TrekNation

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Zeit für Revolution

von Omikron

Erkenntnis (1)

2248 n.Chr.

„Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein
Ozean Verstand.“
Blaise Pascal, 1667 n.Chr.


Seit Stunden herrschte Dunkelheit in dem riesigen Raum. Nur die Computerterminals, die in die halbkreisförmigen Mulden im Boden des Saals eingelassen waren, erhellten die Finsternis. Alle paar Sekunden projizierten die Computer eine neue schwierige Aufgabe auf die dort eingelassenen Bildschirme. Obwohl sie alle ganz ruhig und bedacht auf die Fragen antworteten, war den Prüflingen ihre Anspannung deutlich anzusehen. Nun, in den letzten Minuten einer der wichtigsten Prüfungen ihres Lebens, mussten sie noch einmal alles geben.
„Ist eine beschränkte auf dem gesamten Körper der komplexen Zahlen holomorphe Funktion konstant?“
Das ist die letzte mathematische Frage, stellte der Vulkanier erleichtert fest und schalt sich dann für seine Erleichterung. Die Prüfungen testeten nicht nur das Wissen der Studenten. Die teils auf multiplen Sinnesebenen gleichzeitig auf sie einprasselnden Fragen setzten sie auch gehörig unter Druck. Erfolg haben konnte nur, wer nicht der Nervosität verfiel, sondern sich mit kühler Logik behauptete. Kaum hatte der Computer die zufällig aus einer Datenbank gegriffene Frage fertig formuliert, antwortete der Vulkanier auch schon mit einem ruhigen „Ja.“
„Korrekt. Was versteht man unter Kognitionswissenschaft?“
„Die interdisziplinäre wissenschaftliche Plattform zum Verständnis geistiger Prozesse.“
„Korrekt. Nach welchem seiner Subkontinente ist der Planet Tellar Prime benannt?“
„Telluria.“
„Korrekt. Nennen Sie die Schlüsselelemente von Suraks Lehre des logisch geprägten Handelns.“
Glück gehabt! Diese Frage ist reinstes Basiswissen. „Tatsachen und Schlussfolgerungen unter der Berücksichtigung, dass alle nicht logisch handelnden Lebensformen nicht dazu in der Lage sind oder sich der Logik bewusst verweigern.“
„Korrekt. Die Prüfung ist beendet. Sie haben vierhundertundzweiundneunzig von fünfhundert möglichen Punkten erreicht.“
Mit der Hand wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. Dann erhob sich der junge Mann und verließ mit einem so zufriedenen Gesichtsausdruck, dass es schon an Selbstgefälligkeit grenzte, die vertiefte Halbsphäre des Prüfsaals, in dem er neben über zweihundert anderen Schülern die Abschlussprüfung gemeistert hatte.
„Syvok!“, hörte der Vulkanier jemanden seinen Namen rufen und drehte sich sogleich um. Als der grauhaarige Lehrmeister zu ihm aufgeschlossen hatte, begrüßte er ihn sogleich. Syvok konnte den alten Lehrer, der ihn die letzten vier Jahre seines Lebens begleitet hatte, gut leiden. Nun kam der Abschied. Beide wussten es. Beide ahnten, dass sie einander fehlen würden. Doch niemand würde es aussprechen.
„Magister.“
„Sie haben heute eine erstaunliche Leistung erbracht, Syvok. Nach Abschluss dieser Ausbildung stehen Ihnen alle Wege offen. Wäre es vermessen zu fragen, ob Sie meinen Rat beherzigt haben?“
„Ganz und gar nicht“, beantwortete der Absolvent zuerst die vordergründige Frage seines Mentors, ehe er mit der eigentlichen Antwort herausrückte. „Ich werde an meine Ausbildung noch ein zweijähriges Studium in Quantenmechanik und Subraumtechnik anhängen. Danach werde ich mich an der vulkanischen Akademie der Wissenschaften bewerben. Bei meinen derzeitigen Leistungen gehe ich von einer Aufnahme aus.“
Syvok glaubte für einen Moment ein Lächeln zu erkennen, das über das Gesicht seines Ausbilders huschte. „Sie werden ein Gewinn für die Akademie sein.“
„Danke, Magister.“
„Nehmen Sie dieses Lob nicht auf die leichte Schulter. Sie eingeschlossen habe ich das erst zu vier meiner Absolventen gesagt. Einer davon war Ihr Vater.“
„Er spricht immer in den höchsten Tönen von Ihnen, Magister“, erzählte Syvok wahrheitsgetreu.
„Das will ich hoffen“, entgegnete der alte Vulkanier. „Nun will ich Ihnen aber nicht mehr von Ihrer Zeit stehlen. Ich weiß, dass Sie Ihren Weg gehen werden, Syvok. Sie werden viele Entscheidungen zu treffen haben und viele werden nicht leicht sein. Doch wenn sie immer logisch handeln, werden Sie jede Aufgabe des Lebens meistern. Leben Sie lange und in Frieden.“ Das war mehr als nur eine höfliche Förmlichkeit und so neigte Syvok ein wenig den Kopf, als er den Segensspruch erwiderte.
„Leben auch Sie lange und in Frieden.“ Der Lehrer wandte sich ab und verschwand bald in der Masse. Syvok blickte ihm noch einen Moment hinterher, dann ging er auf den Ausgang zu.
Nun, in den frühen Nachmittagsstunden, begann der Himmel sich rötlich zu verfärben. Die Sonne brannte so stark, dass sie die trockene Luft auf über vierzig Grad erhitzte. Doch auf den Straßen schien das niemanden zu kümmern, da Temperaturen über vierzig Grad Celsius für die Bewohner dieses Planeten absolut keine Seltenheit waren. So trug auch der Großteil derer, die wie Syvok auf die öffentlichen Verkehrsmittel warteten, braune und graue Roben, die auf Vulkan eine lange Tradition hatten. Syvok selbst war wie fast immer in einen schwarzen Umhang gekleidet, mit dem er erwachsener aussah, als er tatsächlich war. Im Erdenjahr 2231 geboren zählte er heute gerade einmal siebzehn Jahre, was nicht einmal einem Zehntel der vulkanischen Lebenserwartung entsprach. Zwar war er offiziell schon seit einer Dekade erwachsen. Dennoch würde man ihn erst ab dem heutigen Tag als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft würdigen.
Syvok blickte auf. Eine zivile Transportfähre näherte sich der Haltestelle. Ihre rostbraune Lackierung fügte sich sehr gut ins Umgebungsbild, da fast alle Gebäude in Shi'Kahr ebenfalls in dieser Farbe gehalten waren. Eigentlich sogar der ganze Planet. Die Aggregate des Antigravitationsantriebs der Fähre dröhnten in Syvoks Ohren, als das Schwebefahrzeug schließlich vor den Füßen der Wartenden aufsetzte und sich die Schiebetüren geräuschlos öffneten. Ganz ohne Gedränge bestieg die Menge das Shuttle, bis es schließlich abhob und auf eine der Zentralstationen zusteuerte. Nachdem er sich gesetzt hatte, blickte sich Syvok um. Bis auf einen leicht bekleideten Menschen, der aus all seinen Poren schwitzte und dabei einen so unangenehmen Geruch verbreitete, dass sich niemand in seine Nähe gesetzt hatte, befanden sich ausschließlich Vulkanier in der Fähre, die einige dutzend Meter über dem Boden auf die Sammelstation zuflog.
In einem solchen Transportflugzeug traf man oftmals die absonderlichsten
Gestalten. Syvok konnte dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Nicht einmal ein Jahr war es her, da ihn einmal ein äußerst seltsamer Mann in einer Fähre angesprochen hatte. „Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“, waren seine ersten Worte gewesen.
Natürlich“, hatte Syvok geantwortet.
Glauben Sie, dieser Planet kann überleben, wenn sich nichts ändert?
Selbstverständlich“, war Syvoks Antwort gewesen.
Dann haben Sie meine Hilfe nötiger als Sie sich vorstellen können. Irgendwann kommt für jeden der Tag, an dem er nicht mehr wegsehen kann.
Nach einiger Zeit hatte sich herausgestellt, dass der Mann Seryk hieß und Anhänger einer neuen, revolutionären Glaubensrichtung war, die sich um einen Prediger namens Sybok formiert hatte. Seryk war auf Missionsreise in Shi'Kahr gewesen und hatte versucht, andere von seinem Glauben zu überzeugen. Aber Syvok hatte sich nicht interessiert gezeigt. „Vielleicht sollten Sie es bei jemand anderem versuchen“, hatte er gesagt, um den Missionar loszuwerden.
Wir wollen aber niemand anderen, sondern Sie, Syvok“, war Seryks Antwort gewesen. Erleichtert, endlich die Haltestelle erreicht zu haben, war Syvok ausgestiegen und hatte versucht, die Ereignisse zu vergessen und sich nicht zu fragen, woher der Glaubensbote seinen Namen gewusst hatte. Doch er hatte sich zu früh gefreut. Am nächsten Tag hatte Seryk wieder auf ihn gewartet. Das war über eine Woche so gegangen, bis Syvok ihn bei einem Sicherheitsbeamten gemeldet hatte. Seitdem war er nie mehr aufgetaucht.
Umso erstaunter war Syvok gewesen, als er plötzlich Seryks Namen in den Medien gehört hatte. Er gehörte dieser aufstrebenden Glaubensrichtung nicht nur an, sondern zählte zur Führungsriege der V'tosh ka'tur, wie sich die Organisation nannte. Syvok versuchte, wenig an die Ereignisse zu denken, doch oft kamen sie ihm einfach in den Sinn, bevor er sie mit einer Geistesübung verdrängen konnte.
Als die Fähre schließlich am Verkehrsknotenpunkt landete, stieg Syvok um. Die andere Fähre bracht ihn in sein Heimatdorf Neynoc, das etwa hundert Kilometer von Shi'Kahr entfernt lag. Die Fähre bewältigte diese Strecke in unter zehn Minuten. Neynoc war ein kleines Dorf, das sich um einen alten Bergtempel entwickelt hatte, der noch heute eine kleine Pilgerstätte darstellte. Die Gebäude, die man an einer Hand abzählen konnte, waren alle im Sheyang-Stil erbaut, der erstaunlicherweise etwas an den menschlichen fernöstlichen Baustil erinnerte. Syvok hatte sich bereits aus der Gruppe der Reisenden gelöst und durchquerte das Dorf in Richtung des größten Anwesens, das seine Familie bewohnte. Das vierstöckige Gebäude, das inmitten eines großen umzäunten Gartens lag, befand sich schon seit Jahrhunderten in Familienbesitz. Als Syvok die Eingangshalle betrat, traf er auf niemanden, was in Anbetracht der Größe des Hauses auch nicht weiter verwunderlich war. Sein Vater war vermutlich in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock, das Syvok sogleich aufzusuchen gedachte. Nicht ohne Stolz malte er sich aus, was sein alter Herr zu seinem herausragenden Prüfungsergebnis sagen würde. Er selbst hatte es seinerzeit nur auf vierhundertdreiundachzig von fünfhundert Punkten gebracht. Selbst das war aber noch ein herausragendes Ergebnis gewesen.
Syvok klopfte an die schlichte Holztür, hinter der sich das Privatbüro des vulkanischen Justizministers befand. Wie gewohnt wartete er drei Atemzüge lang, dann trat er ein. Hinter einem viel zu großem Schreibtisch versteckt, begrüßte ihn sein distanziert wirkender Vater: „Syvok.“
„Vater. Ich habe großartige Neuigkeiten. Ich habe meine Abschlussprüfung mit vierhundertzweiundneunzig Punkten bestanden.“
Kendral sagte nichts darauf. Einen Moment fürchtete Syvok, er könnte unzufrieden mit diesem Ergebnissen sein, doch dann entdeckte er einen sonderbaren Ausdruck auf Kendrals Gesicht. Er wirkte wie immer und ein anderer hätte es wohl kaum bemerkt. Doch Syvok sah, dass irgendetwas nicht stimmte.
„Ich muss etwas dringendes mit dir besprechen.“ Der Verdacht bestätigte sich also. Kendral räusperte sich, schloss kurz die Augen und legte dann seine Brille ab, die er eher aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit trug. Kendral hatte die selben Gesichtszüge wie sein Sohn, insbesondere die eingefallenen Wangen und die schmalen Lippen. Syvok war dankbar, dass er nicht auch noch die markante Falkennase seines Vaters geerbt hatte. „Deine Schwester ist tot.“
„Was?“, rief Syvok geschockt. Die Offenbarung traf ihn wie ein Hammerschlag. Die Botschaft überstieg sein aktuelles Fassungsvermögen. „Wie?“
„Die Ermittlungsarbeiten laufen noch, doch momentan wird von einem Unfall ausgegangen. Sie arbeitete an den Antriebssystemen eines Schiffes, als sie durch eine Energieentladung getötet wurde.“ Syvok schüttelte energisch den Kopf. Seine sieben Jahre ältere Schwester war eine Cheftechnikerin der 40-Eridani-AFlottenwerft gewesen, angeblich eine der besten. Wie hatte ihr da nur so ein Unfall passieren können? „Wir erhielten die Nachricht heute um neun Uhr. Deine Mutter und dein Bruder sind in die Stadt gefahren, um die Bestattungszeremonie zu planen“, erklärte Kendral mit gleichgültigem Tonfall.
„Und du?“
„Ich musste noch einen Gesetzestext durcharbeiten. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich habe zu tun.“ Kendral konzentrierte sich erneut auf das Papier auf seinem Schreibtisch. Will er noch irgendetwas sagen?, fragte sich Syvok, aber offensichtlich war dem nicht so. Er griff kurzerhand nach dem Schriftstück und legte es auf einen Beistelltisch. Der Vater blickte auf – sichtlich unerfreut.
Wir sind noch nicht fertig. „Deine Tochter ist tot“, sagte Syvok leise. „Deine älteste Tochter. Berührt dich das denn überhaupt nicht?“
Da erhob sich auch Kendral. Er streckte wortlos die Hand aus und Syvok reichte ihm seine Unterlagen wieder. Da verzog sich das Gesicht des Justizministers etwas und er schlug seinen Sohn mit der flachen Hand ins Gesicht. Seine Wange brannte und Syvok machte einen Schritt zurück. Kendral hatte das seit Jahren nicht getan.
„Was sollte das?“, entrüstete sich Syvok.
„Das war eine Erziehungsmaßnahme, die du dir redlich verdient hast. Du sprichst hier vom Tod meiner Tochter. Glaubst du etwa, dass sie mir überhaupt nichts bedeutet hat? Im Vergleich zu dir schaffe ich es allerdings, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sich das Gewand zu zerreißen und das Haupt mit Asche zu bestreuen, holt sie nicht zurück ins Leben. Geh jetzt!“, befahl Kendral in demselben Tonfall, wie stets beherrscht und desinteressiert.
Nachdem Syvok mit einem durchdringenden Knall die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, wandte sich der Justizminister wieder seiner Arbeit zu, setzte sich seine Brille auf die Nase und murmelte gedankenverloren: „Irgendwann wird er es verstehen.“
Syvok wollte weg von hier. In seine Trauer um seine Schwester mischten sich Wut und Zorn über seinen Vater, den ihr Tod völlig kalt zu lassen schien. Seit seinem Kolinahr-Ritual lebte Kendral die Lehren Suraks extremistisch aus. Wenn Syvok seiner Mutter Glauben schenken durfte, war Kendral einst ganz anders gewesen. Syvok selbst hatte für das Kolinahr nur wenig übrig. Zwar hatte er sein Leben lang die Ideale seines Vaters respektiert und ebenfalls versucht, den Weg Suraks zu beschreiten, doch einen so gravierenden Verlust wie den Tod einer geliebten Person konnte Syvok nicht einfach emotionslos hinnehmen. Nicht nur das: Es kam ihm falsch vor – wie ein Verrat an dieser geliebten, verlorenen Person.
Der junge Vulkanier verließ das Haus über einen Hinterausgang und rannte los, der Einsamkeit entgegen. Er lief in die Wüste hinaus, bis sein Dorf nur noch als ein Schatten am Horizont auszumachen war. Hier in der Abgeschiedenheit gehörten seine Gefühle ihm selbst. So setzte sich Syvok in den Schatten eines aus dem Sand aufragenden Felsens und weinte. Noch nie hatte er eine Person verloren, die ihm nahe stand, sogar zwei Generationen seiner Voreltern waren noch am Leben. Dass nun ausgerechnet seine große Schwester ihres so plötzlich verloren hatte und das niemanden zu berühren schien, traf Syvok schwer. Sollte er in der Gewissheit weiterleben, dass sein eigener Vater keine einzige Träne vergießen würde, wenn er plötzlich stürbe?
Syvok wusste nicht, wie lange er schon hinter dem Felsen saß, als er plötzlich sanfte Schritte hörte. Überrascht schaute er über die Kante seines Verstecks hinweg und erblickte eine in einen weißen Talar gehüllte Gestalt, die langsam näher kam. Ein feiner Sandschleier, getragen von einer leichten Brise, umwehte sie. Es war nicht sein Vater, so viel stand fest, außerdem kam der Unbekannte aus der anderen Richtung. Mit seinem langen Stab wirkte er wie ein Wanderpriester, doch Syvok konnte sein von einer Kapuze verhülltes Gesicht nicht erkennen. Der Fremde kam näher, er hatte ihn längst entdeckt. Als er schließlich die verbleibende Distanz überwunden hatte, blieb er stehen. „Ich habe einen langen Weg hinter mir“, sprach die Gestalt schließlich. „Teilst du deinen Schatten mit mir?“
Unbehaglich rutschte Syvok etwas zur Seite. „Es ist niemand sonst hier, der den Platz haben will. Wer sind Sie?“
Der Fremde schlug seine Kapuze zurück, legte seinen Stab beiseite und setzte sich direkt neben Syvok in den glühenden Sand. Dieser war wenig überrascht, als er erkannte, dass sein Gegenüber ebenfalls Vulkanier war. Extravulkanische kamen nur sehr selten in diese Gegend. Der andere machte den Anschein eines typischen Vulkaniers, lediglich seine buschigen Augenbrauen und sein wirres Haar wirkten irgendwie fehl am Platz. „Weißt du, mein Freund, dass du gerade eine der beiden schwersten Fragen des Universums gestellt hast?“
Syvok blickte ihn einen Moment lang verwirrt an. Dann erkannte er das Gesicht plötzlich. Kein Wunder, war es doch einer der Hauptbestandteile seriöser Mediensendungen und nächtlicher Diskussionsrunden. Es sagte viel über Syvoks Geisteszustand aus, dass ihm die ganze Situation nicht im geringsten merkwürdig erschien. Andernfalls hätte er sicher abgewogen, wie wahrscheinlich es war, dass ausgerechnet diese Person zu diesem Zeitpunkt hier aufkreuzte. Jedoch verschwendete Syvok keinen Gedanken daran, sondern formulierte einfach seinen Verdacht. „Sie sind Sybok, nicht wahr?“
Der Wanderer lachte auf und gab Syvok damit Gewissheit. „Wer bin ich? Das ist eine schwierige Frage, die ich dir nicht beantworten kann. Was ich dir jedoch bestätigen kann ist, dass mein Name Sybok lautet. Du weißt jetzt also, wie du mich anreden kannst, aber wer ich bin, weißt du noch immer nicht.“
„Ich vermute, Sie kommen als Pilger hierher“, mutmaßte Syvok. „Wie mir scheint, sind Sie ein Wallfahrer, der den katrischen Schrein von Neynoc aufsuchen will.“
„Auf dem Weg nach Neynoc war ich tatsächlich, aber der katrische Schrein interessiert mich wenig.“ Was gab es denn in dem kleinen Dorf neben dem Kloster, was für einen Mann wie Sybok bedeutend sein konnte? „Ich habe dich gesucht, Syvok.“
Woher kennt er meinen Namen? „Verübeln Sie mir nicht, dass ich Ihnen nicht glaube.“
„Nein, natürlich verüble ich es dir nicht“, sagte Sybok, während er eine Hand voll Sand durch seine Finger rieseln ließ. „Aber ich sage dir die Wahrheit. Und ich will auch deine zweite Frage beantworten, so gut ich kann. Ich bin hier, um dir die Augen zu öffnen.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Syvok verunsichert. Er traute dieser seltsamen Gestalt nicht über den Weg.
„Des Rätsels Lösung liegt nicht bei mir, sondern bei dir. Bisher haben wir nur darüber gesprochen, was mich hierher führt. Was ist mit dir? Wieso bist du hier?“
„Ich? Ich … habe nur … meditiert.“
Plötzlich verflog Syboks Lächeln. „Ich war ehrlich zu dir, Syvok. Selbiges erwarte ich jetzt von dir. Was ist passiert?“
„Wollen Sie es wirklich wissen? Ich habe jemanden verloren, der mir sehr nahe stand. Meine ältere Schwester starb heute bei einem Unfall. Verübeln Sie es mir also nicht, dass ich lieber allein wäre.“
Syvok bemerkte, wie sich der Gesichtsausdruck seines Gegenübers schlagartig änderte. Anfangs erblickte er dort Überraschung, soviel war klar, denn die sah man bei den meisten Vulkaniern gelegentlich. Als sich der Blick des Fremden dann änderte, dachte Syvok zuerst an Mitgefühl, aber das war es nicht. War es Wut? Interpretierte er es richtig? Bereits nach kurzer Zeit verschwand der Ausdruck von Syboks Gesicht. Damit dieser nicht bemerkte, dass Syvok ihn anstarrte, fügte er gleich hinzu: „Und meinen Vater lässt ihr Tod vollkommen kalt.“
„Und das unterscheidet ihn von uns beiden. Im Vergleich zu ihm sind wir in der Lage, zu fühlen.“
„Nein, ich bin ein Vulkanier. Ich fühle nicht“, verteidigte Syvok vehement die Überzeugungen, die ihm seit frühester Kindheit beigebracht worden waren.
„Warum hast du dann geweint?“
Erst wollte er es leugnen. Aber seine geröteten Augen sprachen doch Bände. „Es war … dieser Schmerz. Sie können sich nicht vorstellen–“
„Ich kann“, unterbrach ihn Sybok. „Belehre mich nicht über Schmerz. Ich kann von mir behaupten, mehr über Schmerz zu wissen, als alle Heiler und Folterknechte dieser Galaxis zusammen.“ Sybok schien plötzlich reiner und erhabener als zuvor. „Und ich kenne deinen Schmerz, den du unablässig zu verdrängen versuchst.“
„Ich bin Vulkanier. Ich verdränge keinen Schmerz.“
„Du willst mir also sagen, dass du nichts zu verstecken hast? Dass du mit deinen Nächsten über alles reden könntest?“
„Ja.“
„Warum bist du dann noch hier? Lauf zurück nach Neynoc und offenbare deiner Familie, dass du geweint hast. Zeig deinem Vater die Tränen.“ Syvok schwieg. „Siehst du es endlich ein?“, fragte Sybok nun mit sanfter Stimme. „Du tust niemandem einen Gefallen, wenn du dich selbst belügst. Lass es sein!“
„Was soll ich denn tun? Muss ich so kalt wie mein Vater werden, um in das System zu passen?“
Sybok schüttelte den Kopf. „Füge dich nicht ins System. Brich aus! Lerne, die Welt mit anderen Augen zu sehen, und versuche, das zu erkennen, was für die Logiker nicht auf den ersten Blick offenbar wird. Du musst Neues versuchen, wenn du nicht enden willst, wie…“ Sybok sprach es nicht aus, doch sie wussten beide, dass er Kendral meinte.
„Wie soll ich das machen?“, fragte Syvok zögerlich.
„Deinen Weg musst du selbst gehen. Ich kann dir nur beim ersten Schritt helfen.“
„Wie?“
„Ich kenne deinen Schmerz und ich kann dich davon befreien. Lass mich an deinem Schmerz teilhaben!“
„Nein!“, rief Syvok und sprang auf. „Was Sie vorschlagen, ist … unnatürlich. Und revolutionär. Ich kann das nicht.“
„Ich verstehe“, antwortete Sybok enttäuscht. „Wenn du uns suchst, weißt du, wo du uns findest.“
Syvok hob eine Augenbraue. „Nein.“
„Nun, zumindest wirst du es bald wissen.“
Syvok war nur noch als dunkler Punkt in der Ferne auszumachen, der sich langsam von ihm entfernte. Sybok hockte noch immer im Schatten des Felsbrockens und beobachtete den Vulkanier, der auf sein Heimatdorf zuging. Er war der letzte aus meiner Vision, sinnierte er verdrossen. Ich stand so kurz davor! Seine Gedankengänge wurden unterbrochen, als sich ein anderer Vulkanier vor ihm aufbaute, ihm die Hand reichte und ihm auf die Beine half. „Hattest du Erfolg?“, fragte Seryk.
„Ja.“ Trauer lag in Syboks Blick. „Aber zu welchem Preis, Seryk? Du hast ein Leben für unsere Sache eingefordert. Damit hast du sie mit Blut besudelt.“
Seryk zuckte beiläufig mit den Schultern. „Das waren beim V'Shar eben unsere Methoden. Und wie du siehst, sind sie sehr effektiv. Du wolltest, dass seine Emotionen hervorkommen. Das habe ich geschafft.“
„Du begreifst es einfach nicht!“, rief Sybok wütend. „Ich wollte ihn lehren, dass Gefühle etwas Gutes sind, aber alles, was du in ihm geweckt hast, sind Trauer und Zorn! Außerdem – und das ist noch viel schlimmer – hast du für unseren
Glauben getötet! Das ist gegen den Willen Gottes! Du hast ein unverzeihliches
Sakrileg begangen!“
„Ich dachte, Gott würde alle Sünden verzeihen.“
„Gott kann dir verzeihen. Aber ich kann es nicht. Du wirst niemals die rechte Hand dieser Bewegung werden, und wenn du noch einmal für unsere Sache Blut fließen lässt, werde ich nicht zulassen, dass du ihr weiterhin dienst!“
„Ich verstehe“, sagte Seryk und versuchte dabei nicht zornig, sondern demütig zu klingen. „Was ist eigentlich so besonders an diesem Syvok?“
„Ich bin das Herz unserer Bewegung“, erklärte der Mann im weißen Talar. „Du bist die Hand. Syvok wird das Gehirn sein.“
„Er ist überdurchschnittlich intelligent, ja. Aber wieso muss es ausgerechnet er sein? Es gibt doch tausende wie ihn.“
„Eher zehntausende. Und doch brauche ich genau ihn, wie ich genau dich brauchte, obwohl es doch auch tausende qualifizierte V'Shar-Agenten gegeben hätte. Weißt du, weswegen ich unbedingt dich für die Bewegung haben musste?“
Seryk dachte etwas über seine Antwort nach. „Nein.“
Sybok lächelte darauf. „Gute Antwort. Ich weiß es selber nicht. Was ich weiß, ist, dass ich dich brauchte und immer noch brauche. Genau wie ihn.“
„Die Hauptsache ist, du konntest den Jungen von unserer Sache überzeugen.“
„Das wird uns die Zeit zeigen.“
„Wie meinst du das?“, fragte Seryk. „Hat er sich uns nicht angeschlossen?“
„Der Samen ist gesät. Es braucht nun Regen und Zeit, damit die Pflanze aufgeht und irgendwann … wird sie Früchte tragen.“

************

„Es ist Zeit“, sagte Sybok leise, als er die letzten der pyramidenförmigen Kerzen entzündet hatte. „Öffne die Tür.“
Sheron, der kahlköpfige Hohepriester des Tempels, tat wie ihm geheißen, steckte einen antik wirkenden Schlüssel in das Vorhängeschloss und drehte ihn einmal komplett herum. In einer perfekt einstudierten Bewegung nahm er die Kette, mit der sie den kleinen Saal vor einigen Tagen versiegelt hatten, ab. Die beiden Flügel der uralten Pforte öffneten sich unter seinem sanften Druck absolut gleichmäßig. Es belustigte Sybok irgendwie, denn der Hohepriester verschwendete so viel seiner Mühe auf die Etikette und routinierte Rituale. Natürlich machten diese nach außen hin den Eindruck einer weisen, dogmatischen Kirche. Im Vergleich zu den Inhalten einer Glaubensrichtung waren sie aber bedeutungslos, und genau aus diesem Grund hatte sich Sybok vorgenommen, sein Leben nicht nach Riten, Regeln und Protokollen zu richten. Sheron verstand das nicht. Eines Tages aber würde es der hundert Jahre alte Priester verstehen, dessen war sich Sybok sicher.
„Willkommen, meine Freunde.“ Sybok versuchte gar nicht erst, seine Begrüßung förmlich oder besonders respektvoll zu halten. Das lag ihm nicht. Dennoch hätten die Männer und Frauen, die er eingeladen hatte, durchaus eine vornehmere Begrüßung verdient. Immerhin waren sie wichtige Persönlichkeiten Vulkans. Unter ihnen waren scharfsinnige Politiker, angesehene Geistliche, talentierte Künstler und sogar zwei Botschafter Vulkans auf fremden Welten. Sybok hingegen war nur ein kleines Licht am Firmament der Macht, und dennoch wusste er, wieso sie seiner Einladung gefolgt waren. Sie wollten wissen, wie ihm dieser unverfrorene Schachzug nur gelungen war. Sybok hatte einige Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, als Sheron, der Hohepriester des Tempels von Amonak, verkündet hatte, fortan Syboks neue Glaubenslehre zu verbreiten.
Sybok begrüßte jeden seiner Gäste einzeln mit einigen leisen, aber freundlichen Worten. Man hätte meinen können, sie als Vulkanier hätten mit seiner sympathischen Art nichts anfangen können. Aber das war ein Irrtum. Denn all jene, die Syboks Einladung gefolgt waren, hatten eines gemein. Sie stimmten nicht mit den Lehren Suraks, oder zumindest nicht mit Syrrans Interpretation derselben überein. Syrran war vor über neunzig Jahren ein Weggefährte der Administratorin T'Pau gewesen und seine Auslegung von Suraks Lehren galt derzeit auf Vulkan als die einzige Wahrheit über die Logik. Dennoch gab es genug Vulkanier, die das anders sahen. Genau diese hatte Sybok zu sich gebeten. Das Warten musste ein Ende finden. Es war an der Zeit, eine Opposition ins Leben zu rufen.
„Bitte, setzt euch doch“, forderte er seine Gäste auf. Erst als er sicher war, dass niemand mehr kommen würde, wies er Sheron an, die Pforte wieder zu verschließen. Dieser kam Syboks Wunsch mit der gewohnten Gründlichkeit nach. Anschließend nahm Sybok neben seinen Gefolgsleuten Platz. Elf der zwölf Vulkanier, die Tael A'valtî ihm in der Vision gezeigt hatte, hatte Sybok bereits um sich versammelt. Nur einer war nach wie vor fern geblieben. Syvok. Es ist nur eine Frage der Zeit. Er wird kommen.
„Sagen Sie uns, Sybok. Wieso ist der Ausgang versperrt?“, fragte Botschafter V'Shen, einer der bestrenommierten Diplomaten Vulkans.
„Die Worte, die nun hier gesprochen werden, sind nur für unsere Ohren bestimmt. Sie sollen diesen Raum niemals verlassen.“
„Das klingt sehr nach einer Verschwörung“, meinte eine Politikerin voller Skepsis.
„Verschwörung ist ganz und gar das falsche Wort“, beschwichtigte Sybok sie. „Wir haben uns hier zum Konzil eingefunden. Ihr wisst, was uns alle verbindet. Wir sind V'tosh ka'tur.“ Sybok erreichte mit dieser Aussage genau das, was er geplant hatte. Manche der Gäste blieben ruhig oder lächelten sogar verhalten. Das waren jene, die für ihre Überzeugungen einstanden. Den anderen aber war es furchtbar unangenehm, als Vulkanier ohne Logik bezeichnet zu werden.
„Ich halte das für eine äußerst schlechte Wortwahl“, beklagte sich Botschafterin Cavos. „Dass ich beschlossen habe, die Stimmen von Gefühl und Gewissen nicht zu ignorieren, lässt nicht den Schluss zu, dass ich die Gebote der Logik von vornherein verleugne.“
Sybok deutete mit den Händen eine Entschuldigung an. „Sie dürfen mir glauben, Botschafterin, dass ich mir diesen Namen nicht selbst ausgesucht habe. Als sich meiner Idee so viele Vulkanier angeschlossen haben, dass eine strukturierte Organisation vonnöten wurde, hatte ich mit dem Namen V'tosh k'zherka geliebäugelt.“
Vulkanier mit Emotion klänge zumindest deutlich weniger abwertend“, zeigte sich die Botschafterin beschwichtigt.
„Leider hat die Regierung das auch bemerkt und sofort eine Medienkampagne gestartet, um meine Kirche mit dem Begriff V'tosh ka'tur zu stigmatisieren. Das ist eine bewährte Strategie, anders Gesinnte zu diskreditieren. Sie haben das schon einmal erlebt, Tolaris“, sagte Sybok und sprach damit einen älteren Mann an, der ihm gegenüber am Tisch saß. Tolaris schwieg dazu, also räusperte sich Sybok und wirkte mit einem Mal ernster als zuvor. „Ich habe beschlossen, diesen Namen anzunehmen und ihn voller Stolz auf meine Fahnen zu schreiben. Wenn ich dazu stehe, können sie mir damit nichts anhaben.“
Es folgte ein langes Schweigen. Niemand widersprach Sybok, was dieser immerhin als Teilsieg verbuchte. Aber es stimmte auch niemand zu, da sie sich alle Gedanken darüber machten, welche Auswirkungen es wohl auf Karriere und soziale Stellung haben mochte, wenn man sich ganz offen V'tosh ka'tur nannte.
Hohepriester Sheron brach schließlich das Schweigen, indem er Sybok auf ein Thema hinwies, das keinesfalls vernachlässigt werden durfte: „Ich denke, dass unsere Gäste wissen möchten, wofür unsere Kirche eigentlich steht.“
„Das ist nicht ganz einfach zu erklären“, meinte Sybok, räusperte sich und stand auf. Während er erzählte, umrundete er mehrmals gestikulierend den Tisch, während ihm alle Augen gespannt folgten. „Vom Anfang aller Tage an beschäftigte uns eine Frage. Es ist die Frage aller Fragen, die alle Fragen in sich vereint: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Warum sind wir hier? Ich habe mich der Beantwortung dieser Frage verschrieben, nachdem die Erleuchtung über mich gekommen war. Ich habe mich viele Tage zurückgezogen in die Wüste und bin zu einem Schluss gekommen: Nur ein Volk, das liebt, ist ein Volk, das lebt. Wir Vulkanier, so wie wir jetzt sind, entwickeln uns in Richtung einer Maschine. Große Effizienz, aber keine Gefühle. Wir werden alle eine große, organische Maschine. Die Zeit ist gekommen, sich zu erheben und gegen diese
Entwicklung anzukämpfen.“
„Ich verstehe nicht ganz. Wollen Sie eine religiöse Vereinigung oder eine politische Partei ins Leben rufen?“
Sybok musste lachen. „Sowohl als auch vermute ich mal. Unser Glaube wird unter der Herrschaft der Logik nicht überleben. Und ohne eine Gemeinschaft im Glauben werden wir nicht genügend Gegner T'Paus organisieren können, um die Regierung zu übernehmen.“
„Heißt das etwa“, fragte ein kahlköpfiger Priester, „dass Ihr allen Lehren Suraks abschwört?“
„Es ist an der Zeit, die wahren Lügen zu erkennen, mit denen man uns eingesponnen hat wie in ein Spinnennetz. Suraks Lehren stehen der Wahrheit im Weg. So rebellisch es für Sie nun auch klingen mag: Bevor unser Volk wahrhaft frei sein wird, müssen die Lehren des Surak beseitigt werden.“
Ein anderer Mann sprang nun auf. Sybok erkannte sofort, dass er erzürnt war, und das war gut. Einen Mann mit Gefühlen konnte er als Verbündeten gebrauchen. Und es gab wohl kaum jemanden, der ein bekannterer Systemkritiker war als Tolaris. Nach der vulkanischen Reformation vor neunzig Jahren war er mit einer Gruppe Vulkaniern, die ihre Emotionen frei auslebten, nach Vulkan zurückgekehrt und hatte versucht, als Verbündeter T'Paus die Rechte seiner Leute durchzusetzen. Man hatte sie ihm damals zugesagt, doch Tolaris kämpfte noch heute darum. „Es geht nicht darum, Suraks Lehren komplett abzuschaffen. Sie wurden lediglich falsch interpretiert.“
„Sie vertreten also noch immer den Mittelweg, Tolaris.“
„Nur der Einklang zwischen Logik und Emotion ist der wahre Weg.“
„Sie wissen genau, dass Sie mit dem Mittelweg niemals Erfolg haben werden“, sagte Sybok. „Schon so viele Ihrer Anhänger haben die Hoffnung verloren. Ich weiß, dass Sie nur hier sind, um mich als Galionsfigur für Ihre Sache zu rekrutieren. Aber da irren Sie sich. Die Regierung der Syrranniten wird niemals stürzen, wenn ihre Gegner nicht an einem Strang ziehen. Sie alle wissen so gut wie ich, dass es nur einen Mann gibt, der fähig sein wird, alle Vulkanier, die die Syrranniten ablehnen, unter einem Banner zu vereinen. Und das bin ich. Wenn Sie mich unterstützen, werden Sie feststellen, dass ich über ganz außerordentliche Befähigungen verfüge und dass ich es schaffen kann, ein ganzes Volk hinter mich zu bringen.“
„Er hat Recht“, verteidigte ihn Botschafter V'Shen. „Wenn wir in den nächsten Jahren auf einen Wechsel hoffen wollen, müssen wir unseren Einfluss bündeln.“
„Ich werde Ihnen aber auch ganz klar heraus sagen, dass es keines Ihrer Banner sein wird, unter dem sich die V'tosh ka'tur vereinen wird. Es wird meines sein und meine Lehre. Nach unserem Sieg über die Syrranniten steht es Ihnen offen, den Mittelweg weiter zu predigen, Tolaris. Aber bis dahin werden Sie mich und mein Wort unterstützen. Entscheiden Sie sich, Sie alle: Wollen Sie an meiner Seite kämpfen und die eiserne Herrschaft der Logik brechen, obwohl es kleine ideologische Unterschiede gibt, die uns trennen? Oder wollen Sie es alle allein versuchen und scheitern – jeder für sich? Sie haben die Wahl.“

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Für den schlammigen Untergrund war das Fahrzeug viel zu schnell unterwegs. Der Sportwagen sprang auf dem Waldweg auf und ab, doch die antigravitationsgefederte Fahrerkabine dämpfte die meisten Stöße ab. Schließlich kam das Auto schlitternd vor einem Holzhaus zum Stehen. Eine lange Bremsspur zeichnete sich im Matsch ab. Als sich die Fahrerkabine öffnete, sprang eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, heraus. Vergeblich versuchte sie, mit einer braunen Lederjacke, viel zu großen Stiefeln und einer modischen Sonnenbrille älter auszusehen, als sie tatsächlich war.
„Rosa!“, rief ein älterer Mann, der dicht gefolgt von seiner Frau aus dem Haus rannte. „Was zur Hölle sollte das?“
„Ich hab keine Ahnung, was du meinst“, antwortete seine Tochter und warf ihm in hohem Bogen den Autoschlüssel zu.
„Verdammt nochmal, du hast keinen Führerschein! Wo hast du dich schon wieder rumgetrieben?“
„Wofür brauch ich 'nen Führerschein? Ich kann ein Raumschiff fliegen, da werde ich doch wohl auch dein Auto fahren können. Und wenn du es genau wissen willst, ich war in Toronto!“
„Jetzt hör mir mal zu!“, fluchte Herbert Stephens. „Das ist mein Wagen, der ist erst sieben Monate alt, hat noch keinen einzigen Kratzer und hat einen Haufen Geld gekostet! Was denkst du dir eigentlich dabei, mitten in der Nacht abzuhauen, durch halb Kanada zu fahren und nicht mal auf meine Anrufe zu antworten? Erwischt wenn sie dich hätten! Wie willst du zur Sternenflotte kommen, wenn du ständig mit dem Gesetz in Konflikt kommst?“
„Zweimal leichter Diebstahl nennst du ständig?“
„Zweimal bei denen man dich erwischt hat!“ Rosa sah das wesentlich lockerer als ihr Vater. Ihr war es eigentlich immer nur um den Nervenkitzel gegangen, wenn sie irgendeinen Schrott geklaut hatte, der sowieso kaum etwas wert war.
„Das ist jetzt vorbei. Ich habe in Toronto auf einem Raumschiff angeheuert, auf der U.S.S. Kamakura.“
„Was?“, rief ihre Mutter erschrocken. „Wieso?“
„Die Kamakura ist dem Namen nach ein Sternenflottenschiff, wird aber von der Föderationssicherheitsbehörde als Gefangenentransporter geleitet. Deswegen kann ich auf ihr auch als Zivilist dienen und es wird mir später trotzdem an der Sternenflottenakademie angerechnet. Außerdem hat die Kamakura zwei dieser neuen PPT-Warpgondeln. Wenn ich jetzt an denen üben kann, wird mir das später viel helfen.“
„Nein, ich meine, wieso gehst du fort? Du bist noch nicht einmal volljährig!“
Damit hatte sie gerechnet. Rosa musste es ihrer Mutter irgendwie schonend beibringen. Beschwichtigend antwortete sie: „Wir führen hier ein ruhiges Leben. Aber für mich ist es einfach zu ruhig. Ich will raus in die Welt. Ich will die Wunder des Alls und die Faszination ferner Welten erleben.“ Das war zwar die wortwörtliche Formulierung der Rekrutierungsbroschüre, traf den Kern der Sache aber eigentlich ganz gut.
„Indem du auf einem Gefängnisschiff anheuerst?“
„Ja. Euch reicht es offenbar, ein Leben als Selbstversorger zu führen und hier auf der Erde euer Glück zu finden. Mir aber nicht.“

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Der erste Antritt beim CO eines Raumschiffs ist immer etwas ganz Besonders. Wenn du den vermasselst, hast du schon verloren. Ihr Fluglehrer hatte ihr das beigebracht, als er sie in die Kunst der Raumnavigation eingeführt hatte. Und nun, zwei Wochen nachdem sie sich in die Besatzungsliste hatte eintragen lassen, stand ihr erster Rapport beim Captain kurz bevor. Rosa holte noch einmal tief Luft, bevor sie einen Schritt nach vorne machte und sich die Tür zur Brücke zischend öffnete. Schon nach wenigen Momenten erkannte sie, dass die Kommandozentrale menschenleer war. Sie war nicht besonders groß und hatte auch dementsprechend wenige Stationen. Zwei an jeder Seite und eine doppelte direkt vor dem abgeschalteten Hauptbildschirm. Im Zentrum der Brücke stand etwas erhöht ein einzelner karger Stuhl, der auf beiden Armlehnen eine Vielzahl an Knöpfen und Schaltern beherbergte und von dem aus der Captain selbst ebenfalls Zugriff auf ein Schaltpult hatte. Rosa blickte sich noch einmal auf der Brücke um, ehe sie sich kurzerhand in den Kommandosessel setzte. Besonders bequem war er nicht, aber trotzdem war es ein gutes Gefühl. Irgendwann werde ich auch einmal ein Raumschiff kommandieren. Rosa ließ ihren Blick über die Kommandoeinheiten schweifen. Wofür mochte wohl dieser große rote Knopf gut sein?
„Stopp! Das ist die Selbstzerstörung!“, hörte sie plötzlich jemanden panisch rufen und schnellte – wie von der Sprungfeder geschossen – aus dem Stuhl. Plötzlich begann der Mann, der soeben die Brücke betreten hatte, zu lachen, bis ihm Tränen in den Augen standen. Sofort spürte Rosa, wie sie vor Scham rot anlief. „Sie müssen Rosa Stephens sein, nicht wahr?“ „Ja“, antwortete sie ihm unsicher.
„Antonio Parodi“, stellte sich der grauhaarige Mann vor, dessen Lächeln die vielen Falten auf seinem Gesicht zeigte. „Ich bin der Kommandant dieses … Schiffes.“ Innerlich verfluchte sich Rosa. Ausgerechnet ihr CO! „Das mit der Selbstzerstörung war nur ein Witz“, gestand ihr freundlich wirkender Kommandant und zeigte auf den linken Posten vor dem Frontschirm. „Aber ehrlich gesagt haben Sie in diesem Sessel nichts zu suchen. Ihr Platz ist dort. Sie sollten sich mit dem Steuerpult vertraut machen, bevor wir ablegen.“
Rosa fiel keine passendere Erwiderung ein, also begnügte sie sich mit einem knappen: „Danke, Sir.“
„Die Crew hat sich auf dem Freizeitdeck versammelt. Wollen Sie nicht mit runter kommen?“, fragte Parodi und betrat mit ihr den Turbolift.
„Ja, Captain.“
„Nicht Captain“, stellte der Kommandant klar. „Wir sind doch hier nicht beim Militär. Skipper oder Antonio genügt mir völlig, Miss Stephens.“
Erleichtert darüber, dass er ihr ihren Auftritt von eben nicht zu verübeln schien, sagte sie leichthin: „Ok. Dafür nennen Sie mich Rosa.“
„Freut mich. Nun, Rosa, Sie sind jünger, als ich erwartet hatte. Können Sie denn so ein Schiff fliegen?“
„Ja. Ich gehe zumindest davon aus. Ich konnte bisher noch alles fliegen, was in irgendeiner Art und Weise einen Antrieb hat.“
Rosa und der Skipper verließen den Aufzug ein Deck tiefer und machten sich in Richtung des Bugs auf. Im Gegensatz zu den meisten anderen Sternenflottenschiffen verfügte die Kamakura nur über eine halbe Untertassensektion. Als sie sich dem Frontabschnitt des Schiffes näherten, durchquerten sie ein massives Feuerschott, das den Korridor abzutrennen vermochte. Als Parodi ihren erstaunten Blick sah, erklärte er: „Die Frontsektion ist als Notfallkapsel konstruiert. Sie lässt sich bei einer Katastrophe vom Rest des Schiffes abkapseln. Sie umfasst die Krankenstation und das Freizeitdeck, zu dem auch das Proviantlager gehört.“
„Wieso denn keine wichtigeren Einrichtungen?“
„Es geht nur darum, die Besatzung im Notfall am Leben zu erhalten, weil das Schiff keine Rettungskapseln hat. Offiziell aus Platzgründen, aber wir wissen alle, dass die Kapseln fehlen, damit keine Häftlinge mit ihnen flüchten können. Hoffen wir aber mal, dass wir von der Notfallkapsel nie Gebrauch machen müssen“, erklärte der Skipper und bog ins Freizeitdeck ein. Eigentlich ein hochtrabender
Name für den kleinen Speiseraum, dessen ganzes Inventar man zusammengestellt und in die Ecken geschoben hatte, um Platz für die gesamte Besatzung – etwa vierzig Mann – zu schaffen. Rosa schloss sich unauffällig der Crew an, während sich Parodi vor der Bar aufbaute, um mit seiner Rede zu beginnen.
„Willkommen an Bord der Kamakura. Ein paar von euch kennen mich ja schon. Für alle neuen: Mein Name ist Antonio Parodi. Ich bin kein großer Redner, also dauert's nicht besonders lang. Nach einer dreimonatigen Umrüstung ist das Schiff endlich wieder bereit, auszulaufen. War sie früher ein einfaches Versorgungsschiff der Sternenflotte, wurde die Kamakura nun mit einem modernen Zellenblock ausgestattet und dient dem Föderationssicherheitsdienst als Gefangenentransporter. Ich bin mir sicher, wenn wir alle unseren Job machen, geht schon alles gut. Ich übergebe nun an unseren Verbindungsmann zur Sternenflotte. Danke.“
Die Besatzung applaudierte respektvoll, als der Skipper an einen gut aussehenden jungen Mann abgab und sich neben Rosa zur Menge stellte. Diese hatte längst ein Auge auf den in eine goldene Sternenflottenuniform gekleideten Offizier geworfen. Der Hautfarbe und dem Gesichtstyp nach zu urteilen kam er aus der Gegend um Pakistan oder Indien. „Ich bin Lieutenant Charles Morrison, der Navigator und Erste Offizier dieses Schiffes. Ich hoffe, Sie sind sich alle bewusst, welche wichtige Aufgabe uns hier auferlegt ist. Die Föderation ist eine wichtige friedenserhaltende Institution, doch auch ihre innere Sicherheit will gewährleistet werden. Als Teil der Sicherheitskräfte der Föderation…“ Rosa hörte ihm gar nicht mehr richtig zu. Morrison wirkte in ihren Augen recht von sich selbst eingenommen und sogar ein wenig hochmütig. Schließlich beugte sich der Skipper zu ihr hinüber und flüsterte in ihr Ohr:
„Er hält sich für das Maß der Dinge und glaubt, die Sternenflotte hätte ein
Monopol auf den interstellaren Raumflug. Es behagt ihm nicht, dass ein Gefangenentransporter nicht unter Kontrolle des Militärs steht. Ich sollte mal ein wenig an der Umweltkontrolle rumspielen, dann würde es ihm in die Nase regnen.“
Rosa stimmte ihrem jungenhaft grinsenden Kommandanten mit einem Nicken zu und wartete stumm auf das Ende von Morrisons Rede, der die Crew aufforderte, wegzutreten und dann selbst das Freizeitdeck verließ. „Rosa!“, rief sie der Skipper in den mittlerweile leeren Raum zurück.
„Ja?“
„Waren Sie schon einmal auf einem Raumschiff?“
„Ja, Skipper. Bei meinen Flugstunden habe ich schon viele Raumschiffe geflogen.“
„Ich meinte nicht kleine Shuttles oder Trainingsschiffe, sondern große und warpfähige Raumschiffe, so wie dieses hier.“
„Nun ja … nein.“
„Dann sollten Sie jetzt besonders gut aufpassen. Der erste Sonnenaufgang ist immer etwas ganz Besonders.“
„Sonnenaufgang? Es ist doch schon halb drei nachmittags.“ Eine Sekunde, nachdem Rosa diese Worte gesprochen hatte, verstand sie, was Parodi gemeint hatte. Das Freizeitdeck war einer der wenigen Räume der Kamakura, die mit Fenstern ausgestattet waren, und nun boten sie eine atemberaubende Sicht auf die Erde. Und dann geschah es, dass die Kamakura die Wand des Erdschattens durchbrach, die gleißend hellen Sonnenstrahlen über die Ostküste Amerikas hinweg fluteten und Licht in den Speiseraum des Raumschiffes warfen. „Wow!“, hauchte Rosa überwältigt vom ersten Sonnenaufgang, den sie im Weltraum erlebt hatte. Eine Erfahrung, die sie nie wieder vergessen würde.
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