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Der Wille der Propheten

von Martina Strobelt

Kapitel 1

Plasmafackeln erhellten das, was einst vor über zwanzigtausend Jahren wahrscheinlich der Marktplatz von B’hala gewesen war. Die zuckenden Flammen warfen Schatten auf die Gesichter von Kai Winn, Premierminister Shakaar, Weyoun und seinem Ersten. Weder die Kai noch der Premierminister waren in Begleitung. Der Botschafter des Dominions hatte nichts anderes erwartet. Winn und Shakaar mochten politische Gegner sein, doch wann immer es aus ihrer Sicht um Bajors Wohl ging, verständigten sie sich wie auf ein geheimes Zeichen. Beide hatten heftigen Widerstand geleistet und sich Weyouns Verlangen erst gebeugt, als er ihnen für den Fall, dass sie sich weiter weigern sollten, Sanktionen in Aussicht gestellt hatte, die Bajors Wirtschaft an den Rand des Ruin geführt hätten. Selbst jetzt noch versuchten sie, die Durchführung der Pläne des Dominions so weit wie möglich zu erschweren. Beide waren allein erschienen, um die Anwesenheit bajoranischer Zeugen auf das absolute Minimum zu beschränken.
Ihr Verhalten entlockte Weyoun ein Lächeln. Als ob sich dadurch etwas ändern würde. Die Zeremonie würde von seinem Ersten Omet’iklan aufgezeichnet und, nach einer Überarbeitung, dem bajoranischen Volk gezeigt werden. Alles verlief nach Plan. Das Einzige, was den Vorta schmerzte, war Odos Abwesenheit. Der Gründer hatte sich geweigert, dieser Propagandaaktion, als welche er sie bezeichnet hatte, beizuwohnen. Weyoun hatte nichts unversucht gelassen, um Odo zu überreden, aber keines seiner Argumente hatte gefruchtet. Schließlich war dem Vorta nichts anderes übrig geblieben, als Odos Weigerung zu akzeptieren. Odo war ein Gründer. Ihn gegen seinen ausdrücklichen Willen zur Teilnahme zu zwingen, lag außerhalb Weyouns Macht. Aber abgesehen davon hatte er allen Grund, mit sich zufrieden zu sein.
Die Miene des Vortas verriet nichts von seinen Gefühlen, doch für Winn und Shakaar war die Genugtuung Weyouns leicht zu erahnen. Die beiden wichtigsten Persönlichkeiten Bajors wurden von dem Vorta benutzt, um das bajoranische Volk zu manipulieren. Weyouns Spiel zu durchschauen und es trotzdem mitspielen zu müssen...
Weil es keine andere Wahl gab!
Weil Bajor vom Rest des Alpha-Quadranten abgeschnitten und wirtschaftlich vom Dominion abhängig war!
Weil Gul Dukat nur darauf wartete, den Befehl zur erneuten Invasion Bajors zu erteilen!
Weil Weyoun und seine Jem’Hadar als einzige zwischen Bajor und Cardassia standen! Weil Bajors Wohl und Wehe in den Händen des Dominions lag!
Diese bittere Erkenntnis war für die beiden Bajoraner kaum zu ertragen.
Kai Winn fragte sich zum wiederholten Mal insgeheim, warum die Propheten sie, die ihnen stets treu gedient hatte, dieser schweren Prüfung unterzogen.
Warum ließen sie es zu, dass Weyoun sie zum Gegenstand einer Taktik machte, deren Ziel die Versklavung des bajoranischen Volkes war?
Shakaar verbarg seine geballten Fäuste in den Falten seiner Jacke. Sein ganzes Leben lang hatte er gekämpft und Kollaborateure verachtet. Warum zwangen die Propheten nun ihn, wie einer zu handeln?
Warum ließen sie es zu, dass der einstige Führer einer gefürchteten Widerstandsgruppe einer willenlosen Marionette gleich das hier tun musste, weil das Dominion es von ihm verlangte.
Hinter Weyouns Rücken tauschten die Kai und der Premierminister einen verstohlenen Blick.
Meine Seele...
Mein Leben...
Für die Vernichtung der Feinde Bajors...

Doch nichts geschah. Weyoun und Omet’iklan standen immer noch aufrecht an ihren Plätzen.
Der eine stumm und starr wie eine Statue.
Der andere lächelnd und mit strahlenden Augen.
„Ich denke, wir sollten beginnen“, forderte Weyoun die Kai und den Premierminister auf.
Winn rührte sich nicht. Sie war fest entschlossen, Shakaar den Vortritt und damit zugleich die Hauptlast der Verantwortung zu überlassen. Es spielte keine Rolle, ob Shakaar dies als Feigheit bewertete. Winn war daran gewöhnt, dass Leute wie Shakaar oder auch Kira Nerys ihr falsche Motive unterstellten, weil sie nicht begriffen, warum sie so handelte, wie sie es tat.
Shakaar war lediglich der Premierminister. Fehler von Politikern wurden im Parlament hitzig diskutiert. Kamen die Vertreter des Volkes zu einem Schuldspruch, zog der betreffende Politiker die Konsequenzen und trat zurück. Es folgte eine Neuwahl, und das Leben ging weiter.
Sie jedoch war die Kai, das religiöse Oberhaupt Bajors. Sie musste über jeden Fehler erhaben sein. Unantastbar und unfehlbar! Wankte sie, wankte der Glaube! Sie als Person war unwichtig, aber das Amt, das sie repräsentierte, war es nicht. Das Volk konnte seinen Premierminister kritisieren und sich weigern, ihm zu folgen. Doch kein Bajoraner kritisierte die Kai.
Weyoun hatte das klar erkannt. Er hatte begriffen, dass es weder die Politik noch das Militär waren, die Bajor letztlich zusammenhielten, sondern der Glaube. Die Bajoraner, deren Glauben fest verwurzelt war, würden sich durch Winns Teilnahme an diesem Akt manipulieren lassen. Diejenigen, deren Glaube weniger stark war, würden sich bestätigt sehen und sich innerlich einen Schritt weiter von den Propheten entfernen. Was auch geschah, Weyoun und das Dominion würden am Ende als Sieger und Bajor als Verlierer dastehen.
Um das zu verhindern musste Shakaar alle Verantwortung auf seine Schultern nehmen, ob er wollte oder nicht. Und wenn es keinen anderen Weg gab, als ihn zu zwingen, war Winn dazu bereit.
Weyoun seinerseits hatte nicht die Absicht, es der Kai so leicht zu machen. „Aus Respekt für diesen heiligen Ort tritt die Politik gerne zurück“, meinte der Vorta mit einem Lächeln, das jegliche Erleichterung Shakaars fortwischte.
Einmal mehr wünschte der Bajoraner sich sehnlichst, hier nicht als Premierminister sondern als Widerstandskämpfer zu stehen. Er war kein Politiker. Er verabscheute diplomatische Zwänge und wortgewandtes Taktieren. Das war Winns Welt, nicht seine. Zu ihrem Pech beherrschte Weyoun das Spiel mindestens ebenso gut wie sie. Wäre von dem Vorta keine Bedrohung für Bajor ausgegangen, hätte Shakaar den Ärger, der über Winns Gesicht huschte, als gerechten Ausgleich dafür betrachtet, dass sie ihn in diese Sache hineingezogen hatte.
Weyoun machte Omet’iklan ein Zeichen.
Mit mühsam verhohlenem Widerwillen nahm Winn die Gedenktafel, die der Jem’Hadar ihr reichte.
„Irre ich mich, oder wollten Sie tatsächlich ohne mich anfangen?“, lenkte eine dunkle Stimme die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf einen Gang, aus dem Gul Dukat nun zu der Gruppe trat.
„Dukat!“, stießen Shakaar und Winn fast gleichzeitig aus.
„Wir haben eine Vereinbarung!“, richtete Shakaar sich an Weyoun, der den Gul aus schmalen Augen anstarrte.
„Kein Cardassianer betritt B’hala!“, ergänzte die Kai.
„Tatsächlich?“, bemerkte Dukat mit einem Seitenblick auf den Vorta. „Habe ich deshalb keine Einladung erhalten?“
„Kehren Sie nach Terok Nor zurück!“, befahl Weyoun. „Sofort!“
„Ich denke nicht daran!“
„Sie sind hier unerwünscht, Dukat!“ Shakaar ging langsam auf den Cardassianer zu. „Gehen Sie! Oder ich befördere Sie eigenhändig hinaus!“
„Drohen Sie mir etwa?“, vergewisserte Dukat sich. Sein Blick wanderte zu Weyoun, der ihm mühelos standhielt. „Wollen Sie dazu nichts zu sagen?“
„Bajor ist eine freie Nation“, erinnerte der Vorta sanft. „Mit welchem Recht könnte ich wohl Premierminister Shakaar vorschreiben, wem er den Aufenthalt auf Bajor gestattet?“
„Cardassia ist Mitglied des Dominions!“
„Ein Grund mehr für Sie, unverzüglich zur Station zurückzufliegen“, meinte Weyoun eine Spur schärfer.
Bevor Dukat zu einer Erwiderung ansetzen konnte, gab von einem Moment auf den nächsten der Boden unter seinen Füßen nach. Gleichzeitig stürzte die Decke der unterirdischen Grotte ein und begrub die Ausgrabungsstätte der versunkenen Stadt B’hala in einem Wirbel aus Felsen und Staub.

***

Dunkelheit. Ein Geräusch, dröhnend und dumpf, das in ihren Ohren schmerzte. Es dauerte einige Minuten, bis Kai Winn begriff, dass es sich bei dem lauten Pochen um den Schlag ihres eigenen Herzens handelte, das wild in ihrer Brust trommelte.
Dunkelheit.
Geröll, das sie umgab.
Erde, die sie bedeckte.
Der Druck von Steinen auf ihrem Körper.

Verdrängte Erinnerungen stiegen an die Oberfläche von Winns Bewusstsein.
Als junge Vedek hatte sie fünf Jahre in einem cardassianischen Arbeitslager verbracht.
Fünf Jahre lang hatten der dortige Kommandant und seine Aufseher versucht, ihren Willen zu brechen, sie dazu zu bringen, ihren Glauben zu verraten.
Winn erinnerte sich mit Grauen an jene Nacht, in der sie von den Wachen aus dem Schlaf gerissen und gezwungen worden war, gemeinsam mit anderen Vedeks eine tiefe Grube zu schaufeln.
„Das Grab für jeden von euch, der weiter an seinem Irrglauben festhält!“
Die höhnischen Worte der Soldaten klangen Winn immer noch in den Ohren. Ihr Gelächter, die verzweifelten Gebete, mit denen sie und ihre Glaubensgefährten die Propheten um Hilfe gebeten hatten. Die lauten Schreie der anderen Bajoraner. Ihr eigener, als ein Cardassianer sie in das Loch im Boden gestoßen hatte. Und das Geräusch, mit dem Sand und Geröll auf sie hinabgefallen waren, als die Cardassianer begonnen hatten, die Grube zuzuschaufeln.
Winn erinnerte sich an den Geschmack der Erde, die ihren Mund gefüllt hatte, an den Staub, der mit jedem Atemzug in ihre Lungen gedrungen war. An den Druck des Sandes auf ihrer Brust. An die schlammige Masse aus Dreck, Blut und Tränen, die nach und nach ihr Gesicht bedeckt und ihre Augen verklebt hatte.
Seit damals fürchtete Winn die Dunkelheit. Den Geruch von Erde. Das Geräusch rieselnden Sandes. Und das Gefühl von Schlamm auf ihrer Haut.
Angst begann sich in ihrem Innern breitzumachen. Es kostete sie sämtliche Willenskraft, die aufsteigende Panik unter Kontrolle zu bringen. Winn zwang sich, alles, was ihr Furcht einflößte, zu ignorieren und ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Allein die Propheten wussten, wie wenig sie in jener entsetzlichen Nacht davon getrennt hatte, ihren Glauben zu verlieren. Dass sie fast bereit gewesen war, sich von ihnen abzuwenden.
Doch dann war das Wunder geschehen. Ohne Vorwarnung war ein heftiger Sturm über das Land gefegt. Peitschender Regen und ein für die Jahreszeit ungewöhnlich kalter schneidender Wind hatten den Cardassianern den Spaß an der Exekution verdorben. Die Soldaten hatten die Schaufeln fortgeworfen und waren fluchend in die trockene Wärme ihrer Quartiere geflohen. Die Bajoraner hatten sie einfach in der halb zugeschütteten Grube zurückgelassen.
Winn erinnerte sich daran, wie sie taumelnd aus dem Loch gekrochen war, das beinahe ihr Grab geworden war. Wie der Wind ihre Haare zerzaust und der Regen allmählich den Schlamm von ihrem Gesicht gespült hatte, während sie weinend auf den Knien gelegen und den Propheten für die Rettung ihres Lebens gedankt hatte.
In jener schrecklichen Nacht, in der sie beinahe ihren Glauben verloren hatte, war sie innerlich um Jahre gereift. Nach dieser Nacht war ihr Glaube stärker als je zuvor gewesen.
Das Vertrauen in die Propheten half Winn dabei, ihre Angst zu überwinden, bis ihr Verstand wieder zu arbeiten begann.
Die Ruinen von B’hala waren eingestürzt. Sie war gemeinsam mit den anderen, die sich hier aufgehalten hatten, verschüttet worden. Hatte sie als Einzige dieses Zeichen der Propheten überlebt? Denn Winn zweifelte keine Sekunde daran, dass es sich nicht um ein Unglück handelte, sondern die Propheten den Frevel, der ihnen angetan worden war, auf diese Weise bestraft hatten. Hieß das nicht, dass sie das Urteil akzeptieren musste? Doch sie lebte noch. Warum? Um die Erkenntnis zu gewinnen, dass sie kein Recht gehabt hatte, Weyoun den Zutritt zu geweihtem Boden zu gewähren, bevor sie starb? Aber was nützten Erkenntnisse ohne die Gelegenheit, daraus Weisheit zu gewinnen? Winn entschloss sich, der Tatsache, dass sie noch am Leben war, den Willen der Propheten zu entnehmen, dass sie überleben und aus ihrem Fehler lernen sollte.
Innerlich durch diese Überzeugung gestärkt begann die Bajoranerin sich aus dem Berg von Geröll zu befreien, der ihren Körper bedeckte.

***

Schmerz. Ein seltenes Gefühl. Im Lauf seines Lebens hatte Gul Dukat Vielen Schmerz zugefügt, doch selbst hatte er dieses Gefühl nur selten erlitten, und nie zuvor hatte er es in einer derartigen Intensität verspürt. Jeder Knochen seines Körpers schien gebrochen zu sein, jede Faser zu brennen. Es grenzte vermutlich an ein Wunder, dass er noch lebte und in der Lage war, einen klaren Gedanken wie diesen zu fassen.
Die Grotte war eingestürzt. Warum? Ein Attentat bajoranischer Terroristen? Waren sie wirklich so weit gegangen, das Leben ihres weltlichen Führers und ihres geistlichen Oberhauptes zu opfern, um einen verhassten Cardassianer zu töten? Doch woher hatten sie gewusst, dass er sich in den Ruinen aufhalten würde? Weyoun hatte ihn nicht eingeladen.
Weyoun!
Hatte der Vorta womöglich all das geplant, um ihn zu beseitigen? Um den Preis seines eigenen Lebens? Oder war Weyoun kurz vor dem Einsturz aus der Höhle gebeamt worden?
Dukats Gedanken schossen durch seinen Kopf. Wild und ungebändigt, gleich dem Blut, das mit jedem Schlag seines Herzens aus seinen Wunden strömte, seine Kleidung tränkte und sich mit dem Staub mischte, der in einer dicken Schicht auf allem lag.

***

Stille. Ungewohnt für einen Vorta, dessen ausgeprägtes Gehör sogar über weitreichende Distanzen ausgezeichnet funktionierte. Weyoun berührte vorsichtig sein rechtes Ohr. Er fühlte nichts. Als ob diese Stelle seines Körpers nicht mehr existierte. Mit dem anderen Ohr verhielt es sich ähnlich. Er schnippte leicht mit den Fingern, aber alles, was er hörte, war ein leises Rauschen. Der Vorta hoffte, dass es sich um keine dauerhafte Schädigung sondern lediglich um eine temporäre Taubheit handelte. Wer schlechte Augen hatte, benötigte sein Gehör noch dringender als jemand, der gut sehen konnte. Hinzu kam, dass die Gründer gnadenlos waren, wenn einer ihrer Diener seine Aufgaben, ganz gleich aus welchen Gründen, nicht mehr erfüllen konnte. In diesem Sinne durfte ein Vorta, der sein Gehör verloren hatte, im besten Fall darauf hoffen, dass ihm eine niedrige Tätigkeit zugewiesen wurde, bei deren Ausübung sein genetisch auf die stete geistige Herausforderung ausgerichteter Verstand allmählich verkümmern würde. Wahrscheinlicher war es jedoch, dass ein in seiner Funktion derart eingeschränkter Vorta einfach ausgemustert und durch einen Klon oder einen anderen Vorta ersetzt wurde.
Weyoun verdrängte diese unangenehme Vorstellung und konzentrierte sich darauf, die Lage zu analysieren. Die Höhle war eingestürzt. Warum und wie, das spielte im Moment keine Rolle. Er lebte, und abgesehen von seinem Gehör schien er unverletzt zu sein. Zumindest verspürte er keinen Schmerz und konnte Arme und Beine bewegen, was ein positives Zeichen war. Das Gewicht seines Ersten lastete auf seinem Rücken und presste seine Brust hart gegen einen Felsen. Weyoun erinnerte sich dunkel daran, dass Omet’iklan sich schützend über ihn geworfen hatte. Durch den Stoff seiner Jacke spürte der Vorta den Herzschlag seines Ersten, also hatte Omet’iklan den Einsturz der Grotte ebenfalls überlebt. Ob und wie schwer der Jem’Hadar verletzt war, vermochte Weyoun von seiner Position aus nicht zu beurteilen, doch offenbar war Omet’iklan bewusstlos, ansonsten wäre er nicht auf seinem Vorta liegen geblieben.
Vorsichtig schob Weyoun den massigen Körper des Jem’Hadar von sich. Zum einen war es anstrengend, sich von Omet’iklans Gewicht zu befreien, zum anderen wollte der Vorta vermeiden, seinen Ersten versehentlich durch eine falsche Bewegung zu verletzen. Weyoun ließ den Jem’Hadar zu Boden gleiten und sank neben ihn. Wie sollte er sich orientieren? Die Dunkelheit, die ihn umgab, wäre selbst für scharfe Augen ein Problem gewesen. Als Vorta war Weyoun angesichts solcher Lichtverhältnisse praktisch blind. Noch immer hörte er nichts als ein entferntes Rauschen. Seine gesamte Hoffnung beruhte darauf, dass Omet’iklan sein Bewusstsein wiedererlangte und sie beide hier herausbrachte.
Eine Hand legte sich auf Weyouns Schulter.
Der Vorta zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Seit er denken konnte, war es keinem anderen je gelungen, sich ihm unbemerkt zu nähern, nicht einmal einem Gründer. Nie zuvor hatte er sich so hilflos gefühlt, so ausgeliefert. Sollte die Hand Dukat gehören, welche Chance hätte er einen Angriff zu überleben? Was sollte Dukat daran hindern, ihn zu töten und später zu behaupten, er wäre beim Einsturz umgekommen?
Weyoun zwang sich, ruhig sitzenzubleiben. Gegen den körperlich überlegenen Cardassianer konnte er sich ohnehin nicht wehren, schon gar nicht in seinem derzeitigen Zustand. Also wartete der Vorta und hoffte, dass es nicht Dukats Hand war, die ihn nun leicht schüttelte.
Winn hatte sich durch die Dunkelheit getastet, bis sie auf eine Gestalt gestoßen war, die sie als Weyoun identifiziert hatte. Sie hatte den Vorta angesprochen und ihn, nachdem er darauf nicht reagiert hatte, berührt.
„Weyoun!“, wiederholte sie lauter.
Wieder erfolgte keine Reaktion. Der Vorta hockte immer noch apathisch auf dem Boden und rührte sich nicht. War sein Gehirn etwa verletzt worden? Die Kai weigerte sich, das zu glauben. Sie brauchte Weyoun. Er war der Feind, doch er verfügte über einen scharfen Verstand, auf den sie in dieser Situation nicht verzichten wollte. Behutsam tasteten die Finger ihrer rechten Hand nach dem linken Ohrläppchen des Vortas. Sie fühlte, wie Weyoun sich unter der sanften Berührung entspannte.
„Propheten helft mir!“, bat Winn stumm. „Lasst mich einen Zugang zu ihm finden!“
Eine Welle der Erleichterung durchflutete Weyoun, als er spürte, wie die Hand den Platz auf seiner Schulter verließ und sein linkes Ohr umschloss. Nicht Dukat, sondern Kai Winn kniete neben ihm. Schon einmal hatte die Kai sein Pagh erforscht. Damals hatte er es als unangenehm empfunden. So als hätte die Bajoranerin in seiner Seele all die Dinge gelesen, die er dort verbarg. Doch hier und jetzt in diesem Moment war Weyoun einfach nur froh und dankbar, dass Kai Winn und nicht Dukat ihn gefunden hatte.
Ein Brennen durchzuckte sein Ohr, begleitet von einem hohen Summen. Es tat nicht weh. Im Gegenteil. Weyoun hatte das Gefühl, mit rasender Geschwindigkeit durch einen Schacht zu gleiten. Wie aus sehr weiter Ferne vernahm er ein leises Klingen. Eine Folge von Tönen, die sich zu einem Wort verdichteten. Einem Namen. Seinem Namen!
„Weyoun!“
„Ich höre Sie!“, brach es aus ihm heraus. „Bitte sagen Sie etwas, egal was!“
Überrascht von diesem unerwarteten Gefühlsausbruch des für gewöhnlich beherrschten Vortas ließ Winn Weyouns Ohr los. „Sind Sie verletzt?“
Ihre Frage hallte in Weyouns linkem Ohr. Das rechte war nach wie vor taub, doch sein linkes Ohr hatte sich wie durch ein Wunder regeneriert. Sein Gehör erreichte zwar nicht annähernd dieselbe Stärke wie vorher, doch er konnte sich verständigen. Für den Moment musste das genügen.
„Nein“, antwortete der Vorta, „ich glaube nicht. Was ist mit Premierminister Shakaar und Gul Dukat?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Was schlagen Sie vor?“
„Zunächst sollten wir versuchen, eine der Plasmafackeln zu finden. Diese Dunkelheit ist“, die Kai zögerte, „belastend.“
„Das ist sie“, stimmte Weyoun zu. „Also, suchen wir und hoffen, dass wir Erfolg haben.“

***

Kälte. Das letzte Mal, dass Shakaar so gefroren hatte, war viele Jahre her. In jenem Winter hatte seine Widerstandsgruppe mehrere Mitglieder an die Kälte verloren. Die Cardassianer hatten sie gejagt, und sie hatten das Risiko nicht eingehen können, Feuer zu entzünden. In dieser Nacht waren viele seiner Freunde und Kampfgefährten erfroren. Shakaar erinnerte sich schmerzlich daran, wie er Nerys in seinen Armen gehalten und mit der Wärme seines Körpers gegen die eisigen Winde und den Schnee geschützt hatte, der leise auf sie hinabgefallen war. Wie jung war sie damals gewesen, wie vertrauensvoll hatte sie sich an ihn geschmiegt. Erst Jahre später hatte er erkannt, wie viel ihm dieses dünne Mädchen mit dem kurzen roten Haar bedeutete. Er hatte Nerys’ Liebe gewonnen, um von den Propheten zu erfahren, dass ihnen keine gemeinsame Zukunft beschert war. Warum hatte er sich nicht geweigert, mit ihr den Schrein von Kendra aufzusuchen? Wieso hatte er nicht auf jene Stimme in seinem Herzen gehört, die ihn gewarnt hatte? Sie hatten sich getrennt, doch Shakaar wusste, dass er Nerys ewig lieben würde. Vielleicht war dies lediglich eine Prüfung, die ihren Gefühlen füreinander von den Propheten auferlegt worden war? Er wagte nicht, daran zu glauben, aber er hoffte es.
Shakaar schob die Erinnerungen beiseite. Dies war nicht der geeignete Moment, um sich mit der Vergangenheit zu befassen. Die unterirdische Ausgrabungsstätte war eingestürzt. Wie hatte das passieren können? Waren die Stützbalken zu schwach gewesen? Diese Frage würde er später klären. Er war am Leben und hatte vor, genau das zu bleiben. Doch bevor er sich Gedanken darüber machen konnte, wie er hier herauskam, musste er feststellen, wer von den Anderen, die mit ihm in der Höhle gewesen waren, den Einsturz überlebt hatte. Genaugenommen gab es keinen Grund, sich um Dukat und Weyoun oder gar den Jem’Hadar zu sorgen. Aber bei der Suche nach Winn, würde er trotzdem versuchen, auch diese drei zu finden. Er war nicht mehr der Widerstandsführer Shakaar, der keinen Gedanken an die Rettung eines Feindes verschwendet hätte. Er hatte sich verändert. Wie sehr, das wurde ihm in diesem Moment bewusst, als er begriff, dass er Dukat, Weyoun und Omet’iklan nicht einfach sterben lassen konnte. Nicht solange es noch Hoffnung gab. Und die ruhte im Augenblick, wie es schien, allein auf seinen Schultern. Es war dunkel, also würde er sich ganz auf seinen Tastsinn verlassen müssen. Mit einem leisen Seufzen machte der Bajoraner sich an die Arbeit.

***

Felsen. Schutt. Sand. Endlich, nach einer Weile, die Winn wie eine Ewigkeit vorkam, spürte sie unter ihren Fingern kühles Metall. Der Form nach handelte es sich tatsächlich um eine Plasmafackel. Die Kai schickte ein stummes Gebet zu den Propheten und betätigte den Schalter, mit dem das Gerät aktiviert wurde. Zunächst geschah nichts. Dann flackerte der Leuchtstab im Innern auf. Einmal, zweimal, schließlich blieb die künstliche Flamme konstant.
„Ausgezeichnet!“ Im Gegensatz zu Winn vermochte Weyoun vom Rest der Höhle auch jetzt nichts zu erkennen. Alles, was er sah, war ein heller Fleck und daneben die schemenhafte Gestalt der Bajoranerin. Doch das genügte dem Vorta. Er war daran gewöhnt, Dinge nur dann klar zu erkennen, wenn sie sich dicht vor ihm befanden und die Lichtverhältnisse einigermaßen waren. Die Kai lediglich im unzureichenden Schein einer Plasmafackel auf eine Distanz von mehr als zehn Metern überhaupt wahrzunehmen, bedeutete für den Vorta bereits einen Sieg. Den zweiten in Folge, ein Grund mehr, um zufrieden zu sein. „Können Sie Premierminister Shakaar oder Gul Dukat sehen?“, fragte er.
Winn hob die Fackel so hoch wie möglich, um die unterirdische Höhle besser auszuleuchten. Sie befanden sich immer noch auf dem ehemaligen Marktplatz von B’hala. Die Decke des Gewölbes war zur Hälfte eingestürzt und hatte den größten Teil der Ruinen unter sich begraben. Winn konnte weder Shakaar noch Gul Dukat entdecken. Dort, wo die beiden zuletzt gestanden hatten, gähnte ein tiefer Krater. Die Kai trat an den Rand und spähte in den Abgrund.
„Shakaar?!“
Ihr Ruf verhallte in unzähligen Echos, ohne dass sie eine Antwort erhielt.
Weyoun trat neben Winn. „Sind sie tot?“
„Wahrscheinlich“, erwiderte die Kai. „Genau weiß ich es ebenso wenig wie Sie. Möglich, dass die Propheten gnädig waren.“
Der Vorta, der angestrengt in die Tiefe starrte, war überzeugt, dass Winns Hoffnungen sich, gleich seinen eigenen, darauf beschränkten, dass ihre Propheten sich lediglich Shakaar gegenüber von ihrer huldreichen Seite gezeigt hatten. Soweit es Gul Dukat betraf, bestand zwischen ihnen ein stilles Einvernehmen, ihm insgeheim den Tod zu wünschen.

***

Mit einem Ruck schlug Gul Dukat die Augen auf. Zuerst wusste er nicht, wer und wo er war, bis ganz allmählich die Erinnerung einsetzte. Er war beim Einsturz der Ausgrabungsstätte B’halas verschüttet und verletzt worden. Später hatte er anscheinend das Bewusstsein verloren. Jemand hatte ihn ausgegraben, und jetzt lag er auf einem flachen Felsen als provisorischem Lager. Seine Wunden waren notdürftig versorgt und die Blutungen gestillt worden.
Dukat bezweifelte, dass Weyoun oder Omet’iklan all das für ihn getan hätten. Also mussten ihm entweder Winn oder Shakaar geholfen haben. Seine, wenn auch nur vorläufige Rettung, einem Bajoraner zu verdanken, behagte dem Cardassianer nicht sonderlich.
„Na, aufgewacht?“, entschied eine dunkle Stimme Dukats Frage, wer ihn unter dem Berg aus Schutt und Geröll hervorgezogen hatte. „Wie fühlen Sie sich?“
Grässlich, dachte der Cardassianer. Die Schmerzen hatten an Intensität weiter zugenommen und näherten sich der Grenze dessen, was sich gerade noch als erträglich bezeichnen ließ. Aber das würde er einem Bajoraner gegenüber niemals offen eingestehen. Schon gar nicht Shakaar. „Blendend“, erwiderte er daher laut. „Wenn dieser Felsen für meinen Geschmack auch eine Kleinigkeit zu hart ist.“
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, sagte Shakaar, „ich versichere Ihnen, es war der mit Abstand bequemste, den ich finden konnte. Nicht nötig, sich dafür zu bedanken ...“
Die Ironie des Bajoraners prallte wirkungslos an Dukat ab. „Der Sauerstoffgehalt der Luft ist gesunken. Wie lange befinden wir uns schon hier?“
„Keine Ahnung. Auf jeden Fall zu lange. Denn leider muss ich Ihnen recht geben, die Luft hier unten verschlechtert sich mit jedem Atemzug. Wenn innerhalb der nächsten Stunden keine Hilfe eintrifft, werden wir elendig ersticken. Doch ich kann Sie beruhigen, Dukat“, ergänzte Shakaar in einem Anflug von Galgenhumor, „mit etwas Glück wird Ihnen das erspart bleiben, weil Sie ohne medizinische Versorgung vermutlich vorher sterben werden.“

***

Weyoun hob den Kopf. „Spüren Sie das?“, fragte er Winn, die neben ihm an Omet’iklans Seite kniete. Sie hatten weder Shakaar noch Gul Dukat gefunden. Sofern die beiden noch am Leben waren, befanden sie sich in einem der Schächte, mit denen B’hala einst unterkellert gewesen war. Da Weyouns Erster noch am Leben war, hatte die Hilfe für ihn Vorrang vor einer weiteren womöglich völlig sinnlosen Suche. Zumindest war das die Meinung des Vortas gewesen, der die Kai sich nach einigem Zögern angeschlossen hatte. Omet’iklan verfügte über mehr Kräfte als sie beide zusammen. Falls es einen Weg gab, den verschütteten Zugang freizulegen, würde der Jem’Hadar sich dabei mehr als nützlich erweisen.
Weyoun hatte vergeblich versucht, sich einzureden, dass dies der einzige Grund war, weshalb er wollte, dass Omet’iklan am Leben blieb. Aber Tatsache war, dass er sich an die ständige Gegenwart seines Ersten gewöhnt hatte. Er schätzte und vertraute Omet’iklan, und umgekehrt war es ebenso. Natürlich spielte es genau genommen keine Rolle, was ein Jem’Hadar von seinem kommandierenden Vorta hielt, solange er ihm nur den geschuldeten Gehorsam entgegenbrachte. Dennoch machte es für Weyoun einen Unterschied, dass Omet’iklan ihm mit einer Loyalität diente, die weit über das übliche Maß hinausreichte.
Die anderen Jem’Hadar aus seiner Einheit mochten ohne Weiteres auswechselbar sein.
Sein Erster war es nicht.
Daher hatte der Vorta mit Erleichterung festgestellt, dass Omet’iklan, zumindest äußerlich, keine schweren Verletzungen aufwies. Ob der Jem’Hadar innere Verletzungen davongetragen hatte, würde sich erst herausstellen, wenn er wieder bei Bewusstsein war. Inzwischen konnten sie damit anfangen, einen Plan zu entwickeln. Und dabei kam dem Vorta der zarte Hauch, der gerade seine Haut gestreift hatte, äußerst recht.
„Spüren Sie das?“, wiederholte er seine Frage.
Winn verneinte.
„Es zieht“, stellte Weyoun fest. „Irgendwo muss eine Öffnung sein, durch die Luft eindringt.“
„Der Zugang zur Ausgrabungsstätte.“
„Oder ein anderer Ausgang. Ganz gleich, wir müssen ihn finden.“
„Das werden wir“, sagte Winn. „Mit der Hilfe der Propheten, deren Gnade uns gerettet hat.“
„Hoffen wir, dass sie auch weiterhin über uns leuchtet“, bemerkte Weyoun, „ich fürchte, wir werden sie dringend benötigen.“
Winns Blick folgte dem des Vortas, der am Hals seines Ersten hängengeblieben war.
Und an den Scherben der Ampulle, die Omet’iklans Ration an Ketracel White enthalten hatte.
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