauben an Mom so vollständig aufgeben kann, wie Sam es vor langer Zeit getan hat. „Aber –“

„Nichts aber! Scheiße, Jim, wach endlich auf.“

„Du bist doof“, schleudert Jim ihm entgegen, seit jeher sein liebstes Argument in fruchtlosen Diskussionen, und stürmt aus dem Zimmer.

Der halb ausgegorene Plan schwirrt ihm für den Rest des Wochenendes im Kopf herum, aber er setzt ihn nicht um – was zum Teil daran liegt, dass Sam ihn seit ihrem Gespräch nicht mehr aus den Augen lässt. Einerseits ist Jim genervt von dem übertriebenen Beschützerinstinkt seines Bruders, anderseits ... nun, es ist schön, zu wissen, dass man trotz allem geliebt wird.

Eines muss man Mom lassen: Sie gibt sich während dieses Wochenendes alle Mühe, gute Laune zu verbreiten. Ihren Vorschlag, gemeinsam ins Kino zu gehen, setzen sie zwar nicht um, weil das Wetter an diesem Abend zu schlecht ist und niemand wirklich Lust darauf hat, das Haus zu verlassen, doch stattdessen schauen sie sich gemeinsam einen Film im Wohnzimmer an – ohne Frank! – und Mom kocht sogar selbst. Sie fragt Jim, wie es in der Schule läuft (nicht so prickelnd – seine Noten sind gut, aber letzte Woche hatte er eine Diskussion mit seinem Klassenlehrer, weil er ein paarmal zu freche Antworten gegeben hat), was seine Freunde machen (die er nie zu sich nach Hause einlädt, weil sie nicht erfahren sollen, dass er eigentlich gar kein richtiges Zuhause und erst recht keine richtige Familie hat) und ob er sich schon Gedanken darüber gemacht hat, was er später mal werden will (hat er nicht – er ist neun und das Einzige, was er mit Bestimmtheit weiß, ist, dass er niemals dasselbe wie Mom machen wird), und sie erzählt ihm von ihrer Arbeit. Es ist nicht sein liebstes Thema, aber die einfache Tatsache, dass Mom da ist und ihn wahrnimmt und zulässt, dass er sich während des Filmes an sie kuschelt, lässt ihn darüber hinwegsehen.

In Momenten wie diesen kehrt seine Hoffnung, dass alles anders, besser werden wird, mit voller Macht zurück.

Etwas von dieser Hoffnung hält sich bis zum Moment des Abschieds – denn natürlich kommt der Abschied, so sehr Jim sich auch das Gegenteil wünscht. Moms Handtasche ist gepackt, nicht dass es viel zu packen gegeben hätte, der Taxifahrer wartet am anderen Ende des Hofes, und sie alle stehen vor der Haustür in einem Halbkreis des unangenehmen Schweigens. Sam ist näher an Jim herangerückt als sonst, aber weder das noch die Tatsache, dass der Abstand zwischen Mom und einem sehr missmutigen Frank größer ist als die letzten Male, tröstet ihn über die Unvermeidlichkeit des Abschieds hinweg.

„Also dann ...“ So abwesend, wie Mom ihn und Sam ansieht, wird klar, dass sich ihre Gedanken längst im Weltall befinden.

„Also dann“, sagt Sam knapp. Er macht keine Anstalten dazu, Mom zu umarmen, Jim dagegen ist noch nicht so weit, dass er sich hinter einer Maske aus Zynismus und jugendlicher Rebellion verstecken kann. Er ist noch nicht alt genug, um seinen Stolz über seine Bedürftigkeit siegen zu lassen.

Ohne einen Blick an Frank zu verschwenden, geht er zu Mom und schlingt die Arme um sie. Auch diesmal erwidert sie die Umarmung, wenn auch eher so, als würde sie eine Puppe umarmen und nicht ihren Sohn.

Jim weiß nicht, wie er das aussprechen soll, was in seinem Inneren brodelt – dass er sie braucht, dass er sie vermisst hat, als sie nicht da war, dass es unfair von ihr ist, ihn alleinzulassen, dass er ihr verziehen würde, wenn sie sich Mühe gäbe ...

Stattdessen sieht er ihr fest in die Augen und fragt mit einer Stimme, die dünner klingt, als ihm lieb ist: „Kannst du nicht noch länger bleiben? Bitte? Ich muss bald ein Referat über den Beta-Quadranten halten und es wäre so super, wenn du mir helfen könntest ...“

Kurz wirkt es so, als würde Mom tatsächlich nachdenken, als gebe es doch noch eine Chance auf ein „alles wird gut“. Dann gleitet die vertraute Maske der Leere wieder über ihr Gesicht.

„Beim nächsten Mal“, antwortet sie. Andere Mütter würden vielleicht Ich hab dich lieb hinzufügen, aber Mom war nie wie andere Mütter und vor allem war sie schon immer genauso schlecht wie Jim darin, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu sagen. „Das verspreche ich.“

Sam schnaubt, allerdings leise genug, dass man es ignorieren kann.

„Dein Referat wird bestimmt auch so ganz toll“, sagt Mom und lächelt ihm schwach zu. Der letzte Funke der Hoffnung glimmt auf, nur um sofort wieder zu ersterben, als Mom Frank umarmt.

Dann ist es vorbei. Wie immer wendet Mom sich ab und geht, und wie immer blickt sie nicht zurück.

Winona Kirk versteht nicht.
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