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Fünfundzwanzig Jahre

von Gabi

Kapitel 1

Es war eiskalt. Über Nacht war die Temperatur um mehr als zehn Grad gefallen und nun überzog ein feines weißes Kleid die Berghänge und Hochwiesen. Um Eiszapfen zu bilden lagen die Temperaturen noch nicht lange genug unter dem Gefrierpunkt. Noch reichte die Bewegung des Wassers aus, um der Erstarrung zu trotzen. Doch in ein paar Tagen würden hier an diesem kleinen Bach, der sich seinen Weg von irgendwo nahe des Gipfels über etliche Stufen zum Fuß des Berges suchte, die Wasserfäden erstarrt sein. Kira Sul freute sich schon darauf. Sie liebte es Eiszapfen zu sammeln. Je klarer das Wasser, aus dem sie entstanden, desto mehr erinnerten sie an edle Kristalle, die ihr Vater ihr einmal in einer Ausstellung gezeigt hatte – mit dem melancholischen Hinweis, dass es ihm leider nicht erlaubt sei, sie zu stehlen.

Die junge Bajoranerin zog den dicken Kragen ihrer Thermojacke enger an ihre Kieferlinie, den geflochtenen Zopf, in welchem dunkles und rotes Haar ein interessantes Muster bildeten, warf sie dabei wieder auf den Rücken zurück. Es war die Woche vor Modranhit, dem bajoranischen Fest zur Wintersonnwende, die Schulen hatten geschlossen und die Jugendlichen viel freie Zeit, um in der Gegend herumzustreifen, während die Eltern zuhause Vorbereitungen für das Festmahl trafen.

„Vielleicht hat es hier morgen Eiszapfen“, sprach der Junge, der sie begleitete, ihre Gedanken aus. Auch wenn Shakaar Yukim zur Hälfte cardassianische Gene besaß, hatte ihn das Leben auf Bajor an die Kälte gewöhnen lassen. Anders als seine Mutter, die sich in dieser Jahreszeit am liebsten mit einer dicken Decke vor dem heimischen Kamin aufhielt, machte ihm der Winter nicht mehr aus als jedem durchschnittlichen Bajoraner.

Sul nickte. Sie warf einen knappen Seitenblick auf den blonden Jungen mit den für Bajor so ungewöhnlichen Zügen. Unter strohblondem Haar, das ihm in langen Strähnen verwegen in die Stirn fiel, waren die knorpeligen Verhärtungen unverkennbar, welche für die cardassianische Spezies so typisch waren. Zwar waren sie bei Yukim weit weniger ausgeprägt als bei einem reinrassigen Cardassianer, auch seine Hautfarbe entsprach mehr dem rosigen Ton seines Vaters als dem beigen Grau seiner Mutter, doch nicht einmal bei flüchtigem Hinsehen wäre er als Bajoraner durchgegangen. Sul kannte es nicht anders. Sie war mit den Shakaar-Kindern aufgewachsen und für sie war deren Aussehen so normal wie das rein bajoranische ihres eigenen Bruders. Doch wann immer sie in einen neuen Klassenverband wechselten, ging ein gewisses Spießrutenlaufen von vorne los. Yukim tat cool, ließ sich äußerlich nichts anmerken und machte immer einen auf mädchenverstehenden Supertypen. Doch Sul wusste, dass es tief in ihm anders aussah. Mit Yukim und seinen Geschwistern wollten deren Eltern ein Zeichen setzen. Ein Zeichen einer guten Absicht, mit deren Auswirkung jedoch die Kinder nun zu leben hatten.

Sul und Yukim waren beide fünfzehn Jahre alt und gingen in dieselbe Klasse. Kira Nerys und Bareil Antos, Suls Eltern, hatten kurz nach der Geburt ihres Bruders entschieden, dass zumindest der nicht stationsgebundene Teil der Familie auf Bajor sesshaft werden sollte. Und auch wenn Sul auf diese Weise ihre Mutter nicht so oft sah, wie ihr das lieb gewesen wäre, war sie froh um diese Entscheidung. Es ermöglichte ihr ein Leben in der Natur und vor allem unter gleichaltrigen Kindern. Kiras Freund Shakaar Edon und dessen cardassianische Frau Serina, in deren Nähe sie sich ein Haus gekauft hatten, waren über die Jahre zu einer Art erweiterten Familie geworden. Besonders zu Yukim, der nur ein paar Monate jünger als sie selbst war, war mit der Zeit ein vertrautes Band entstanden, welches Yukims Vater mit Wohlwollen und Suls Vater mit Misstrauen betrachtete.

„Sollen wir noch höher aufsteigen?“ Yukim wies mit der behandschuhten Hand den Hang hinauf, wo ein schmaler Pfad sich eine Felsflanke entlang schlängelte. Sie waren bereits weiter geklettert als sie das jemals zuvor getan hatten, weiter als ihre Eltern ihnen erlaubt hatten. Sein Ton enthielt ein unausgesprochenes wenn du es dich getraust, dem Sul natürlich überhaupt nicht widerstehen konnte. Das Temperament ihrer Mutter war bei ihr gänzlich ausgeprägt und auch nur der leiseste Vorwurf, sie könne sich etwas nicht getrauen, war für sie aller Ansporn, den sie benötigte.

„Wenn du glaubst, dass du das schaffst?“, neckte sie den Jungen.

„Pah!“ Yukim packte den kleinen Proviantrucksack, den er neben dem Bachlauf abgestellt hatte, schulterte ihn und machte sich erhobenen Haupts an den Aufstieg. Sul folgte ihm grinsend. Das Eine hatte sie mit ihren fünfzehn Jahren schon gelernt: Männer waren extrem leicht zu beeinflussen, wenn man die richtigen Druckpunkte kannte.

Der Aufstieg erfolgte in relativer Stille. Es war wichtig, sich genau darauf zu konzentrieren, wohin man die Füße setzte. Ein Fehltritt konnte fatale Folgen haben. Der Fels fiel hier nahezu senkrecht in die Tiefe und die leichte Schneedecke machte ihren Weg natürlich noch zusätzlich glitschig. Wenn ihre Eltern wüssten, dass sie sich so weit hinaufwagten, würde ihnen eine heftige Standpauke blühen. Sie wollten nur noch ein wenig höher aufsteigen, um zu sehen, ob sich dort oben eventuell bereits Eiszapfen gebildet hatten, und dann wieder umkehren und zuhause natürlich so tun, als ob sie sich lediglich innerhalb der Grenzen bewegt hatten, welche von ihren Eltern als unbedenklich eingestuft worden waren. Am Fuß des Misthraal-Gebirges stand den Kindern ein nahezu endloser Spielplatz mit Wiesen, Bächen, Wäldern und Bergen zur Verfügung. Nur in die höheren Bereiche, wo die Bäume nur noch als windtrotzende knorrige Gebilde wuchsen, sollten sie nicht ohne Begleitung gehen.

Hier oben hatte sich im Lauf des letzten Jahres die Natur verändert. Eine Weile östlich ihrer beider Häuser war eine Industrie-Anlage entstanden, deren Geräusche vom Wind begünstigt die empfindlichen Rotha’heks soweit gestört hatten, dass die Herden aus den hiesigen Bergen des Misthraal weggezogen waren. Sul vermisste den Anblick der grazilen Paarhufer, welche mit ihren langen Hälsen für sie als Silhouetten eine Kindheitserinnerung an die Berge war.

Yukims Vater hatte versucht ihnen zu erklären, warum es notwendig gewesen war, die Anlage hier errichten zu lassen, und dass ein paar Tiere nicht dem Fortschritt Bajors im Weg stehen durften. Doch sie hatten in seinem Ton gehört, dass er nicht ganz an seine Worte glaubte. Auch er war hin und hergerissen zwischen dem, was er als notwendig für Bajor als Gesellschaft erachtete und der Naturverbundenheit, die ihn seit seiner Kindheit definierte und die ihn nach Jahren in der Hauptstadt wieder hatte in diese einsame Gegend zurückziehen lassen.

Ein Teil von Suls Wunsch, gegen die Anordnung ihrer Eltern weiter hier hinauf zu steigen, war die leise Hoffnung, dort oben noch einmal einen Rotha’hek zu sehen. Das und natürlich die glitzernden Eiszapfen.

Mit ihrem linken Handschuh hielt sie stets Kontakt mit der Felswand, während sie etwa eine Länge Abstand zu dem vor ihr gehenden Yukim hielt. Das war ihnen so beigebracht worden, um zu verhindern sich gegenseitig bei eventuellen Stürzen in die Tiefe zu reißen. Während sie den wippenden Rucksack auf der dicken, schlammgrünen Thermojacke betrachtete, fragte sie sich, warum es wieder einmal so war, dass Yukim die Führung übernommen hatte. In jüngeren Jahren, als sie sich fast permanent in den Haaren gelegen hatten, war eindeutig sie der Boss gewesen. Yukim hatte das nie wahrhaben wollen, doch Sul hatte es immer gewusst. Irgendwann in den letzten Monaten war dieses Verhältnis umgekippt. Yukims Verhalten ihr gegenüber hatte sich subtil verändert. Vom raufenden Kumpel hatte er sich in Richtung des mannhaften Beschützers entwickelt. Eine Rolle, die Sul lächerlich fand, war es doch oft genug sie, welche für Yukim in der Schule in die Bresche sprang und sich mit anderen prügelte, wenn diese unangebrachte Kommentare über Yukims Aussehen von sich gaben. Sie hoffte, dass es nur eine vorübergehende Phase war, die Yukim auf dem Weg ins Mannesalter durchmachen musste. Sie wollte ihn als besten Freund haben, für alles andere sollte er sich bitteschön an die weniger schlagkräftigen Mädchen in ihrer Klasse halten, die ihm ohnehin immer wieder schöne Augen machten.

Dieser Gedankengang brach jäh ab, als sie gegen den Rücken des Objekts ihrer Überlegungen prallte. Kurz schwankte sie, bekam sich jedoch gleich wieder ins Gleichgewicht und fluchte leise, dass sie ihre Aufmerksamkeit hatte abschweifen lassen, was in den Bergen tödlich sein konnte. Ihre Mutter wäre nicht begeistert darüber gewesen.

„Schau dir mal das an!“, rief Yukim aus, der nicht einmal bemerkt zu haben schien, was sein plötzliches Anhalten ausgelöst hatte.

„Wenn Du Platz machen würdest, könnte ich vielleicht sogar erkennen, von was du sprichst!“, maulte Sul, mehr um ihre eigene Unaufmerksamkeit zu verbergen, denn aus Ärger über den Jungen.

„Oh … klar.“ Yukim tat ein paar Schritte weiter und trat dann zur Seite. Auf der talwärtigen Seite des schmalen Pfads begannen sich nun wieder Felsen aufzutürmen, so dass die Absturzgefahr erheblich gemindert war. Die Gesteinsnasen bildeten eine Art natürlichen Durchgang, hinter welchem sich der Weg in ein Plateau erweiterte. Zwei Nadelbäume hatten es in dieser geschützten Nische zu einiger Größe gebracht, ihr Wuchs mutete jedoch bizarr und ein wenig verwunschen an, wie Sul fand – was sie gegenüber Yukim aber natürlich nie laut äußern würde. Die stellenweise parallel zum Boden verlaufenden borkigen Stämme schrien geradezu danach, erklettert zu werden.

„Wer zuerst oben ist!“, rief Yukim, jeder Anflug von Ritterlichkeit vergessen.

„Du kannst durch meinen Schneestaub waten“, konterte Sul und hetzte los. Dieses geschützte Plateau schrie förmlich danach zu ihrem neuen Geheimversteck zu werden. Sie mussten nur vermeiden ihren Eltern versehentlich davon zu erzählen.

Als sie eifrig hinaufkletterten als hätten sie nie etwas anders getan und sich gegenseitig schubsten und mit dem frisch gefallenem Schnee bewarfen, bemerkten sie, dass sich hinter dem dichten Nadelwerk das Plateau zu einer Höhle formte .

Yukim hielt im Ärgern inne. „Das wird unsere Geheimbasis. Da finden uns die Plagen nie!“ Mit Plagen waren alle ihre Geschwister gemeint, welche jünger als sie selbst waren. Ganz gleich, welche Rückzugsorte sich Sul und Yukim bisher eingerichtet hatten, stets hatte es nicht lange gedauert, bis einer der Kleineren sie dort aufgestöbert hatte und ihnen auf die Nerven ging.

„Yup, das finde ich …“

„Runter vom Baum!“ Die Stimme, herrisch und vollkommen unerwartet, führte dazu, dass Yukim den Tritt verlor und drohte vom Baumstamm abzurutschen. Sul konnte ihn gerade noch an der Schulter packen, bevor der Junge stürzte.

Verwundert und ein wenig erschrocken wandten sich die beiden Jugendlichen in die Richtung um, aus welcher die Stimme erklungen war. Die Worte waren nicht Bajoranisch gewesen, und dennoch hatten beide sie verstanden. Etwa fünf Meter unter ihnen mit völlig freier Sicht auf sie, stand ein heruntergekommen aussehender Cardassianer in gebeugter Haltung und zielte mit einem Disruptor auf sie. Der Mann war alt, das einst blauschwarze Haar mit weißen Strähnen durchsetzt, die Augen glänzten in einer gefährlichen Mischung aus Hass, Verzweiflung und beginnender Verwirrung.

Beide Kinder begriffen instinktiv, dass altkluge Sprüche oder irgendwelche hastigen Bewegungen gänzlich fehl am Platze waren. Diese hier so unpassende Erscheinung war eindeutig bereit zu schießen.

„Wir sind unbewaffnet“, wagte Sul schließlich etwas zu sagen. Ihre Stimme kam als Krächzen heraus, was sie ärgerte.

„Gut für mich, schlecht für euch.“ Der Cardassianer fuchtelte mit der Waffe, so dass beide befürchteten, sie könne jeden Moment losgehen. „Runter da, sofort! Ich will euch deutlich sehen.“

Die beiden taten wie ihnen geheißen, darauf bedacht, langsame Bewegungen zu machen und immer gut im Blickfeld des Fremden zu bleiben. Als sie wieder das Plateau erreicht hatten, trat Yukim einen Schritt nach vorne zwischen Sul und die auf sie gerichtete Waffe. Dieser Anfall von Heldenmut löste sowohl bei dem Mädchen als auch bei dem Fremden ein Augenrollen aus. Der Mann hielt den Disruptor immer noch unmissverständlich auf sie gerichtet, während seine Augen die Erscheinung der Kinder und vor allem deren Rucksäcke maßen.

Seine Augen verengten sich, als er Yukims Gesichtszüge studierte. „Du bist ein Bastard!“

„Und du ein …“ Ein harter Stoß in seinen Rücken veranlasste Yukim dazu den Kommentar hinunterzuschlucken.

Augenblicklich zuckte der Disruptor. Mit einem kleinen Aufschrei warfen sich die beiden Jugendlichen zur Seite. Doch der Cardassianer hatte nicht geschossen. Seine Augen flackerten nervös und alarmiert. „Wenn noch einer von euch eine Bewegung macht, werdet ihr bereuen, jemals dieses Plateau betreten zu haben.“

„Das bereue ich jetzt schon“, murmelte Sul, jedoch so leise, dass nur der neben ihr stehende Yukim sie hören konnte. Beide hoben ihre Hände wieder an und stellten sich so, dass der Fremde genau erkennen konnte, dass sie nichts im Schilde führten.

Die unsympathische Waffe fuchtelte abermals vor ihren Gesichtern herum. „Und jetzt bewegt euch langsam zu der Höhle dahinten … und nehmt die Rucksäcke mit!“

Sul wandte sich um, doch Yukim zögerte einen Moment, hier auf dem freien Plateau schätzte er ihre Chancen besser ein als in einer engen Höhle. Das Zögern brachte ihm jedoch einen unsanften Schlag mit der Seite des Disruptors ein. Tränen schossen ihm in die Augen und seine linke Schläfe brannte empfindlich, doch immerhin schien der Cardassianer wenigstens einen gewissen Skrupel davor zu besitzen, von der Schusswaffe in ihrem eigentlichen Sinn Gebrauch zu machen.

„Du tust, was ich dir sage, Bastard! Ich brauch keinen von euch beiden.“

Das „Dann lassen Sie uns doch gehen“, schluckte der Junge wohlweislich hinunter.

„Mach keinen Mist, Yuki“, zischte Sul. Sie glaubte einen gewissen Realitätsverlust in den Augen des alten Cardassianers zu erkennen. Sie hatte Angst, zu was so eine Person fähig war, wenn sie sich paranoid bedroht fühlte. Und auf der anderen Seite wusste sie auch, wozu Yukim in seiner unbedachten, aufbrausenden Art fähig war, vor allem dann, wenn er sich in seiner Herkunft beleidigt fühlte. Sie musste unbedingt verhindern, dass ihrem Freund etwas geschah, nur weil er sein Temperament nicht im Zaum halten konnte. So unauffällig wie möglich tastete sie hinter sich nach seiner Hand. Als sie diese erspürte, fasste sie fest zu. Der Druck wurde sofort erwidert. Sie konnte deutlich spüren, dass er Angst hatte.

„An die Wand!“

Die Höhle war nicht viel mehr als eine etwa fünf Meter tiefe Einbuchtung in der Felswand. Das leicht überhängende obere Gestein bildete ein natürliches Dach, welches vor Schnee- und Regenfällen schützte, solange diese nicht schräg vom Wind hinein gepeitscht wurden. Als sich die Augen der Jugendlichen an die schneefreie Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten sie erkennen, dass sich in der kleinen Kammer alles Mögliche an Gegenständen türmte. Ein Stapel abgezogener Rotha’hek-Felle an der einen Wand bildete eine Lagerstatt.

„Sie leben hier?“, rutschte es Sul voller Verwunderung heraus.

„An die Wand!“, herrschte der Cardassianer sie abermals an.

Sie taten rasch wie ihnen geheißen, als der Disruptor wieder zu zucken begann.

Ohne den Blick von seinen Gefangenen zu nehmen, wühlte er hinter sich in einem der Stapel herum. Nach einer Weile zog er die Hand wieder nach vorne. Ein grobes Seil ruhte darin.

Yukims Augen weiteten sich. „Wir dürfen uns nicht fesseln lassen“, zischte er Sul zu.

„Halt den Mund!“ Der Disruptor traf ein weiteres Mal gegen die Stirn des Jungen. Yukim sog geräuschvoll die Luft ein, als sein Hinterkopf gegen die Wand schlug.

Diesen Moment der schmerzhaften Orientierungslosigkeit nutzte der Cardassianer, indem er damit begann, das Seil um Yukims Oberkörper zu schlingen.

Sul, die Yukims Einschätzung zustimmte, dass sie eine Möglichkeit auf Flucht verspielten, wenn sie erst verschnürt hier saßen, sah ihre Chance gekommen, als sich ihr Peiniger auf Yukim konzentrierte. Mit einer raschen Bewegung griff sie herum, um den Cardassianer zu entwaffnen. Doch sie war nicht schnell genug. Obwohl der Mann gebrechlich wirkte, waren seine Sinne noch scharf. In einer hektischen Reaktion riss er den Waffenarm hoch, traf Sul am Hals und ließ sie mit einem spitzen Aufschrei auf den Boden sacken. Laut fluchend setzte er sein Werk fort, bis die beiden Jugendlichen Rücken an Rücken verschnürt an der Wand saßen.

„Ich hätte euch nervigen Plagen gleich vom Plateau stoßen sollen“, knurrte er. Jetzt endlich legte er den Disruptor beiseite und widmete sich mit beiden Händen den Rucksäcken. Ersatzkleidung, medizinische Notfalltasche und Kletterhilfen warf er achtlos beiseite. Dann entfuhr seiner Kehle ein gieriges Glucksen. Seine Hand kam mit dem Proviant wieder hervor. Gierig riss er das verpackte Essen auf und stopfte sich das halbe Sandwich in den Mund. Seine Augen rollten in den Höhlen, als er sich gegen einen der unordentlichen Stapel lehnte und genießerisch kaute. Die zweite Hälfte folgte der ersten augenblicklich, und die Pause zwischen Sandwich und der dicken, reifen Moba-Frucht war kaum als solche zu bezeichnen.

Sul bewegte ganz vorsichtig den Kopf, um den Schmerz im Hals nicht noch einmal auszulösen und um festzustellen, ob alle Knochen und Knorpel noch an den Plätzen waren, an welchen sie die Anatomie vorgesehen hatte. Das würde einen steifen Nacken geben. Wobei sie sich momentan geradezu eine Zeit mit steifem Nacken herbeiwünschte, denn das hieße, dass sie diesen Horror hier überleben würde.

„Guten Appetit“, merkte sie vorsichtig an. „Es müsste noch ein weiteres Broklia-Sandwich drin sein.“

Der Cardassianer funkelte sie an, erwiderte jedoch nichts, als er noch tiefer in den Eingeweiden des Rucksacks wühlte. Seine Lippen schmatzten zufrieden als er das zweite eingewickelte Essenspaket entdeckte.

„Ich glaube, der hat Hunger“, stellte Yukim überflüssigerweise fest. Er hatte seinen Kopf nach hinten auf Suls Schulter gelegt, so dass er dicht an ihrem Ohr flüstern konnte.

„Ob ich Hunger hab oder nicht, geht euch einen Dreck an!“ … offensichtlich jedoch nicht leise genug.

Die beiden Jugendlichen zogen vorsorglich die Köpfe ein, doch der Cardassianer machte keine Anstalten sich zu erheben und zu ihnen hinüber zu gehen. Die Mahlzeit schien alles zu sein, für das er sich im Augenblick interessierte. Die belegten Brotfladen, über welche sich Sul und Yukim nicht einmal mehr irgendwelche Gedanken machten, weil sie sie so oft im Hause Shakaar vorgesetzt bekamen, schienen dem Cardassianer ein Luxusmahl zu sein.

Es dämmerte Sul, dass der Mann sich nicht erst vor Kurzem hier oben in den Bergen eingerichtet hatte. Aber wie kam es, dass ein Cardassianer sich in der Bergregion Dahkurs herumtrieb?

„Ist da auch noch was drin?“ Der alte Mann leckte jeden Finger einzeln ab, um keinen Krümel verkommen zu lassen, dann griff er nach dem zweiten Rucksack.

Yukim nickte. Auch ihm war aufgefallen, dass ihr Peiniger mit der Aussicht auf die Sandwiches um einiges umgänglicher wirkte. „Ja, das Gleiche.“

Während der Cardassianer die gleiche Prozedur wie beim ersten Rucksack hinter sich brachte, stupste Sul Yukim mit dem Ellbogen an. Sie traute sich nicht zu sprechen, da die Ohren ihres Wärters offensichtlich recht gut waren. Sie versuchte den Jungen darauf aufmerksam zu machen, dass die Seilumwickelung an ihrer linken und seiner rechten Seite einen lockeren Bereich aufwies. Schließlich spürte sie das Nicken von Yukims Kopf an ihrer Schulter.

„Wie kommt es, dass Bajoraner-Pack wie ihr solche meisterlich zubereiteten Broklias mit sich rumschleppt? Habt ihr ein Vorratslager ausgeraubt?“

Yukim richtete sich ein wenig auf, um empört zu wirken und gleichzeitig Sul die Möglichkeit zu geben, besser unbemerkt an der weiteren Lockerung des Seils zu arbeiten. „Die hat meine Mutter gemacht!“

„Ach?!“ Der alte Mann biss genüsslich in das dritte Sandwich. „Und wie kommt’s, dass eine Bajoranerin das Rezept kennt?“

„Sie ist Cardassianerin.“

„Lüg nicht, du Bastard!“, fuhr der Mann auf, was Yukim zum Zusammenzucken veranlasste. Er konnte sich nicht erklären, was er nun wieder Falsches gesagt haben sollte. Er spürte, wie Sul in ihren Bewegungen innehielt, falls ihr Peiniger nun doch herüberkommen würde. Doch der Mann blieb mit seinem Sandwich sitzen und begnügte sich damit verächtlich zu schnauben. „Keine Cardassianerin würde sich mit einem von euch einlassen. Unsere Frauen haben Stil.“

„Was soll das denn heißen?“, ereiferte sich Yukim. Auch wenn er und sein Vater sich wegen ihrer ähnlich gelagerten Sturheit regelmäßig in den Haaren lagen, war er doch ziemlich stolz auf ihn.

„Du bist ein Bastard, wahrscheinlich von einem der armen Dinger aus den Lagern, und jetzt fantasierst du dir etwas zusammen, damit dein Leben nicht ganz so trostlos erscheint“, schlussfolgerte der Cardassianer mit einer Logik, die beiden Jugendlichen unergründlich war.

„Sie ticken ja wohl nicht richtig!“, konnte Yukim sich nicht beherrschen. „Mein Vater ist einer der angesehensten Männer von Bajor. Und er liebt meine Mutter über alles!“

Der alte Mann winkte ab, offensichtlich schenkte er Yukim keinen Glauben. „Soll mir recht sein, solange ich in Ruhe diese Köstlichkeiten verspeisen kann.“ Das letzte Sandwich wickelte er mit weniger Hast aus als die vorherigen, sein erster Heißhunger schien gestillt zu sein.

Sul hatte den Austausch zwischen den beiden anderen genutzt, um unbemerkt das Seil so weit zu lockern, dass sie imstande war, den sich an der Wand befindlichen Arm aus den Fesseln herauszuziehen. Sie schätzte den Abstand, den sie von dem abgelegten Disruptor hatte, passte einen Moment ab, in welchem der Cardassianer seine Augen auf das Essen gerichtet hatte, hoffte, dass Yukim sich nicht versteifen würde, und warf sich dann mit aller Kraft in Richtung der Waffe. Ihre immer noch am Bauch zusammengeschnürten Körper fielen unelegant zur Seite, doch ihre ausgestreckte Hand konnte den Disruptor fassen. Entschlossen richtete sie ihn auf den Cardassianer. Auch wenn sie beide noch halb verschnürt am Boden lagen, war das Schussfeld frei.

Der alte Mann zuckte bei der plötzlichen Bewegung zusammen, ansonsten wirkte er jedoch ungewöhnlich unbeeindruckt.

„Das Ding funktioniert schon seit Jahren nicht mehr, sonst hätte ich euch da draußen längst aus dem Weg geräumt.“

„Sie lügen!“ Sul schielte an ihrem Arm entlang zu der Waffe. Sie kannte sich nicht mit cardassianischer Waffentechnik aus. Ob man einem Disruptor ansehen konnte, ob er funktionierte oder nicht, wusste sie nicht. „Sie wollen uns reinlegen. Los, Yuki, versuch die Fesseln los zu bekommen.“

Der Junge tat wie geheißen, wobei er versuchte seine Bewegungen so vorsichtig wie möglich zu halten, um Sul nicht beim Zielen zu beeinträchtigen.

„Dann schieß doch“, bemerkte der alte Mann, bevor er erneut ins Sandwich biss.

„Wenn Sie glauben, ich würde mich das nicht getrauen, dann haben Sie sich getäuscht.“ Sul zog die Waffe ein wenig nach links neben die Gestalt des Cardassianers und drückte ab.

Nichts geschah.

Sie versuchte es erneut. Abermals erfolgte keine Reaktion.

„Ich hab es doch gesagt, das Ding ist sinnlos. Hier in den Bergen gibt’s keine Energiezellen und die paar bajoranischen Farmen da unten haben auch keine in ihren Schuppen. Ich habe den Disruptor nur noch aus nostalgischen Gründen bei mir.“

Yukim hatte es mittlerweile geschafft, sich aus den Fesseln zu befreien. Er sprang auf und packte Suls Arm, um sie ebenfalls auf die Füße zu ziehen. „Los komm! Lass uns abhauen. Wir sind schneller als der und …“

„Nein, warte.“ Sul legte Yukim die Hand auf den Oberarm, um ihn daran zu hindern, sich aus der Höhle zurückzuziehen. Sie blieb sicherheitshalber mit einer Länge Abstand von dem am Boden sitzenden Cardassianer stehen, die nutzlose Waffe immer noch in der Hand. Im Licht der veränderten Situation wirkte der alte Mann gar nicht mehr bedrohlich, eher ein wenig mitleiderregend. „Sie haben von Lagern gesprochen …“, sagte sie vorsichtig. Eine Ahnung begann sich in der jungen Bajoranerin zu formen.

Der Mann musterte sie, offensichtlich zu dem Schluss kommend, dass die beiden keine Gefahr für ihn darstellten. „Seid ihr aus einem geflohen?“

„Was für Lager?“ Yukim blickte verwirrt zwischen dem Cardassianer und Sul hin und her.

Der Cardassianer runzelte die Stirn. Seine Augen verengten sich. „Wo kommt ihr her?“

„Wir …“, setzte Sul an, doch Yukim unterbrach sie schroff. „Es geht ihn nichts an.“

„Doch …“, das Mädchen ließ sich auf ein Knie hinunter. Den Disruptor legte sie auf dem Boden ab und gab ihm einen kleinen Stoß, „… doch, ich denke, dass es wichtig ist.“ Sie blickte den fremden Mann an, dessen Augen sich nun ein wenig weiteten, so als begänne ihm etwas zu dämmern, das er noch nicht begreifen konnte. „Mein Name ist Kira Sul, ich lebe mit meiner Familie am Fuß dieser Berge und meine Mutter kommandiert … die Raumstation über Bajor.“

Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille in der Höhle. Das junge bajoranische Mädchen und der alte Cardassianer starrten einander an. Dann schüttelte der Mann den Kopf wie um eine plötzliche Benommenheit anzukämpfen. „Du redest Unfug!“ Doch seine Stimme besaß nicht mehr den überzeugten Klang wie noch zuvor.

„Seit wann leben Sie hier in den Bergen?“, stellte Sul schließlich die Frage, auf die alles hinauslief.

„Keine Ahnung ...“ Der Cardassianer richtete sich endlich auf. Die beiden Jugendlichen wichen instinktiv zurück, doch er schien nichts von ihnen zu wollen. Der Rest des letzten Broklia-Sandwichs ruhte vergessen in seiner Hand. Der Mann blickte in Richtung des Höhleneingangs doch sein inneres Auge schien in die Vergangenheit zu reisen. Mit einem Mal wirkte er einfach nur alt und verloren. Sul spürte, wie die Angst, die sie bisher vor ihm verspürt hatte, einem melancholischen Mitleid Platz machte. Ein Blick auf Yukim verriet ihr, dass es dem Jungen ähnlich ging. Der wandte ihr das Gesicht zu, so als erwarte er von seiner Freundin eine Klärung dieser skurrilen Situation.

„Ein paar Jahre dürften es schon sein ...“, sprach der alte Mann schließlich weiter.

Sul richtete sich ebenfalls aus ihrer halbgehockten Position auf. Sie trat ein wenig näher an Yukim heran. „Gul Dukat war da noch Präfekt der Raumstation, oder?“, bemerkte sie vorsichtig.

„Ist er das nicht mehr?“

„Der alte Irre war mal Gul?“

Sul warf Yukim einen warnenden Blick zu. „Passt du im Geschichtsunterricht eigentlich nie auf?“, zischte sie ihm zu.

Yukim zuckte mit den Schultern. „Das Thema Besatzung ist mir unangenehm ...“

„Von was sprecht ihr Kinder?“, wollte der Cardassianer wissen. Eine Spur der alten Ungeduld war in seinen Ton zurückgekehrt.

„Die Cardassianer haben sich von Bajor zurückgezogen ...“

„Seit wann?!“ Der alte Mann wankte ein wenig zurück, bis er sich an den Stapel lehnen konnte.

„Seit ...“, Sul zögerte einen Moment, in welchem sie im Kopf die Jahre vor ihrer Geburt hinzu rechnete, „... etwas weniger als fünfundzwanzig Jahren.“

Der Cardassianer starrte sie an, kraftlos setzte er sich auf welche Unkenntlichkeit auch immer gerade hinter ihm war. Seine Züge fielen sichtlich in sich zusammen. „Das ist nicht wahr!“ Doch der leise Ausspruch war weniger ein Anzweifeln des Wahrheitsgehalts von Suls Aussage, als vielmehr ein Ausdruck der Ungläubigkeit.

Ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen verkündete eine letzte Hoffnung auf eine Negierung der sich anbahnenden Wahrheit. „Und wie kommt es dann, dass ihr Cardassianisch sprecht, wenn mein Volk angeblich lang vor eurer Geburt nicht mehr hier war?“

Yukim rollte leicht genervt mit den Augen. Wegen ihm könnten sie diesen Spinner jetzt hier weiter versauern lassen und sich auf den Rückweg begeben. Es dämmerte draußen bereits und mit jeder Minute, die sie später kamen, wuchs die Gefahr auf Ärger zuhause. „Weil meine Mutter Cardassianerin ist ... wie ich das schon zu Anfang dieses Witzes hier“, er machte eine höhlenumfassende Handbewegung, „erklärt habe.“

„Ich ...“ Der alte Mann verstummte. Er fuhr sich mit den Fingern durch das schlecht geschnittene weißgesträhnte Haar. Von der bedrohlichen Haltung, mit denen er den Jugendlichen anfangs begegnet war, war nicht mehr viel übriggeblieben. In den letzten Minuten ihres Gesprächs schien er um Jahre gealtert. Sul vermutete, dass es fünfundzwanzig waren.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

Sul stieß Yukim den Ellbogen freundschaftlich in die Seite, um ihn aufzufordern ihrem Beispiel zu folgen. Dann trat sie die Schritte vor, die sie bisher noch von dem Cardassianer getrennt hatten. Sie setzte sich vor ihn und zog ihren Freund am Arm zu sich hinunter. Yukim schenkte ihr einen zweifelnden Blick, tat es ihr jedoch gleich.

„Wie wäre es, wenn Sie uns von Anfang an erzählen, was Sie in die Berge verschlagen hat – und vor allem, warum wir Ihnen noch nie begegnet sind?“

Der alte Mann schwieg. Er betrachtete die beiden Jugendlichen, die lange nach seiner Zeit geboren worden waren – lange nach seiner Realität. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf. „Vielleicht ist es tatsächlich gut einmal zu reden – und wenn es nur vor ein paar bajoranischen Plagen ist.“

„Na vielen Dank für Ihre Einschätzung“, knurrte Yukim. Doch Sul brachte ihn mit einem weiteren Rippenstoß zum Schweigen.

„Ich ...“, er bedachte die beiden noch mit einem letzten Blick, dann senkte er die Augen auf den Boden. „... bin desertiert. Wird sich für euch nicht so dramatisch anhören, ihr habt nichts von der disziplinierten Seite des cardassianischen Militärs mitbekommen.“ Dem zu Boden gerichteten Blick folgte nun auch die Hand des alten Mannes. Sein Finger strich in fahrigen Kreisen über den Felsboden. „Ich … ich konnte diese Willkür nicht mehr ertragen, die in den Lagern herrschte … ja lacht nur! Es gab auch bei uns welche, die anderer Meinung als die Regierung waren …“

„Wir lachen nicht“, warf Sul leise ein.

Der alte Mann blickte rasch auf, dann fixierte er wieder den Boden.

„Sich den Anweisungen zu widersetzen ging nicht, Anträge um Versetzung dauerten Monate, bis sie bearbeitet waren, und dann war nicht sicher, ob ihnen überhaupt stattgegeben wurde. Ich hab’s eines Nachts nicht mehr ausgehalten, als die anderen mal wieder so ein junges Ding in der Mangel hatten. … Ich … Ich bin in die Berge abgehauen. So hoch rauf wie möglich, um den Terroristenbanden und meinen eigenen Leuten zu entgehen.“ Er zögerte kurz, dann setzte er wie zu einer Art verdrehter Ehrrettung hinzu: „Ich halte von dem Bajoranerpack nicht viel, aber so eine Behandlung gehört sich auch bei Nutzvieh nicht.“

Yukim wollte wieder auffahren, doch Sul legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte ihn hinunter.

„Und in all den Jahren haben Sie nie mitbekommen, dass es keine Cardassianer mehr auf Bajor gibt?“, fragte sie ungläubig.

Der alte Mann zuckte mit den Schultern, dann schüttelte er den Kopf. „Wenn ich ins Tal abgestiegen bin, um mir was von den Farmen zu holen, dann war das nur nachts und nur rasch ein bisschen. Hier gab’s immer Farmen, fern von den Arbeitslagern. Woher sollte ich den Unterschied bemerken? Wenn ich nichts brauchte, war ich immer da oben.“ Er deutete mit der Hand, die eben noch Kreise auf dem Boden gezogen hatte, zur Decke. Den Jugendlichen war klar, dass er die Gipfelbereiche des Misthraal-Gebirges meinte. „Diese langhalsigen Viecher, die hier lebten, haben mir überleben geholfen. Fast alles an ihnen war verwertbar. Doch sie wurden immer weniger und jetzt sind sie ganz verschwunden. Der Hunger hat mich runter getrieben, sonst wärt ihr mir nie begegnet.“

„Das, oder der Wille der Propheten“, bemerkte Sul ernst. „Es ist Zeit, dass Sie wieder unter Leute kommen, Zeit, dass auch Ihre Wunden anfangen können zu heilen.“

„Jetzt hörst du dich schon an wie Kat“, murmelte Yukim belustigt, während der Cardassianer aufbrauste: „Komm mir nicht mit diesem Propheten-Mist. Eure Leichtgläubigkeit hat euch doch erst in diese Situation gebracht.“

Abermals musste Sul Yukim zurückhalten. Dabei fragte sie sich, warum sie selbst nicht aufgebrachter reagierte. Es musste daran liegen, dass sie spürte, dass der Cardassianer all die Beleidigungen nur verwendete, um sie fortzutreiben. Er wollte, dass sie wieder gingen, er wollte, dass sie ihn in Ruhe ließen, er wollte sein pagh nicht retten lassen. Und genau das spornte die junge Bajoranerin an, es mit aller Kraft zu versuchen.

„Die Propheten existieren, sie haben sich uns gezeigt und leiten unser Geschick“, beharrte sie. „Auch das können Sie natürlich nicht wissen, weil es erst nach der Befreiung Bajors geschehen ist.“ Sie verengte ihre großen, dunklen Augen ein wenig. „Sie haben uns sogar aufgetragen, uns mit Ihrem Volk zu verbrüdern, was vielen von uns kein bisschen gefällt, das können Sie mir glauben.“

Der Mann ließ ein trockenes Lachen vernehmen. „Ja, klar doch! Ihr seid die gleichen Spinner geblieben, die ihr immer wart.“

„Kommen Sie mit!“ Sul erhob sich. „Kommen Sie mit uns runter.“

„Was?!“ Der ungläubige Ruf erklang aus den Kehlen von Yukim und dem alten Mann gleichzeitig.

Sul stemmte die Hände in die Hüfte. Wenn sie das tat, dann hatte sie frappierende Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, der man in dieser Stimmung am besten aus dem Weg ging. „Sie hausen in einer Höhle, welche die Kälte kaum abhält, haben nichts mehr zu essen und wir stehen gerade erst am Einbruch des Winters. Außerdem sehen Sie erbärmlich aus und ich denke nicht, dass Ihr ausgemergelter Körper noch viel mehr packen kann.“ Sie forderte ihn mit den Augen heraus ihr zu widersprechen. „Sie können mit uns kommen, oder Sie können hier einfach krepieren. Ihm …“, sie deutete mit dem Finger auf Yukim, der von ihrem Ausbruch überrascht wurde, „… wäre das vielleicht gleichgültig. Aber mir nicht.“

Der Junge nickte erst, dann jedoch bedachte er, wie herzlos ihn das erscheinen lassen mochte und er veränderte die Bewegung in ein schwaches Kopfschütteln. „So ganz egal wäre mir das auch nicht. Immerhin gehören Sie ja auch irgendwie zu meinem Volk.“ Er sah zu Sul hinüber, die immer noch in ihrer demonstrativen Pose dastand. „Okay …“, gab er schließlich ihrem bohrenden Blick nach. „Soll er mitkommen, mein Vater wird wissen, was zu tun ist.“

Sul schenkte ihm ein kleines Lächeln. Die Aussicht, diese ganze Angelegenheit in Shakaar Edons Hände zu legen, hatte etwas ausgesprochen Beruhigendes an sich.

„Ich denke gar nicht daran, irgendwohin mit euch zu gehen!“, begehrte der Cardassianer auf. „Was weiß ich denn von euch, ob ihr mich nicht in eine Falle locken wollt?“

„Und wofür?“, konterte Yukim. Der alte Mann ging ihm auf die Nerven, doch er verstand Suls Missionierungsgedanken, also musste er zusehen, dass er seiner Freundin irgendwie beistand. „Wer interessiert sich denn nach so langer Zeit für Sie? Wir garantiert nicht. Wir haben unseren Frieden geschlossen.“ Die letzten Worte waren etwas, was er seine ältere Schwester Katalya einmal hatte sagen hören, es klang ganz brauchbar für den Augenblick.

„Ich will, dass Sie mitkommen.“ Sul streckte die Hand zu ihm aus.

„Ich denke nicht daran“, beharrte der alte Mann.

Yukim seufzte. Er hatte keine Lust, bis nach Einbruch der Nacht hier oben zu verbringen. Dass der Abstieg bei Dunkelheit um etliches gefährlicher war, war die eine Sache – der Ärger, den er dann mit seinem Vater bekam, eine ganz andere. „Sehen Sie es einfach von der praktischen Seite: Sie können sich den Bauch vollschlagen und dann wieder in Ihre Höhle hier zurückgehen, wenn es das ist, was Sie wollen. Wenn sie das Broklia meiner Mutter schon so gut fanden, dann sollten Sie mal sehen, wie es bei uns im Augenblick in der Küche aussieht – und wie das erst riecht! Die Woche vor Modranhit laden meine Eltern immer ihre Arbeitskollegen zu einer kleinen Feier bei uns zuhause ein, und das Buffet müssen Sie sehen! Oder besser noch, davon probieren …“ Er machte in seiner Beschreibung eine Pause, um zu sehen, ob es eine Wirkung auf den alten Mann hatte, und weil ihm allmählich selbst das Wasser im Mund zusammenlief. Ihr Proviant war ja leider samt und sonders in den Magen des undankbaren Cardassianers gewandert.

„Was ist Modranhit?“, knurrte der alte Mann, doch auch ihm war anzusehen, dass sein Bewusstsein sich mit Speisen beschäftigte, die er seit über zwei Jahrzehnten weder gerochen noch gekostet hatte.

„Eine Feier zur Wintersonnwende, die wir Leichtgläubigen in aller Liebe mit unseren Propheten und unseren Freunden begehen“, versetzte Sul ein wenig herablassend.

„Das ist eine Falle“, beharrte er weiter, doch die Überzeugung fehlte.

„Bei den Propheten“, polterte Yukim los, der allmählich wegen der fortschreitenden Tageszeit nervös wurde. Sul konnte gut auf Zeit spielen, ihr Vater schimpfte nie. „Was haben Sie denn zu verlieren? Alles ist besser als das, wie Sie hier hausen! Wenn Sie echt schon so lange hier oben sind, dann wäre doch sogar eine warme Gefängniszelle dem hier vorzuziehen, oder?“ Er bückte sich, um die Sachen wieder einzusammeln, welche der Cardassianer zuvor achtlos aus dem Rucksack geworfen hatte. „Ich für meinen Teil werde jetzt gehen, denn mein Vater wird ziemlich ungemütlich, wenn er abends nicht weiß, wo ich bin.“ Er warf sich den Rucksack über die Schulter, warf Sul einen auffordernden Blick zu und stapfte dann erhobenen Haupts zur Höhle hinaus.

„Verdammt … Yuki …“ Sul sah ihm nach, blickte dann wieder zu dem alten Mann, der sich nun daran machte sich zu erheben. Sie konnte sehen, dass es ihm nicht sehr leicht fiel, er musste Schmerzen in den Gliedern haben. Immer noch leise fluchend eilte sie zu ihm hinüber und half ihm auf die Beine. „Sie brauchen nicht nur eine ordentliche Mahlzeit sondern auch mal einen Arzt, der nach Ihnen sieht.“ Den Versuch des Cardassianers sich von ihr loszumachen, sobald dieser wieder aufrecht stand, unterband sie, indem sie den Arm über ihrer Schulter festhielt. „Stützen Sie sich auf mich, das macht den Abstieg leichter.“ Sie spürte, wie sich der Körper versteifte und fügte ein flehentliches „Bitte!“ hinzu.

„Ich finde diese Idee nicht gut“, beharrte er weiterhin, ließ sich jedoch von Sul in Richtung Höhlenausgang steuern.

„Meinetwegen. Hauptsache, Sie kommen mit.“

Nachdem sie das Plateau hinter sich gelassen und das natürliche Felsentor passiert hatten, an welchem Yukim natürlich auf sie gewartet hatte, begann der alte Mann abermals zu zögern. „Eure Leute werden mich verachten.“

„Werden sie nicht.“ Sul stupste ihn ein wenig an, so dass er auf dem schmalen Felsenpfad, der nun folgte, zwischen Yukim und ihr ging. „Meine Mutter hat bei der Befreiung Cardassias geholfen und sein Vater ist Initiator des bajoranisch-cardassianischen Programms …“ Sie stolperte gegen seinen Rücken, als der Cardassianer stehen blieb.

„Befreiung Cardassias?“

Sul schob ihn weiter. „Es ist sehr viel passiert, während Sie hier oben waren. Ich denke, Sie werden die neue Weltordnung mögen. Bajor und Cardassia stehen sich nun freundschaftlich auf Augenhöhe gegenüber. Die Propheten waren ausgesprochen gut zu uns allen.“

„Was ist mit der Befreiung?“, beharrte der Cardassianer weiter.

„Alles zu seiner Zeit, wenn wir im Warmen und Trockenen sitzen und uns die Bäuche vollschlagen …“, sie konnte sich nicht zurückhalten eine Grimasse zu dem vor ihnen laufenden Yukim zu machen, auch wenn der Junge sie nicht sehen konnte, „… nachdem Yuki Edons Donnerwetter hat über sich ergehen lassen.“

„Haha!“, erklang der trockene Kommentar ohne dass der Angesprochene sich umwandte. „Ist ja wohl nicht meine Schuld, dass wir hier oben so lange festgesessen sind.“

„Und wer wollte überhaupt erst hier rauf klettern?“

„Und wer konnte es nicht abwarten Eiszapfen zu sehen …?“

Der Abstieg wurde begleitet von den gewohnten Neckereien der beiden Jugendlichen, was den Cardassianer merklich lockerer werden ließ. Sie kamen nicht ganz so rasch voran wie sie sich das vorgestellt hatten, da der alte Mann trotz aller entgegengesetzt lautender Beteuerungen nicht mehr den sichersten Tritt hatte, doch schließlich erreichten sie die Ebene.

Die Sonne hatte sich hinter die Gipfel der Kolja-Berge gesenkt, so dass das Tal bereits in der Abenddämmerung lag. Der erste Mond erhob sich majestätisch über den Bergspitzen.

„Jetzt aber rasch.“ Yukim zog das Tempo an.

Sul merkte, dass der Cardassianer nicht würde mithalten können. „Lauf du schon einmal vor, wir kommen nach.“

Der Junge zögerte. Die Chance, von der Uhrzeit abzulenken war wesentlich größer, wenn sie ihren Gast präsentieren konnten. Also verlangsamte er ebenfalls wieder und fiel auf der anderen Seite des alten Mannes in Schritt.

„Wir machen das gemeinsam“, verkündete er großzügig, was Sul zu einem belustigten Lachen anregte.

Es dauerte nur ein paar Schritte, dann konnten sie die Lichter der Shakaar-Farm ausmachen. Obwohl Yukims Eltern in anderen Berufen arbeiteten, hatte es sich ein Vater nicht nehmen lassen, wenigstens ein kleines Feld mit Katterpod zu bestellen, als ständige Erinnerung daran, wo er herkam. Am Rand dieses Feldes entlang, dessen Boden für den Winter umgepflügt da lag, marschierten sie nun auf die Rast verheißenden Lichter zu. In den Nischen links und rechts der Haustür waren Kerzen zu Ehren der Propheten entzündet, welche in ihren windgeschützten Konstruktionen nur leicht flackerten.

Nachdem die Sensoren sie gescannt hatten, öffnete sich die Haustür auf ihre Annäherung und löste gleichzeitig einen hellen Glockenton im Inneren des Hauses aus. Noch bevor sie die Schwelle übertreten konnten, kam ihnen ein großer Bajoraner entgegen, dessen Hände und Schürze mit Mehl bekleckert waren, Yukims Vater. „Wie schön, dass ihr euch auch endlich mal hier blicken lasst. Wir haben noch eine Menge zu tun und könnten wirklich eure Hilfe …“ Er stockte, als er bemerkte, dass die Kinder nicht alleine waren. „Und wer ist das?“

„Alles in Ordnung, Edon?“ Hinter dem Bajoraner erschien eine Cardassianerin, welche es irgendwie schaffte trotz Schürze und Küchentätigkeit elegant zu wirken. Im Inneren des Hauses war das Gelächter mehrerer Kinder zu vernehmen.

Der Cardassianer starrte die Frau an. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht wirklich geglaubt, dass die Jugendlichen die Wahrheit gesprochen hatten.

„Wir …“, setzte Sul an, doch Yukim übernahm rasch, bewusst, dass er nicht immer seine Freundin vorschicken konnte, wenn es unangenehm wurde. „… haben einen Gast mitgebracht, der die letzten Jahre in den Bergen verbracht hat, und sich nach Wärme und cardassianischer Küche sehnt. Ich dachte … es wäre okay.“

Der alte Mann bekam nur am Rande mit, dass sich die Miene des großen Bajoraners glättete. Seine Sinne wurden überwältigt von der Symphonie an Gerüchen, die aus der Küche strömten, seine Augen nahmen nur die Cardassianerin wahr, die in seiner Erinnerung das Schönste war, das er jemals gesehen hatte. Er sah wie sie gütig lächelte, wie sie die Hand ausstreckte, um ihn hereinzubitten, dann nahm er nichts mehr wahr, denn seine Augen hatten sich nach so langer Zeit der Gefühllosigkeit begonnen mit Tränen zu füllen.



Ende
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