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Ein Lächeln in den Trümmern

von Gabi

Kapitel 1



„If my human mind cannot acknowledge that all that is, is right;
yet since what is, must be, I will sit amidst the ruins and smile.
Truly we were not born to enjoy, but to submit, and to hope.“

(Mary Shelley: The last Man)




Drei gegen Einen war in jedem Fall unfair. Wenn es sich bei den Dreien dann aber auch noch um gut trainierte, bewaffnete Soldaten handelte, hing das Gleichgewicht ganz besonders schief. Doch das Schicksal war nicht bekannt dafür, fair zu sein - das war es sein gesamtes junges Leben noch nicht gewesen.

„Na los, wo sind jetzt deine Propheten?“ Der Cardassianer zog ihm den Lauf seines Phasergewehrs über den Kopf. Es war als spielerisches Necken gedacht, doch der junge Prylar empfand es nicht im Mindesten als solches. Er verlor das Gleichgewicht und setzte sich wenig elegant auf den Rand des Brunnens, aus welchem er seit zehn Minuten versuchte, Wasser zu holen. Vor diesen zehn Minuten hatte die Patrouille seinen Weg gekreuzt - und es war ihnen ganz offensichtlich langweilig. Unter normalen Umständen waren die Geistlichen Bajors auf den Straßen relativ sicher vor den Besatzern. Natürlich, man hörte immer wieder davon, dass auch Geistliche gefoltert wurden, aber dies schien immer so geschickt von statten zu gehen, dass hinterher niemand mehr sicher bezeugen konnte, ob er etwas gesehen hatte oder nicht. Offiziell ließ man sie in Ruhe, solange sie sich ihrem Stande gemäß benahmen: ruhig und demütig. Der Prylar, welcher die Wasserkanister getragen hatte, war genau das gewesen: ruhig und demütig. Aber dazu war er noch reichlich jung, und die Unerfahrenheit stand ihm offen ins Gesicht geschrieben.

Die drei cardassianischen Soldaten waren kaum älter als er. Patrouillieren war nicht das, was sie sich von diesem Posten erhofft hatten. Es lag kein Reiz und kein Abenteuer darin, täglich zwischen Personen herum zu marschieren, die wie ängstliches Vieh darauf bedacht waren, keinen falschen Atemzug zu tätigen, wenn die Cardassianer in ihrer Sichtweite waren. Schon seit Tagen hatten sie wenigstens auf ein kleines Zeichen des Widerstandes gehofft, um sich im Feld mit all der Theorie und Übung beweisen zu können, die sie auf Cardassia Prime während ihrer Ausbildung erhalten hatten. Aber es sollte nicht sein. Der ungeschickte Prylar kam ihnen da wie gerufen. Gerade als sie an ihm vorübergegangen waren, war ihm einer der Kanister aus den Händen geglitten, was sich wunderbar als direkten Angriff auf die Besatzungsmacht auslegen ließ.

„Du wagst es nicht noch einmal, so offen deine Ablehnung zu zeigen, Bajoraner!“

„Aber ich.....“. Der junge Mann wusste nicht, wie ihm geschah, als er sich von vier kräftigen Händen gestoßen fühlte. Noch bevor er fünf Meter weiter unten auf der Wasseroberfläche aufklatschte, überlegte er fieberhaft, dass er doch nur versucht hatte, Wasser zu schöpfen. Prustend und Wasser tretend kam er wieder an die Oberfläche. Die mehrlagige Kutte machte es ihm schwer, sich zu halten. Er hatte keine Ahnung, wie tief das Wasser hier in diesem Brunnen war, aber er befürchtete mit immer panischer werdender Angst, dass er es bald würde herausfinden müssen. Das nasse Gewicht zog ihn unbarmherzig in die Tiefe. Über sich konnte er das Grinsen der Cardassianer auf deren dunklen Gegenlicht-Gesichtern erahnen. Er wollte sie verfluchen, entsann sich aber eines besseren. All die Zeit, die er mit dem Studium der Schriften verbracht hatte, sollte nicht durch eine unbedachte Tat dieser Ungläubigen zunichte gemacht werden, indem er den Namen der Propheten lästerte. Eimer und Seil befanden sich natürlich auch am oberen Brunnenrand. Eimer und Seil - während er immer wieder Wasser spuckte fand er noch genügend Zeit, um über die Lächerlichkeit dieses Anachronismus nachzudenken. Es hätte sich eine Pumpstation im Dorf befinden sollen - nein, falsch, er hatte gelesen, dass es gar nicht allzu lange her gewesen war, dass jedes noch so entfernt gelegene Dorf auf Bajor ein ausgezeichnetes Brauch- und Trinkwassersystem besaß. Doch eines nach dem anderen waren sie stillgelegt worden, die Quellen vergiftet... Er spürte, wie durch das kalte Wasser sich ein Krampf in seinem rechten Oberschenkel anbahnte, er würde nicht mehr lange treten können. Die Wände waren zu glatt, um ihm in irgendeiner Weise Halt zu bieten. Sollten Gedanken an das bajoranische Trinkwassersystem das Letzte sein, was er in diesem Leben denken würde? Es war zu lächerlich! Wortlos richteten sich seine großen dunklen Augen wieder zum Brunnenrand hinauf. Als er sie endlich aufgrund des zusammenschwappenden Wassers wieder schloss, glaubte er, noch eine Bewegung in den mitleidslosen Gesichtern der Soldaten bemerkt zu haben.

Das Nächste, was er wahrnahm, war das Gefühl, dass jemand die Brunnenmauer abgetragen hatte und sich anschickte, sie nun in seinem Magen wieder zu errichten. Dann glaubte er, ersticken zu müssen - er begann zu husten und Wasser zu spucken, bis er rot anlief. Die Hände, die ihn aufzurichten versuchten, nahm er nur am Rande wahr. Schließlich lag er kraftlos in jemandes Armen, einen guten Teil des Brunneninhaltes vor sich auf dem Boden ausgespuckt, und er spürte die Kälte, die sich allmählich in seinen nassen Gliedern breit machte. Durch den sich lichtenden Tränenschleier vor seinen Augen sah er nicht wenige Füße um sich stehen. Gestützt von der Person, die ihn in den Armen hielt, hob er den Kopf an. Die mitfühlenden Gesichter der Dorfbewohner erwiderten seinen Blick, in dem einen oder anderen Gesicht konnte er auch etwas Schuldgefühl ausmachen, dass sie ihm nicht früher zu Hilfe gekommen waren.

Ein unsicheres Lächeln huschte über seine erschöpften Züge, er konnte sich vorstellen, dass er ein reichlich jämmerliches Bild abgeben musste.

„Geht es wieder, Prylar?“, hörte er die besorgte Stimme der Person, die ihn im Arm hielt. Es war eine junge, helle Stimme. Er richtete sich ein wenig auf den Knien auf, um seinen Körper umzuwenden. Das Mädchen ließ ihn los, um die Drehung nicht zu behindern. Sie war höchstens 16 Jahre alt, ihr langes blondes Haar zu einem Zopf geschlungen, der grobe Stoff des weiten Rockes an den Stellen nass, an welchen sie den Prylar im Schoß gehalten hatte.

Er wollte erwidern, dass es ihm besser ging, aber er brach sofort wieder in Husten aus. Sie richtete sich neben ihm ebenfalls in die Hocke auf und stützte ihn, bis der Anfall vorüber war.

„Kommt“, sie half ihm dabei, sich vollständig zu erheben. „Wir müssen hier ohnehin fort, bevor die Soldaten zurückkehren, um nachzusehen, was aus Euch geworden ist.“


* * *


„Bareil... mein Name ist Bareil Antos“, er nahm dankbar die Tasse mit heißer Suppe entgegen, die sie ihm reichte. Der Prylar saß in eine Decke gewickelt am Esstisch. Die nassen Gewänder und die Haube lagen um das Kaminfeuer ausgebreitet. Tern Marja, wie sich das Mädchen ihm vorgestellt hatte, hatte ihn rasch davon überzeugt, dass falsche Prüderie ihm im harmlosesten Fall eine mittelschwere Lungenentzündung in diesem Wetter eingebracht hätte. So hatte er sich nach anfänglichem Protest von ihr trockenreiben lassen. Nach ein paar neckischen Bemerkungen, dass er viel zu dünn sei, hatte sie sich dann nicht davon abhalten lassen, ihm etwas zu essen anzubieten.

Er nahm einen Schluck. Es tat gut zu spüren, wie die Hitze sich langsam seine Speiseröhre hinunter ausbreitete. Genüsslich ließ er eine zweite Portion der ersten hinterherlaufen. „Danke, dass du mich da herausgeholt hast. Mit all dem Stoff“, er zeigte mit dem Kinn zum Kaminfeuer zurück, „konnte ich einfach nicht länger durchhalten.“

Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. „Ich habe Euch von der Ferne gesehen, als ich auf dem Weg hierher zurü... oh“, sie erhob sich wieder. „Das hätte ich ja beinahe vergessen.“ Sie machte sich daran, den Gürtel ihres Rockes zu lösen. Bareil beobachtete sie misstrauisch. Tern Marja erschien ihm so lebhaft, dass er ihr alles zutraute. Doch als sie den Rock abstreifte, kam eine feste Hose darunter zum Vorschein, die an einem breiten Gürtel dichtgepackt mit Energiezellen besetzt war. Die Augen des Prylaren weiteten sich merklich.

„Du....“

„Ich schmuggle“, verkündete sie stolz, dann verfinsterte sich ihr Blick kurzzeitig. „Ihr werdet mich nicht verraten?“

„Nein, bei den Propheten! Natürlich nicht“, beeilte Bareil sich zu versichern und fügte dann zynisch hinzu. „Ich glaube, die cardassianische Freundschaft ist mir eben mit dem Versuch, mich zu ertränken, gekündigt worden.“

Marja löste die Energiezellen von ihrem Gürtel und begann, sie in einem Metallkasten zu verstauen. „Warum haben sie Euch angegriffen?“

„Wie alt bist du, Marja?“

Sie sah überrascht von ihrer Arbeit auf. „Fünfzehn, warum?“

„Ich bin gerade mal zwei Jahre älter als du... könntest du dann bitte aufhören, mich mit Euch anzusprechen? Ich komme mir wie hundert vor.“

Sie lachte über das unangenehm berührte Gesicht, welches der junge Mann zur Schau stellte. „Soll ich du sagen?“

„Bitte!“

„Okay, warum haben sie dich angegriffen?“ Die Anrede kam ihr noch etwas ungewohnt über die Lippen, aber sie konnte sehen, dass Bareil sich so wesentlich wohler fühlte - und ehrlich gestanden sah er auch gar nicht nach einem Euch aus.

„Keine Ahnung“, erwiderte er nun. „Als ich sie bemerkt habe, bin ich so erschrocken, dass ich einen Wasserbehälter habe fallen lassen, das schien als Grund zu reichen.“

„Es sind Bestien“, bemerkte Marja leidenschaftlich, während sie die letzte Energiezelle verstaute und den Kasten verschloss. „Jede Nacht bete ich zu den Propheten, dass sie uns von ihnen befreien...“

„Ich auch“, nickte der Prylar in die immer noch heiße Tasse. „Ich auch.“

Das Mädchen setzte sich wieder an den Tisch zurück. Mit beiden Armen vor sich auf der Platte verschränkt, lehnte sie sich zu Bareil vor. „Warum lassen sie das zu?“

Er blickte sie an, dieselbe Frage in diesen Augen, die er sich selbst so oft gestellt hatte: Warum? Warum sandten die Propheten kein Zeichen, keine Verkündigung ihres Willens, keine Hilfe für ihre Kinder?

„Ich weiß es nicht, Marja. Wir sind nicht imstande, die Größe und Erhabenheit der Propheten zu erfassen“, es war die Antwort, die immer auf diese nicht zu beantwortende Frage gegeben wurde. „doch wir dürfen niemals aufhören, an sie zu glauben. Wie viel schlimmer wäre es ohne unseren Glauben?“

Sie nickte demütig. „Ich versuche so sehr zu glauben, so sehr. Doch manchmal schleicht sich diese Frage in meinen Kopf und lässt mich nicht mehr schlafen. Ich würde mein Leben dafür geben, wenn ich wüsste Warum?“

Bareil legte seine freie Hand vorsichtig auf diejenigen Marjas und drückte sie beruhigend. „Mir geht es genauso.“

Ein überrascht erfreuter Blick begegnete ihm auf diese Worte. „Wirklich...?“

„Tern Marja!“

Die beiden jungen Bajoraner fuhren erschrocken herum. In der nun offenen Haustür stand eine Frau mit einem Korb in der Hand. Die Ähnlichkeit der Gesichtszüge identifizierte sie augenblicklich als Marjas Mutter. Ihre Augen hafteten missbilligend auf Bareil, auf der Hand, welche die Hand ihrer Tochter gefasst hielt, und auf der nackten Haut, die von seinem Oberkörper zu sehen war. Da der Prylar in der anderen Hand noch die Tasse hielt, hatte die Decke Gelegenheit gehabt, sich zu lösen, so dass sie nun den Blick auf eine Brust freigab. Hastig ließ Bareil Marja los und zog die Decke wieder vor seinem Körper zusammen. Sein Gesicht verfärbte sich langsam aber sicher.

„Er hat nichts an! Was...?“

„Mama“, Marja sprang auf und nahm ihr den Korb ab. „Er ist ein Prylar und...“

„Das ist ja noch schlimmer!“

Bareil stand ebenfalls hastig auf, aber ein Teil der Decke verfing sich dabei an der Tischplatte, so dass diese Aktion genau das Gegenteil der gewünschten Reaktion hervorrief. Bevor er noch mehr Haut zeigte, ließ er sich rasch wieder auf den Stuhl zurückfallen. Tern Marja schien das Schauspiel köstlich zu amüsieren. Sie blickte zwischen ihrer ungehaltenen Mutter und dem mittlerweile knallrot gewordenen Bareil hin und her und begann lauthals zu lachen.

„Tern, ich habe Ihre Tochter nicht angerührt, das müssen Sie mir glauben“, versuchte der Prylar ein wenig Boden zurückzugewinnen, was Marja zu einem erneuten Lachanfall veranlasste. Ein verräterisches Zucken machte sich im Gesicht ihrer Mutter bemerkbar und diese stimmte in das Gelächter ihrer Tochter mit ein. „Nein“, prustete sie. „Wenn ich Euch so sehe, Prylar, dann glaube ich auch nicht, dass Ihr sie angerührt habt.“

Bareil kniff ein wenig die Augen zusammen. Er war sich nicht sicher, ob er jetzt erleichtert sein sollte, oder beleidigt darüber, dass diese Frau ihm offensichtlich keine Verführung zutraute.

Sie bemerkte, dass das eine Unbehagen bei dem jungen Geistlichen von dem anderen abgelöst worden war, und wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel, bevor sie neben seinem Stuhl in die Knie ging. In einer mütterlichen Geste strich sie ihm eine seiner dichten Strähnen aus der Stirne. „Es tut mir leid, Prylar. Es lag nicht in meiner Absicht, unehrerbietig zu sein. Doch Marja ist ein solcher Wirbelwind, dass ich immer befürchte, sie in anderen Umständen vorzufinden. Und Ihr seht so aus, als wärt Ihr genau ihr Typ.“

Bareil blickte überrascht zu dem Mädchen auf. Marja zuckte auf diese Behauptung ihrer Mutter nur unschuldig mit den Schultern.

„Eine cardassianische Patrouille hat ihn angegriffen und wollte ihn im Brunnen ertränken“, erklärte sie ihrer Mutter.

Die Frau sah von Bareil zu Marja auf. „Du warst das? Ich habe vorhin bei Syla Orlan davon gehört...“ Mit einem Seufzer erhob sie sich wieder. „Pass auf dich auf, Kind. Du läufst auf einem sehr dünnen Seil. Ich will nicht hier stehen und zusehen müssen, wie es reißt.“

„Hätte ich zulassen sollen, dass sie ihn umbringen?“

Die Mutter blickte mit einem entschuldigenden Lächeln zu dem Prylar hinunter. „Nein, natürlich nicht.“ Sie legte die Hand wieder an seine Stirne. „Habt Ihr genügend zu essen? Ist die Decke warm genug?“

Bareil nickte. „Ihre Tochter war sehr aufmerksam. Sie hat mich vor dem Ertrinken, vor dem Erfrieren und vor dem Verhungern gerettet. Ich stehe in ihrer Schuld.“

Ein leises Lachen kitzelte an seinem Ohr, als Marja sich vorbeugte, um die leere Suppentasse vom Tisch zu nehmen. „Übertreibe nicht, Antos.“ Sie ließ den Namen ein wenig auf ihrer Zungenspitze verharren, sich in dem Privileg sonnend, einen Geistlichen so ansprechen zu dürfen. Er war ohnehin reichlich jung für diesen Rang. Entweder war er sehr aufstrebend oder er besaß einen einflussreichen Mentor.

„Kann ich noch etwas für Euch tun?“ erkundigte sich die Mutter, die hinter Marja her mit dem Korb in die Küche ging. „Die Suppe ist doch sicherlich nicht alles, was Ihr essen möchtet? Ich hatte heute Glück und konnte etwas Käse bei Syla erstehen...“

„Bitte, machen Sie sich wegen mir keine Umstände“, rief Bareil in die Küche hinterher. Er konnte es nicht zulassen, dass diese Familie wegen ihm auf einen Teil ihres schwer erkämpften Vorrates verzichtete. Kaum waren die beiden Frauen außer Sichtweite, erhob er sich langsam, diesmal darauf achtend, dass kein Teil seiner Decke am Tisch hängen blieb. Es war ihm wie es war schon peinlich genug, aber vor den beiden im Freien zu stehen, musste nun wahrlich nicht sein. Die Decke fest in den Händen ging er zur Feuerstelle hinüber. Seine Kleidung war noch klamm, aber er beschloss, sie dennoch wieder anzulegen und sich zum Kloster zurückzubegeben.

„Komm, ich helfe dir.“ Marjas Stimme ließ ihn zusammenzucken, er hatte sie nicht ins Zimmer zurückkehren gehört. Hastig zog er das Untergewand über die Hüften hinunter, bevor er sich umwandte. Das Mädchen grinste ihn offen an, und Bareil spürte die Wärme wieder in seine Ohren steigen. „Willst du wirklich das nasse Zeug schon wieder anziehen?“

„Ich muss zum Kloster zurück“, erklärte er, während er Hose und Haube über den Arm legte, beides wollte er nicht unbedingt anziehen, solange es nicht trocken war. „ich möchte nicht, dass man sich Sorgen um mich macht.“

Sie reichte ihm den zweiten Stiefel, nach dem er unter dem falschen Stuhl gesucht hatte. „Gibt es dort jemanden Bestimmtes, der sich Sorgen um dich macht?“

„...?“ Bareil sah überrascht auf. Im ersten Moment begriff er die Frage nicht als das, was sie war. Dann bemerkte er den Blick in den Augen des Mädchens und ein sanftes Lächeln, welches ihn älter und erfahrener wirken ließ, verzauberte seine Züge. „Nein, liebe Marja, es gibt niemanden Bestimmtes, der sich dort Sorgen macht.“ Das kleine Seufzen entging ihm nicht und so setzte er schelmisch hinzu. „Ich kann ohnehin nicht zulassen, dass mich weltliche Dinge von meinem Studium der Schriften abhalten...“

Sie fasste ihn am Oberarm, drehte ihn Richtung Tür und begann zu schieben. „Ich habe auch überhaupt nichts angedeutet, mein verehrter Prylar...“

Mit einer eleganten Drehung brachte Bareil sich aus dem Druck des Mädchens, so dass Marja nach vorne gefallen wäre, hätte er nicht ihren Arm gefasst. Seine Finger glitten zu ihrer Hand hinunter, welche er zu einem flüchtigen Kuss auf den Handrücken anhob. „Danke, dass du mir das Leben gerettet hast. Die Propheten mögen dich und dieses Haus beschützen.“

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, seufzte Tern Marja. Ihre Mutter, die im Durchgang zur Küche lehnte, lachte. „Der wievielte junge Mann ist es, dem du diese Woche hinterher seufzst?“

Das Mädchen wirbelte gespielt entrüstet herum. „Der einzige, Mama! Was denkst du von mir?“ Dann griff sie nach der Metallschatulle, sie hatte eine Aufgabe zu erledigen.

* * *


Seine Haare befanden sich wieder unter der enganliegenden Haube, als Bareil einige Tage später auf Händen und Knien im Klostergarten zwischen den Hecken herumkroch. Allmählich begann er, dieser Arbeit wirklich schöne Seiten abzugewinnen. Gestern hatte die erste von ihm selbst gesetzte Zwiebel zu blühen begonnen. Es war ihm wie eine Offenbarung vorgekommen, etwas mit den eigenen Händen zum Leben zu erwecken, wenn um ihn herum nur Zerstörung tobte. Anfangs war die Gartenarbeit ihm von seinem alten Vedek als Strafe auferlegt worden, weil Bareil sich nicht auf sein Studium konzentrierte und stattdessen oft stundenlang am offenen Fenster verträumen konnte. Sein Vedek war letzten Herbst gestorben und Vedek Opaka hatte ihn unter ihre Fittiche genommen, die Bestrafung war allerdings dieselbe geblieben. Doch Bareil fand sich immer öfters freiwillig im Garten, er spielte mit dem Gedanken, um eine permanente Versetzung zu den Gärtnern zu bitten. Im Umgang mit Pflanzen lag eine Ruhe und Dankbarkeit, die ihn sonst selten erfüllte.

Liebevoll strichen seine Finger über das dicke gemusterte Blatt einer Bromelienart, als ihn eine Stimme rief: „Prylar Bareil?“ Er warf dem kleinen Beet am Rand der Hecke einen letzten wehmütigen Blick zu, bevor er sich erhob. „Ich komme.“

Auf dem Weg konnte er Prylar Alina stehen sehen. An ihrer Seite befand sich ein vertrautes Gesicht.

„Du hast Besuch, Antos“, informierte die ältere Bajoranerin ihn.

„Tern Marja“, er lächelte erfreut. „Was verschafft mir die Ehre?“

Das Mädchen wirkte ungewöhnlich ehrfürchtig innerhalb der Klostermauern. Es stand ihr nicht schlecht, empfand der Prylar, und behütete ihn sicherlich vor anzüglichen Bemerkungen.

„Ich habe einen Korb Früchte vom Dorf hergebracht“, nun stahl sich doch ein freches Grinsen in ihre Züge. „Und ich wollte doch sehen, wie Ihr den Tag so verbringt, wenn Ihr keine Schwimmübungen macht.“

Prylar Alina hob die Augenbrauen, doch Bareil zuckte nur linkisch mit den Schultern. „Ich befasse mich mit dem festen Boden.“ Er sah zu der älteren Frau auf. „Ist es mir erlaubt, unserem Gast den Garten zu zeigen?“

Sie betrachtete das Mädchen nachdenklich, dann den jungen Prylaren, schließlich schien sie zu der Überzeugung gekommen zu sein, dass Bareil lange genug im Kloster war, um nicht mehr auf Dummheiten zu verfallen. „Gut, du hast eine halbe Stunde Pause.“

Bareil verneigte seinen Kopf leicht, dann bedeutete er Marja, ihm zu folgen. Als die beiden jungen Bajoraner sich außer Hör- und Sichtweite der Prylar befanden, atmete das Mädchen hörbar aus. „Ist sie deine Aufpasserin? Ihr Blick hat mir einen Schreck eingejagt.“

Er lachte leise. „Prylar Alina gehört der orthodoxen Richtung an, nach ihr besteht unser Leben nur aus Arbeiten und Beten, solche profanen Dinge wie Pausen oder Freizeit grenzen bei ihr an Blasphemie.“

„Und du siehst das nicht so?“

„Ich?“ Bareil dachte daran, wie oft er schon Stunden mit Nichtstun verbracht hatte. „Sicherlich nicht... Ich freue mich, dich wieder zu sehen“, bemerkte er dann.

Sie lachte. „Ich hatte gehofft, dass du dich freust. Als sie vorhin jemanden gesucht haben, der unsere Gaben zum Kloster bringt, habe ich mich um die Aufgabe geschlagen.“ Sie schwang ihre rechte Faust in einem spielerischen Haken, um zu demonstrieren, wie sie sich geschlagen hatte.

Bareils Gesicht wurde ernster, als er ihr Handgelenk fasste. Die Bewegung hatte ihren Ärmel verrutschen lassen und den Blick auf eine hässliche Wunde freigelegt, die sich über ihren gesamten Unterarm zu ziehen schien und gerade erst am verheilen war. Er betrachtete sie kopfschüttelnd. „Ich kann sehen, wie du dich geschlagen hast... Wo ist das her?“

Marja zog den Arm weg. „Das ist nichts“, wich sie aus.

Der Prylar fasste wieder danach, sein Griff war zu stark, als dass sie sich erneut hätte daraus freimachen können. „Es sieht schlimm aus“, bemerkte er nach einer näheren Inspektion. „Das ist schlecht versorgt... befindet sich kein Arzt im Dorf?“

Sie nutzte seine kurze Unaufmerksamkeit, um sich ihm wieder zu entwinden. „Ich kann zu keinem Arzt, er würde es meiner Mutter sagen...“

„Sie weiß davon nichts?“

Marja schüttelte den Kopf. „Wenn sie wüsste, dass ich den Cardassianern nur knapp entkommen konnte, würde sie mir verbieten zu schmuggeln.“

Mit Recht, wollte Bareil erwidern, aber der stolze Blick in ihren Augen hielt ihn davon ab. Er war nicht ihr Vater. „Lass mich dir etwas geben, damit sich die Wunde nicht entzündet“, bot er stattdessen an.



Sie betrachtete den Verband, der nun um ihren Unterarm lag. „Danke.“ Bareil kniete vor ihr und räumte den medizinischen Koffer wieder ein. Sie beugte sich zu ihm hinunter und hauchte ihm einen kleinen Kuss auf die Stirn. Erschrocken sah der Prylar auf, womit sie die Gelegenheit bekam, seinen Mund zu erobern. Es klapperte, als der Koffer zu Boden fiel

„Nicht!“ Bareil zog sich aus ihrer Reichweite zurück und räumte den Inhalt hastig zum zweiten Mal ein. Ihre Lippen waren weich und angenehm gewesen. Irritiert war er sich bewusst, dass es das erste Mal war, dass ein Mädchen ihn auf diese Weise geküsst hatte. Er beschloss, nicht den Kopf zu verlieren. „Marja“, seine Stimme klang nicht so fest, wie er es sich vorgestellt hatte. „...“

„Ich mag dich, Antos.“ Sie war von dem Stuhl heruntergerutscht und half ihm beim Einräumen. „Und du hast doch gesagt, dass du keine Freundin hast.“

„Ja, ich...“, frustriert landete ein Scanner härter als nötig im Koffer. Bareil setzte sich auf die Fersen zurück. „Marja, ich mag dich auch... aber nicht so wie du denkst. Ich bin ein Prylar“, stellte er fest, in der Hoffnung, dass dies die Angelegenheit klärte.

Sie sah mit einem verführerischen Lächeln auf. Bareil konnte nicht verhindern zu registrieren, dass ihre mandelförmigen Augen eine faszinierende grüne Farbe besaßen und ihre kleinen Nasenrippen ausgesprochen schön geformt waren. „Ich weiß, dass du ein Prylar bist.“ Sie beugte sich über den Arztkoffer vor. Bareil ermutigte ihren Vorstoß nicht durch irgendeine Reaktion seinerseits, aber er zog den Kopf auch nicht zurück, als er erneut den weichen Mund spürte. Versuchsweise schloss er die Augen und überließ Marja die Führung. Seine Lippen öffneten sich ein wenig, als ihre Zunge sie fordernd auseinanderschob.

Die zärtliche Erkundung wurde jäh durch näherkommende Schritte unterbrochen. Hastig zog Bareil seinen Kopf zurück, seine Hände versuchten nach allem, was noch auf dem Boden lag, gleichzeitig zu greifen.

„Was macht ihr hier?“ Prylar Alina erschien im Torbogen.

„Er hat meinen Arm...“

„Mir ist der Koffer...“, begannen sie gleichzeitig.

Die Prylar betrachtete sie misstrauisch, schien aber von dem angelegten Verband überzeugt zu werden. „Räum das hier zusammen, Antos. Es wird für dich Zeit, wieder an die Arbeit zurückzukehren. Tern Marja, deine Mutter wartet sicherlich auch schon auf dich.“

„Ja, Prylar“, Marja stand auf und verneigte sich ehrerbietig vor der älteren Bajoranerin. „Danke, dass ich mit Prylar Bareil sprechen durfte.“ Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal zu dem jungen Mann um. Unbemerkt von Prylar Alina zwinkerte sie ihm zu. Bareil senkte seinen Kopf rasch wieder zu den verstreuten medizinischen Instrumenten, um zu verhindern, dass er sich verriet. Während er sich von der Geistlichen anhörte, wie ungeschickt er sich doch immer anstellte, hatte er den bestimmten Eindruck, dass der verborgene Kuss deutlich auf seinen Lippen brennen musste.

* * *


Diese Aktion würde ihm sicherlich mindestens zwei Wochen Gartenarbeit einbringen, aber Bareil fühlte sich seltsam frei als er die Wasserkanister geschützt unter einem Gebüsch am Wegrand verstaute und dann querfeldein lief. Es war ein heller Tag, die Sonne schien und ein leichter Windhauch sorgte dafür, dass es auf der Haut nicht zu warm wurde.

Sie saß unter einem Baum im Gras. Als sie ihn kommen sah, sprang sie auf und lief ihm entgegen. Voreinander blieben sie stehen, unschlüssig, was mit ihren Händen und ihren Gefühlen zu tun. Ohne sich zu berühren gingen sie schließlich zum Baum zurück.

„Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest“, gestand Marja, als sie sich wieder an den Stamm setzte. Bareil setzte sich neben sie ins Gras. „Ich wusste nicht, ob du mir den Kuss übel genommen hast.“

Er schüttelte leicht den Kopf. „Es war unerwartet für mich“, gestand er, „aber es war schön... ich weiß jedoch nicht, was wir jetzt weiter...?“

Sie rutschte ein wenig näher an ihn heran. „Wir sind einfach gute Freunde, okay?“ Versuchsweise legte sie ihren Kopf auf seinen Oberschenkel. Bareil verlagerte sein Gewicht ein wenig, um ihr eine angenehme Position bieten zu können. Er rutschte nun ebenfalls am Stamm hinab, bis sein Kopf im warmen Gras zu liegen kam. „Ich mag dich auch, Marja.“

Sie robbte ein wenig höher. Über seiner Brust spielte sie am Kragen seiner Robe. „Wirst du Ärger bekommen, weil du jetzt hier bist?“ wollte sie wissen.

Bareil legte seine Arme vorsichtig um ihren Rücken. Sie erschien ihm so zerbrechlich, ihre Schulterblätter waren deutlich durch ihr Hemd auszumachen. Es waren nicht die Zeiten, um sich ein Polster anzuessen. Es war so irreal, dass dieses junge Mädchen in seinen Armen lag. Ein kleines Seufzen entrang sich seiner Kehle, als seine Finger mit ihrem weichen Haar spielten.

„Ich werde garantiert Ärger bekommen. Aber das hier ist wenigstens ein guter Grund.“

Marja hörte auf, mit dem Kragen zu spielen, und blickte ihm in die Augen. Sie lächelte glücklich. „Danke, dass du das gesagt hast, Antos.“

„Ich meine es so“, versicherte der Prylar ernsthaft. „Du bist so ... lebendig... Im Kloster habe ich manchmal das Gefühl, ich bin nur noch von scheintoten Traditionalisten umgeben...“

Die Luft, welche sie beim Lachen ausstieß, kitzelte ihn am Kinn. „Das klingt nicht gerade ehrfürchtig, Prylar.“

„Nein, das ist es wohl auch nicht... ich bin froh, dass ich jetzt Vedek Opaka unterstehe - sie bricht mit manchen der alten Traditionen. Ich wünschte mir, sie würde unsere nächste Kai werden.“

Marja rollte sich ein wenig herum, sie lag nun in voller Länge auf Bareil. Der junge Prylar konzentrierte sich auf den Druck, den ihr Körper auf den seinen ausübte. Er öffnete ein klein wenig die Beine, um sie besser spüren zu können. Das Mädchen reckte den Hals vor, um Bareil dann auf den Mund zu küssen. Seine Arme schlossen sich mutiger um ihre Gestalt. Als sie ihre Lippen wieder von ihm löste, blickte sie ihm einen Moment in die Augen. „Und, hat Vedek Opaka die Antwort?“

Bareil war sichtlich überrascht. „Die Antwort?“

Warum? Warum es alles so ist, wie es ist.“

Der Prylar schüttelte den Kopf. „Meine liebe kleine Marja, niemand bei uns hat die Antwort, niemand...“

Ein Schatten verdunkelte die Sonne - und alle Hoffnung. Als Bareil aufblickte, starrte er in das Gesicht eines cardassianischen Soldaten. Instinktiv verstärkte er seinen Griff um Marjas Körper. Von seiner Reaktion alarmiert, wandte das Mädchen den Kopf um. Der cardassianische Trupp veranlasste sie zusammenzucken. Sie drückte sich fester an Bareil, auch wenn sie wusste, dass dies überhaupt keinen Zweck hatte.

„Tern Marja?“ wollte einer der Cardassianer wissen.

Der Prylar spürte, wie ihr Herz für einen Moment aussetzte, um dann in viel zu raschem Rhythmus weiterzuschlagen. Ihre Panik spiegelte sich in seinen eigenen Augen wider. Jemand schien ihm die Kehle zuzudrücken, sein Magen wollte sich umdrehen.

„Nein“, krächzte er - sowohl aus hilflosem Protest als auch als Antwort auf die Frage des Cardassianers.

Eine kräftige Hand packte Marja an den Schultern und riss sie aus Bareils Umarmung. Der Soldat musterte sie, während der Prylar aufsprang. Nach ein paar Sekunden, die den beiden Bajoranern wie ihr gesamtes Leben vorkamen, nickte er, anscheinend mit dem zufrieden, was er sah. „Du bist Tern Marja. Wir haben Order, dich zur Befragung mitzunehmen...“

„Das dürfen Sie nicht machen!“ fuhr der Prylar panisch auf. Er hatte keinerlei Ahnung, was er gegen einen Trupp Cardassianer hätte ausrichten können. Alles, was sein Bewusstsein erfüllte, war das Gefühl von Marjas warmem Körper und die Angst, ihn nicht mehr spüren zu können. Sein flehentlicher Blick hetzte von dem Mädchen zu den Soldaten, die sie festhielten, so als hoffte er, sie durch seine Bitten erweichen zu können.

„Ich habe nichts getan!“ protestierte jetzt auch Marja. Sie trat gegen das Schienbein des ihr am nächsten stehenden Cardassianers. Bareil hörte das dumpfe Geräusch auf ihrem Kiefer, als der Soldat sie bewusstlos schlug. „Niemand hat behauptet, dass du etwas getan hast, Göre!“ Aber Marja konnte ihn schon nicht mehr hören.

Der junge Prylar stand hilflos inmitten der Soldaten. Der Körper der Bajoranerin hing nun bewusstlos im Arm des einen Cardassianers, sie selbst konnte sich nicht mehr verteidigen. Doch er, Bareil, hatte ihr eben noch gestanden, dass sie ihm etwas bedeutete, glücklich darüber, dass sie in sein Leben getreten war. Er musste etwas für sie tun, wie sinnlos es auch immer sein mochte. Mit einem wütenden Schrei sprang er den Soldaten an, der sie festhielt. Die ersten Kinnhaken und Tritte, die er verteilte, trafen ins Schwarze, weil die Besatzer überhaupt nicht mit einer derartigen Reaktion von ihm gerechnet hatten. Aber ihre Überraschung verflog schnell, und dann war es nur noch ein kurzer Kampf. Bareil spürte die harten Schläge in Genick und Magen. Nach dem dritten hatte er keine Chance mehr. Stöhnend brach er zusammen.

* * *


Wahrscheinlich hatte Prylar Alina ihm mittlerweile schon die Gartenarbeit der nächsten zwei Jahrzehnte auf die Schultern gelegt, aber es war Bareil gleichgültig. Es gab keinen körperlichen Zwang im Kloster, es war nicht nötig, da die erste Pflicht Gehorsam lautete. Daher war es Bareils eigene Angelegenheit, wenn er sich nicht von dem Fenster wegbewegte, in dessen Rahmen er saß. Alles, was ihm diese fortdauernde Bewegungslosigkeit einbrachte, war in regelmäßigen Abständen eine Verlängerung seiner Gartenstrafarbeit. Alina war jetzt schon seit einer Viertelstunde nicht mehr aufgetaucht, um ihn zu ermahnen. Er ahnte, dass sie sich auf dem Weg zu Vedek Opaka befand.

Seit der junge Prylar ins Kloster zurückgekehrt war, versuchte er, seinen Geist auf etwas Vernünftiges zu konzentrieren. Als er auf der Wiese wieder das Bewusstsein erlangt hatte, war er natürlich alleine gewesen. Die Soldaten hatten Marja in ein unbestimmtes Schicksal mitgenommen und ihm jede Möglichkeit verbaut, daran teilzunehmen. Er war nicht mutig - oder verrückt - genug, sich zu wünschen, sie hätten ihn ebenfalls abgeführt, doch er konnte nicht zur Ruhe kommen, wenn er nicht wusste, was mit dem Mädchen passierte. Immer wieder rief er sich den Satz des Cardassianers ins Bewusstsein „Niemand hat behauptet, dass du etwas getan hättest“. Sie wollten sie nur befragen, nur befragen... An diesem Gedanken hielt er sich seit einer Stunde fest, seit er hier an diesem Fenster saß, auf den Garten hinaus starrte und jeden Kommentar von Prylar Alina schlichtweg ignorierte.

„Antos?“ Diese Stimme konnte er sich nicht erlauben zu missachten. Fast gewaltsam musste er seinen Blick vom Garten fortreißen, noch in der Bewegung senkte er den Kopf. Vedek Opaka trat an das Fenster heran und erfasste das schmucklose Ohr des Prylaren. Bareil versuchte, das unangenehme Gefühl zu ignorieren, welches ihn jedes Mal befiel, wenn sein pagh erprobt wurde. Zwar war Opakas Griff vorsichtiger als derjenige manch anderer, bei denen er jedes Mal das Gefühl hatte, sie wollten ihm das Ohrläppchen zerquetschen, aber angenehm war es trotzdem nicht.

„Du bist durcheinander.“

Jetzt hob Bareil seinen Blick wieder. Ein klein wenig Leben kehrte bei dieser Bemerkung in seine Augen zurück. Das hätte er seiner Vedek auch ohne Erprobung des pagh mitteilen können.

„Komm mit mir.“ Die Frau fasste seinen Arm, und er folgte ihr kommentarlos. Aus den Augenwinkeln konnte er die Missbilligung in Prylar Alinas Gesicht erkennen, dass Vedek Opaka keine harten Worte an ihn gerichtet hatte.



„Was glaubst du damit zu erreichen, wenn du Löcher in den Garten starrst?“

Bareil saß auf einem Stuhl, der Vedek Opaka am Schreibtisch gegenüber stand. Er senkte wieder den Kopf, antwortete aber nicht. Er wusste nicht genau, was er sagen sollte, wusste nicht einmal genau, was er fühlte. In seinem Kopf lauerte nur die eine Frage Warum? - und darauf gab es keine Antwort.

„Und komm mir nicht damit, dass du meditiert hast, das hast du nicht getan.“

Schließlich sprach er sie doch aus: „Warum? Warum können die Cardassianer das mit uns machen? Warum wehrt sich niemand?“ Sein Blick hob sich und sie konnte die stumme Verzweiflung in den dunklen Augen lesen.

„Was ist passiert?“

„Sie haben sie mitgenommen, einfach so“, Bareil bedachte nicht, dass Opaka überhaupt nicht wissen konnte, von wem er sprach. Marja beanspruchte seine Gedanken so sehr, dass es ihm nicht in den Sinn kam, dass es Personen auf Bajor geben konnte, die nicht einmal von der Existenz dieses Mädchens wussten. „Sie haben behauptet, dass sie nur ein paar Fragen an sie hätten... aber dann haben sie sie zusammengeschlagen. Wer gibt ihnen das Recht dazu? Haben wir keine Rechte...?“

„Antos!“ Opaka griff über die Tischplatte hinweg nach seiner Hand und drückte sie fest. „Was ist passiert?“

Der Prylar hielt inne, die Berührung an seiner Hand machte ihm wieder klar, wem er gegenüber saß und dass er nicht wie ein kleiner Junge lossprudeln sollte. Ganz gleich, was geschah, er hatte sich wenigstens vor seiner Vedek seinem Rang gemäß aufzuführen. Er nickte kurz und begann dann Opaka davon zu erzählen, wie er Marja kennengelernt hatte, wie sie ihn im Kloster besucht hatte und wie er sie wiedergetroffen hatte - verschwieg dabei aber sicherheitshalber, dass er sich zu diesem Treffen ohne Prylar Alinas Erlaubnis länger aus dem Kloster entfernt hatte.

„Können wir etwas für sie tun?“ schloss er den kurzen Bericht.

Opaka sah ihn traurig an und schüttelte den Kopf. „Was sollen wir machen, Antos, wenn die Besatzer Bajoraner verhören wollen? Wir können nur für ihr Wohl beten, dass die Propheten ihnen Kraft und den Cardassianern Einsicht schenken mögen...“

„Warum widersetzen wir uns nicht? Warum greifen wir nicht aktiv ein?“

„Das ist nicht unser Weg.“

„Aber es ist Turons Weg!“

Opaka senkte ein wenig die Lider. Turon war ihr Sohn, nur zwei Jahre älter als Bareil. Sie hatte gehofft, ihn im Bewusstsein der Notwendigkeit des geistlichen Weges aufziehen zu können. Doch Turon besaß seine eigene Vorstellung davon, wie seiner Heimat geholfen werden konnte. Mit fünfzehn hatte er sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen. Jedes Mal, wenn er sie im Kloster besuchen kam, machte Opaka sich bewusst, dass es das letzte Mal sein könnte.

„Er wird auf diesem Weg umkommen.“

„Und wir nicht?“ Es war normalerweise nicht Bareils Art, eine andere Meinung als diejenige Vedek Opakas anzunehmen. Doch die Hilflosigkeit, in welcher ihn diese Situation zurückließ, konnte sich nur in Widerspruch äußern. Er wusste nicht, was er sonst tun konnte.

„Vielleicht... vielleicht auch nicht.“ Opaka sah die Missbilligung auf den Zügen des jungen Mannes, er saß hier, weil er Hilfe von ihr erwartete. Aber sie konnte ihm keine geben, nicht auf diese Fragen. „Was willst du tun, Antos? Dich vor die Tore der Garnison stellen und protestieren? Dann wird es sicherlich nicht lange dauern, bis du auf den Listen der plötzlich Verschwundenen stehst. Mein Sohn“, sie fasste nun auch seine andere Hand, „Wir müssen denjenigen helfen, denen wir helfen können, und nicht Kämpfe führen, bei welchen wir keine Chance haben. Damit nützen wir niemandem.“ Sie sah, dass ihn diese Worte nicht im Geringsten beruhigten. Mit einem leichten Seufzen fügte sie daher hinzu: „Du sagtest selbst, dass deine junge Freundin nur verhört werden sollte. Die Cardassianer hätten keinen Grund, das zu sagen, wenn dem nicht auch so wäre. Vielleicht ist sie morgen schon wieder auf freiem Fuß. Versuch jetzt bitte ein wenig zu meditieren und schließe sie in deine Gebete ein. Ich möchte nicht, dass sich Prylar Alina noch einmal über dich beschwert“, sie lächelte ein wenig. „Tu es für mich.“

Nachdem Bareil sie verlassen hatte, stand Vedek Opaka auf und trat an das Fenster heran. Sie fühlte sich nicht minder schwach und verwirrt als Bareil es war. Aber sie konnte sich nicht leisten, es zu zeigen. Der Weg ihres Sohnes führte in den Tod, dessen war sie sich nur zu sehr bewusst. Aber es war ein Weg, der begangen werden musste, wenn Bajor jemals auf Freiheit hoffen wollte. Auch sie musste sich eingestehen, dass es einfacher für sie wäre, wenn die Propheten ihr eine Erklärung übermitteln könnten, warum es so war, wie es war.

* * *


Bareil wälzte sich im Bett hin und her. Sein Bewusstsein wollte einfach nicht zur Ruhe kommen. Er hoffte so sehr, dass Marja tatsächlich morgen einfach wieder auftauchen würde, dass er am liebsten sofort eingeschlafen wäre, um den nächsten Tag herbeizuzwingen. Doch sein Unterbewusstsein malte trostlose Bilder, die ihn nicht losließen und ihn schließlich in seine Träume verfolgten.

Der Weg lag im Sonnenschein, Bareil lief ihn entlang von einer inneren Unruhe angetrieben, die er nicht benennen konnte. Irgendetwas tief in ihm wusste, dass er diesem Weg folgen musste, doch es existierte nur das Gefühl der unbestimmten Dringlichkeit. Als er zwei Wegbiegungen hinter sich gelassen hatte, konnte er den Drang in Worte fassen. Marja kam ihm auf diesem Weg entgegen. Er sah ihr blondes Haar in der Sonne leuchten. Das Glück, welches Bareils Herz in diesem Moment verspürte, war nicht mehr in Worte zu fassen. Es war die Erfüllung der Träume, die Erhörung der Gebete, es lag alles, was zählte, in dem Anblick des jungen Mädchens am Ende des Weges. Bareil versuchte nicht zu weinen, als er zu rennen begann.

Marja rannte nicht.

Das Glück, welches Bareils Brust hatte zerreißen wollen, fiel in sich zusammen, als er vor ihr stand und ihre Arme fasste. Ein anderes Gefühl breitete sich in ihm aus, welches noch tiefer ging und sich nachhaltiger verankerte. Alles, was an Marja noch glänzte, waren ihre Haare. Die Augen lagen tief in den Höhlen, als hätte sie Wochen nicht geschlafen, wo nur ein Tag vergangen war. Ihr Blick war tot, sie erkannte ihn nicht, erkannte gar nichts. Sie blickte einfach nur stumpf vor sich hin, ohne Ziel und ohne jedes Feuer. Sie blieb stehen, als er ihren Arm berührte, aber nicht weil sie ihn als Bareil erkannte, weil sie ihn als Bajoraner erkannte - sie spürte einfach nur ein Hindernis in ihrem Weg, welches sie zum Anhalten zwang.

Bareil begann zu schreien, die tiefen, nicht mehr enden wollenden Schreie der Verzweiflung, die erst aufhören wollten, wenn sein Herz stillstand. In diesem entsetzlichen Augenblick wusste er, dass er Marja für immer verloren hatte, dass die Cardassianer ihren Geist gebrochen hatten. Vor ihm stand nichts außer der leeren Hülle. Und alles in ihm vereinigte sich zu einem letzten stummen Schrei, der Bajor erschüttern sollte: Warum?!


Schweißgebadet fuhr Bareil auf. Seine Hände fuchtelten hilflos in der Dunkelheit, bis sie den Lichtsensor fanden. Er zog die Decke enger um seinen Körper, seine Brust bebte heftig, seine Haare klebten in nassen Strähnen an seiner Stirne, und in seiner Kehle hatte er immer noch das erstickende Gefühl eines nicht geschrienen Schreis. Ihm war so schlecht, dass er zitternd zur Toilettenschüssel hinüber schlich und sich übergab.

Dann blieb er, wo er war, auf den Knien liegen und begann, für Marja zu beten.

* * *


Die nächsten zwei Tage vollführte Bareil seine Pflichten nur mechanisch. Weder im Garten noch in den Andachten war er mit den Gedanken dabei. Und sooft es ihm seine strenge Zeiteinteilung erlaubte, und er sich unter den Augen Prylar Alinas wegstehlen konnte, lief er den Weg vom Kloster ins Dorf hinab, um sich zu erkundigen, ob Marja zurückgekehrt war.

Als er gegen Abend des zweiten Tages den Weg hinab lief, glaubte er, sein Herz müsse aussetzen. Er konnte sich irren... nein, die Strahlen der untergehenden Sonne fingen sich in dem langen blonden Haar. Jetzt drehte sie sich um, trotz der Entfernung konnte Bareil ihre Züge erkennen, die Züge, die ihm schon so vertraut waren, obwohl er sie doch kaum kannte.

„Marja!“ Mit einem Aufschrei und einem Glücksgefühl, welches ihm fast das Herz zersprengen wollte, begann Bareil zu rennen.

Marja rannte nicht...


Ende



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