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Genickbruch auf Tresquodoc (5)

von Gunni Dreher

Buch I: Achaji - Kapitel I-1

Achaji
(rhaz. achaji, „chancenlos“, „nicht lebensfähig“)

1.
Rhazaghan, dreihundertzweiundsiebzig Standardtage zuvor.

Kurz nach Tagesanbruch war Tarkin zum ersten Mal sicher, daß er sich in der richtigen Gegend befand.
Zu seinem Ärger hatte es in der vergangenen Nacht ausgiebig geregnet, was die Fährtensuche zu einer schwierigen und zeitraubenden Angelegenheit machte. Möglicherweise hilfreiche Witterungen waren weggewaschen worden, und andere, nichtssagende, blühten in der Feuchtigkeit auf. Gerüche des Wachstums entströmten der noch jungen Vegetation ebenso wie Moderdünste der Laubschicht vom Vorjahr, bildeten gemeinsam eine süßlich-prickelnde Mischung und überdeckten alles andere. Mit anwachsender Helligkeit kam ein trüber Dunst hinzu, der wie eine große umgestülpte Schüssel über Tarkin und seiner Umgebung lag und der sein Sichtfeld auf nasse Felsen, ein paar verkümmerte Bäume und Gestrüpp einengte. Die Sache sah nicht gerade nach einem raschen Erfolg aus, dabei wußte der Rhazaghaner genau, daß ihm die Zeit auf unangenehme Weise im Nacken saß.
Witternd und stöbernd hatte er sich weiterbewegt, bis ihm auf einmal die erhoffte Geruchsbotschaft entgegengeweht kam. Die Luftströmung war schwach, und es handelte sich nur um den Hauch einer Ahnung, aber sie genügte, um Tarkin augenblicklich Deckung in der Nähe der benachbarten Felswand suchen zu lassen. Mit klopfendem Herzen arbeitete er sich in ihrem Schutz weiter vor, Umgebung und Untergrund sorgfältig im Auge behaltend. Schließlich hielt er inne, wechselte in die Grundform und ging lautlos in die Hocke.
Prüfend zerkrümelte er etwas feuchte Erde zwischen den Fingern. Der Boden war hier oben mager, reichlich mit Steinen durchsetzt und wies nur wenig Bewuchs auf, aber es war doch unverkennbar, daß er über einen längeren Abschnitt hinweg verdichtet worden war. Kein Zweifel, es handelte sich um einen Pfad, einen Pfad, den mittelgroße Pranken im Laufe der Zeit ausgetreten hatten. Der Unterschlupf mußte ganz in der Nähe sein.
Tarkin überlegte nicht lange. Das Geschöpf, dem er nachstellte, gehörte zu den sensibelsten und gefährlichsten von Rhazaghan, und vor allem konnte es Farben sehen. Selbstüberschätzung und Eitelkeit mochten sich in dieser Situation als verhängnisvoll erweisen, und so tat er das, was er als das vernünftigste erachtete: Er wechselte in die Krallenluum, die Fellfärbung und -zeichnung wohlweislich sorgsam der Umgebung angepaßt. Dann setzte er mit größter Vorsicht seine Suche fort.
Es dauerte nicht lange, bis er zum ersten Mal einen Blick auf sein Ziel werfen konnte. Die Stelle lag halb verdeckt hinter Buschwerk und schien nicht mehr als ein Schatten unterhalb eines Felsvorsprunges zu sein. Doch bei längerer Beobachtung wurde erkennbar, daß es sich um ein größeres, vielleicht durch Grabtätigkeit erweitertes Loch oder eine Art Bau unter den Felsen handelte. Tarkin witterte konzentriert, und nun meldete ihm auch der eher mittelmäßige Geruchsinn der Krallenluum, daß der Bewohner zuhause war. Die erste Aufgabe war gelöst; nun begann der eigentlich schwierige Teil der ganzen Aktion.
Ein Frontalangriff kam nicht in Frage, das wußte der Rhazaghaner sehr wohl. Sich einfach in diese Burg dort hinein zu begeben konnte zu nichts anderem als einer Katastrophe führen; darum würde ihm nichts anderes übrig bleiben als zu warten, auch wenn ihm dies höchst unangenehm war. Hinzu kam auch noch, daß er sich in keiner guten Position für eine Attacke befand. Es war viel freie Strecke zu überwinden, und selbst ein schneller Sprint würde ihn auf einen vorbereiteten Gegner treffen lassen. Es war dringend nötig, daß er seinen Standort wechselte.
Während er noch überlegte, fing sein scharfes Gehör ein leises, rieselndes Geräusch von weiter unten auf, das er sofort erkannte. Tarkins Herz begann schneller zu schlagen, als eine Idee in ihm Gestalt anzunehmen begann, doch zunächst würde er die Stelle überprüfen müssen. Er verließ sein zwischen magerem Gestrüpp liegendes Versteck und schlich, gewissenhaft Deckung suchend und einen weiten Bogen um die Höhle schlagend, hangabwärts.
Es handelte sich eigentlich mehr um ein Rinnsal als einen Bach, doch es führte sauberes, angenehm riechendes Wasser. Zart plätschernd lief es zwischen leuchtendem Moos die Felswand hinunter, bildete unten angekommen ein Miniaturdelta, benetzte Steine und tränkte kräftig austreibendes Buschwerk, um gleich dahinter eine Vertiefung zu füllen und einen pfützenkleinen Teich zu bilden. Auf der anderes Seite strömte es über den Rand, verlief sich in schmalen Felsspalten und versickerte schließlich etwas weiter weg im Erdboden. An heißen Sommertagen mochte es versiegen, aber jetzt im Frühjahr gab es eine Wasserstelle ab, die sämtliche durstigen Geschöpfe des Umkreises anziehen mußte. Es würde genügen, sich hier zu plazieren, um sie nach und nach zu Gesicht zu bekommen.
Tarkin warf einen unruhigen Blick hinauf zur Sonne, die ein gutes Stück weiter den Himmel hinaufgeklettert war und mittlerweile den Dunst zu durchdringen begann. Es war eigentlich schon entsetzlich spät, und mit dieser Methode würde er noch mehr kostbare Zeit investieren müssen ohne zu wissen, ob er sie überhaupt besaß. Er wog noch einmal kurz seine Chancen ab, dann beschloß er auf sein Glück zu hoffen. Vorsichtig kroch er zwischen das Gesträuch, ohne sich darum zu kümmern, daß seine Unterseite naß wurde. Anschließend schob er sich nahe an den Rand und blinzelte zwischen den Zweigen hindurch, in dem Wissen, daß das fließende Wasser seine Witterung bald stark reduziert haben würde.
Ein Rish-Tik-Tik war der erste Gast, der sich einfand. Der Rhazaghaner beobachtete, wie das Tierchen mißtrauisch schnuppernd die Nase bewegte, dann aber streckte es den Körper und begann zu trinken. Wenig später waren es schon drei der zierlichen Säuger, die, nachdem sie ihren Durst gestillt hatten, mit flinken Bewegungen davonhuschten.
Es verging etwas Zeit. Tarkin lag regungslos da und wartete, während die Sorge, die falsche Entscheidung gefällt zu haben, immer stärker in ihm wurde. Sein Zweifel war bereits so sehr angewachsen, daß er schon mit dem Gedanken spielte, seine Strategie zu ändern, als es ihn schlagartig durchzuckte: Ein Schatten war in sein Sichtfeld getreten, der sich über das Wasser beugte, und Tarkin wußte genau, daß es sich diesmal nicht um Kleinzeug handelte.
Er zögerte keine Sekunde. Den Überraschungseffekt ausnutzend katapultierte er sich mit einem mächtigen Satz aus seinem Versteck. Dann wechselte er in die Grundform und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Hallo Ioheki!“ sagte er.
Die überrumpelte Rhazaghani starrte ihn voller Entsetzen an. Tarkin sah, wie ihr Blick erschreckt hinauf zu seiner langen dunkelroten Haarmähne glitt, was keinen Zweifel daran ließ, daß sie wußte, wen sie vor sich hatte. Ihre Augen suchten hektisch nach einer Fluchtmöglichkeit, während sie vom Wasser zurückwich.
„Du, Clanführer Tarkin?“ entgegnete sie heiser. „Bist du sicher, daß du dich nicht in der falschen Gegend befindest? Die Vari liegen doch ein gutes Stück weiter westlich, oder irre ich mich?“
„Kein Vari-Gebiet.“ bestätigte Tarkin ruhig, während er sie nicht aus den Augen ließ. Er folgte ihr mit langen Schritten nach und gestattete nicht, daß sie den Abstand zu ihm auch nur geringfügig vergrößerte. „Kein Vari-Gebiet, doch die Dana sind immerhin recht nahe. Ich bin gekommen, um dir zu helfen, Ioheki!“
Sie krümmte sich ein wenig zusammen und ihr schmutziges Gesicht verzerrte sich vor Verzweiflung. „Die Hilfe von euch Clanführern kenne ich.“ zischte sie zurück. „Und ich lehne sie ab, hörst du? Euer Beistand besteht in nichts weiter als einem umgedrehten Hals. Sieh mich an, sehe ich so aus, als würde ich mich nach einem solchen Geschenk sehnen?“
Ohne jegliche Vorwarnung sprang Tarkin vorwärts, versetzte ihr einen wuchtigen Schlag gegen das Brustbein und riß sie zu Boden, noch ehe sie ihren initiierenden Atemzug auch nur halb durchgeführt hatte. Die meisten Rhazaghaner wechselten nicht so schnell und unbewußt wie er, und darum waren ihm die sich weitenden Pupillen seiner Kontrahentin nicht entgangen. Mit einem schnellen Griff packte er beide Arme der hilflos keuchenden Ioheki und riß sie auf den Rücken, dann faßte er nach ihrer Stirn und drückte ihren Kopf nach rückwärts vor seine Brust. Die Rhazaghani stöhnte in Erwartung des Kommenden vor Angst, dann öffnete sie den Mund, um noch ein letztes, krampfhaftes Mal Luft zu holen.
Tarkin beobachtete sie voller Mitleid. Er war selbst einmal in dieser Situation gewesen und erinnerte sich genau an das Gefühl, den vermeintlich letzten Atemzug in den Lungen zu spüren. Doch anders als sein damaliger Gegner beabsichtigte er nicht, den tödlichen Ruck auszuführen. Er hatte, was er wollte.
Behutsam gab er den Kopf seiner Gefangenen wieder frei und strich ihr über das verschmutzte, unordentliche Haar, während er sie weiter an sich gepreßt hielt. Es war überdeutlich, daß sie schon lange nicht mehr auf sich geachtet hatte.
„Ioheki,“ sprach er leise und beschwichtigend auf sie ein, „ich weiß, es tut weh, aber ich bitte dich, ich flehe dich an: Um unser beider Willen, bleib ruhig, nicht zornig werden. Du weißt, was das für Folgen hätte, und ich könnte mein Leben nur noch retten, indem ich dir das deine nehme. Es wäre mir gerade ein Leichtes gewesen, dich zu töten, aber es ist, wie ich sagte: Ich will dir helfen. Aber dafür brauche ich dein Vertrauen, Ioheki!“
Tarkin merkte, daß ihr die Luft zum Antworten fehlte; stattdessen hob sie ansatzweise den Kopf und versuchte zu ihm aufzublicken. Er nickte freundlich.
„Laß dir Zeit.“ redete er ihr gut zu. „Es wird bald besser gehen. Es ist allerdings möglich, daß du dich ein wenig gedulden mußt, bis es mit dem Wechseln wieder klappt. Spätestens heute nachmittag dürftest du jedoch wieder die vollständige Kontrolle über dich haben.“
Sein Blick glitt mitfühlend über den mageren Körper der Rhazaghani und bestätigte ihn in der Erkenntnis, daß sie sich in keinem besonders guten Zustand befand. An Armen und Beinen waren Narben zu erkennen, und an der Hüfte klaffte das Hüllbild auseinander und gab den Blick auf eine lange, entzündete Wunde frei. Mit einem Seufzer lockerte er seinen Griff, um sie anschließend so vorsichtig wie ein Kind in den Armen zu halten.
„Du...“ keuchte die Rhazaghani. „Du bist nicht gekommen, um...“ Dann versagte ihr wieder die Stimme.
„Nein.“ antwortete er sanft. „Ich habe gestern abend Clanführer Tybrang versprochen, dir beizustehen. Er wäre selbst gekommen, aber die Zeit drängte, und der Hangar der Numa ist erst seit kurzem im Bau. Darum hat er mich kontaktiert, weil er mich und mein Schiff auf Orbitwache wußte. Er hatte Glück; wir waren eigentlich gerade dabei, wieder unser Habitat anzusteuern. Also ließ ich mich hier in der Gegend absetzen und schickte Narhamak und meine Crew nach Hause.“
„Woher... wußtest du, wo... wo du mich finden würdest?“ platzte Ioheki heraus.
„Ich habe einen Hinweis von Tybrang bekommen.“ gab er zur Antwort. „Außerdem kenne ich das Dana-Gebiet und seine Umgebung ein wenig und weiß, welche Stellen geeignet sind, wenn man unentdeckt bleiben will. Alle weiteren Details sollten wir dann in Ruhe besprechen. Fühlst du dich wieder etwas besser?“
Vorsichtig streckte sie einen Arm aus, um tastend nach Halt zu suchen, und er hinderte sie nicht daran. Nach einem vergeblichen Versuch gelang es ihr dann, sich aus eigenen Kräften in die Sitzposition zu stemmen.
„Sehr gut!“ lobte er. „Beim Aufstehen solltest du dir allerdings von mir helfen lassen. Oder soll ich dich vielleicht doch lieber tragen?“
„Es geht schon!“ murmelte sie und wandte verschämt den Kopf zur Seite, während er sie auf die Beine stellte. Über zwei Jahre waren nun schon seit ihrer Flucht vergangen, und sie war es nicht mehr gewohnt, von jemandem rücksichtsvoll behandelt zu werden. Daß es sich bei dieser Person ausgerechnet um einen namhaften Clanführer handelte, machte die Angelegenheit nicht unbedingt faßbarer für sie.
Sie vorsichtig beim Gehen stützend begleitete Tarkin sie den Berg hinauf, bis sie schließlich vor der Öffnung unter den Felsen stehenblieben. Man konnte sie nicht einmal aufrecht passieren, sondern mußte in die Hocke gehen, um ins Innere zu gelangen.
„Das ist dein Unterschlupf?“ vergewisserte er sich mitfühlend. „Und du kommst damit zurecht?“
„Im Winter wird es sehr kalt.“ gab sie zur Antwort und schickte sich an hinein zu kriechen. „Sei willkommen! Bitte sei vorsichtig, tritt nicht auf sie!“ hörte er dann ihre Stimme von drinnen.
Etwas ratlos über die letzte Bemerkung folgte er ihr, den Blick nach unten gerichtet, als mehrere Bewegungen am Boden ihn auch schon bestürzt anhalten ließen. Im Dämmer erkannte er mindestens acht oder neun handgroße Aasspinnen, die ihm mit langen, flinken Beinen entgegengekrochen kamen. Einen Moment lang beobachtete er die in keiner Weise beunruhigt wirkenden Tiere, dann hob er den Kopf und schaute zu Ioheki hinüber.
„Du lebst mit ihnen zusammen?“ fragte er erschüttert, riß sich dann aber zusammen und machte den Durchgang frei. Nun erst fiel genug Licht in den hinteren Teil der Höhle, daß er ihre Gesichtszüge erkennen konnte.
Die Rhazaghani zuckte die Schultern und lächelte etwas verlegen.
„Sie kümmern sich um die Überreste meiner Mahlzeiten und halten auf diese Weise die Höhle sauber.“ setzte sie ihm auseinander. „Es bleiben nur die blanken Knochen übrig. Sie vertilgen blutsaugendes und krankmachendes Ungeziefer von meinem Lager. Sie haben ein friedliches Wesen, lieben die Gesellschaft und sorgen aufopfernd für ihren Nachwuchs, geradeso wie wir. Eines Tages werden sie sich wohl auch um meine Überreste kümmern.“ fügte sie in gefaßtem Tonfall hinzu.
Tarkin sah wieder hinunter auf Iohekis krabbelnden Anhang und schluckte. Er hatte sich oft gefragt, wie geflohene Achajis mit ihrer Einsamkeit fertig wurden, doch das hier hatte er nicht für möglich gehalten. Aber vermutlich war dies tatsächlich das einzige Mittel für einen Rhazaghaner, hier draußen nicht vollends den Verstand zu verlieren. Insgeheim hielt Tarkin es für keineswegs abwegig, daß Ioheki mit den Tieren redete.
„Was ist... was ist mit deinen Vorräten?“ wagte er einen unsicheren Einwand. Er warf noch einen vorsichtigen Blick unter sich, dann ließ er sich neben ihr auf das schlichte, aus Reisig und Fellen bestehende Lager nieder. „Wie bringst du es fertig, sie davon fern zu halten?“
„Vorräte?“ Sie hob verwundert die Brauen. „Hier oben legt man kaum Vorräte an. Es gibt nichts weiter als Kleinzeug, das man von einem Tag über den anderen erbeutet. Manchmal hat man Pech, dann hungert man. Ein anderes Mal hat man Glück, dann genügt es den Überschuß in einer nahen Schneewehe zu verstecken.“
„Ich verstehe!“ Tarkin nickte nachdenklich. Dann wies er unvermittelt auf die Verletzung an Iohekis Seite. „Und wie ist es dazu gekommen? Hattest du in dieser abgelegenen Gegend tatsächlich Ärger mit Räubern?“
„Ein Lark!“ Sie deutete auf ein größeres Bündel im Dunkel der Höhle. „Ich war krank und er alt und halb verhungert. Trotzdem ein Glücksfall; in den allerletzten Wintertagen half mir sein Fell die schlimmste Kälte aus der Höhle fortzuhalten.“
Sie betrachtete ihn neugierig, und das Lächeln in ihrem Gesicht wuchs, als ihr allmählich zu Bewußtsein kam, daß ein Rhazaghaner neben ihr saß; ein Rhazaghaner, der freundlich war, der sie ansah und mit ihr redete. Zögernd deutete sie auf ihr Brustbein, unter dem sich das Wechselorgan immer noch schmerzhaft bemerkbar machte.
„Dieser Schlag eben...“ setzte sie an. „Wie...“
„Ich weiß auch noch nicht sehr lange davon. Wie mir Darrab, unser Habitatsarzt, sagte, ziehen sich dadurch die Blutgefäße um das Murandral abrupt zusammen, und es kommt zu einer kurzfristigen Unterversorgung mit Sauerstoff. Das Ergebnis ist dann eine mehr oder weniger kurze Phase, in welcher der Betroffene nicht wechseln kann.“
„Ich habe noch nie etwas davon gehört. Wer hat es dir gezeigt?“
Er setzte ein etwas melancholisches Grinsen auf. „Ein Achaji wie du.“ gab er zu. „Ich bin ihm eines späten Abends bei den Numa auf der Habitatstreppe begegnet. Zu meinem Leidwesen reagierte er einen winzigen Augenblick schneller als ich, worauf ich die gleiche Erfahrung machen mußte wie du gerade eben. Anschließend hatte er mich am Kragen. Ich konnte von Glück sagen, daß ich einen flinken und mutigen Schüler hatte, der noch rechtzeitig zur Stelle war und den Kampf mit ihm aufnahm.“
„Ich verstehe nicht ganz.“ meldete sich Ioheki verwirrt. „Er hat dich angegriffen? Einfach so, ohne Grund, noch dazu auf der Habitatstreppe? Normalerweise...“
Er nickte. „Ja, ich weiß! Normalerweise ist dem Angriff eines Achajis irgend etwas vorausgegangen. Und das war es auch: Er war in verzweifelter Panik gewesen, denn er hatte gerade Laskani, seine Clanführerin, getötet. Sie hatte die Absicht gehabt, ihre letzte Pflicht an ihm zu erfüllen.“
Iohekis Augen wurden groß und nahmen einen Ausdruck von ehrlicher Betroffenheit an.
„Die alte Clanführerin Laskani lebt nicht mehr?“ fragte sie bekümmert. „Das habe ich nicht gewußt. Das ist ein schlimmer Verlust für die Dral ebenso wie für Rhazaghan. Sie war eine weise Führerin, eine Legende, und es hieß bei uns, Clanführerin Mongaris habe eine sehr hohe Meinung von ihr. Wann ist es passiert?“
„Vor etwas mehr als eineinhalb Jahren.“ antwortete Tarkin wahrheitsgemäß.
„Nein, das konnte ich nicht wissen.“ Ioheki seufzte und senkte den Kopf. „Ich habe überhaupt nichts mehr erfahren, seit...“
...seit dir diese entsetzliche Sache passierte und du fort mußtest, fort von den Sirk, fort aus der Nähe von Rhazaghanern. dachte Tarkin mitfühlend. Jahrzehnte der Selbstbeherrschung, zunichte gemacht in einem einzigen kurzen Augenblick des Wahnsinns. Ansonsten würdest du vielleicht immer noch dort leben, unerkannt, immer in Furcht, eines Tages die Kontrolle über dich zu verlieren. Was mag dir wohl manchmal durch den Kopf gegangen sein, wenn du deiner Clanführerin auf ihrem Gang durch das Habitat begegnet bist, Ioheki?
Er kannte Iohekis Fall recht gut. Zwar hatte er sich damals zusammen mit Mongaris und fünf anderen Clanführern auf Terra befunden, aber man hatte ihm später nach seiner Rückkehr einiges darüber berichtet. Zum Zeitpunkt der Tat hatten sich gleich mehrere Vari im Sirk-Habitat aufgehalten, und natürlich war reichlich über die schlimme Angelegenheit geredet worden.
Daß ausgerechnet Ioheki sich als Achaji herausgestellt hatte, erschütterte alle. Zwar hatte sie als eher ruhig und zurückhaltend gegolten, war jedoch innerhalb ihres Freundeskreises als gutmütig und hilfsbereit anerkannt, eine Rhazaghani, die sich bereitwillig an allen anfallenden Arbeiten beteiligte und sie gewissenhaft ausführte. Ganz im Gegensatz zum gängigen Bild eines Achajis als dem eines ungeselligen und argwöhnischen Eigenbrötlers nahm sie an Feiern teil, führte kurz nacheinander zwei unauffällige Partnerschaften und schloß sich hin und wieder den Jagdtrupps an, welche das Habitat verließen, um die Vorräte aufzufüllen. Nichts wies auf etwas Ungewöhnliches hin, als eines Tages Lamikis von den Ilb die Sirk-Wohnstätte betrat.
Auf Tybrang Wunsch hin hatten Eldriakim und Darrab begonnen, das wenige verfügbare Material auszuwerten, das über Achajis existierte, und aus dieser Zusammenarbeit waren ein paar interessante Theorien hervorgegangen. Zum Beispiel hegten beide Ärzte die Vermutung, daß ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Achaji-Opfer Srihajis waren. Srihaji - Unerwünschte - wurden auf Rhazaghan solche Individuen bezeichnet, die eine eingefleischte Neigung zu Provokation und Zank besaßen - ein Verhalten, das die rhazaghanische Gesellschaft nicht endlos lange zu tolerieren bereit war. Trieb es der Betreffende zu bunt, wurde ihm schließlich vom Clanführer nahegelegt, das Habitat zu wechseln, eine Aufforderung, die mit dem Rausschmiß und dem Verlust der angestammten Heimat gleichzusetzen war. Der Schock, der damit einher ging, wirkte sich meistens ausreichend disziplinierend auf die unverträgliche Person aus, um im neuen Habitat nicht mehr auffällig zu werden.
Freilich war es mit Lamikis noch nicht ganz so weit gekommen, aber sie ahnte, daß sie den Bogen in der letzten Zeit kräftig überspannt hatte. Aus dem Grund machte sie sich zu einem längeren Besuch bei den Sirk auf, wo sie noch als weitgehend unbeschriebenes Blatt gelten durfte.
In der allerersten Zeit nach ihrer Ankunft brachte sie es tatsächlich fertig, sich zurückzuhalten, dann gewann ihre streitsüchtige Natur wieder die Oberhand. Schon bald hatte sie sich bei ihrem ersten Jagdtrupp derart unbeliebt gemacht, daß man sie in eine andere Gruppe verschob. Und so traf es sich, daß sich bei der nächsten Jagd ein angehender Srihaji und ein unerkannter Achaji unter den Aufbrechenden befanden.
Wie Jagdführerin Kelbrint später berichtete, kam es schon nach wenigen Tagen zu Reibereien. Nach nur kurzer Beobachtungszeit hatte Lamikis die stille und unauffällige Ioheki als ideales Ziel für ihre Bosheiten ausgemacht, zumal leicht ersichtlich war, daß die junge Sirk Streitigkeiten fast krampfhaft aus dem Weg zu gehen versuchte. Die Sticheleien und hämischen Bemerkungen steigerten sich derart, daß Kelbrint sich zum Eingreifen genötigt sah, Lamikis kräftig zurechtwies und ihr androhte, sie bei weiteren Quälereien zum Habitat zurückzuschicken. Danach kehrte scheinbar Ruhe ein, bis der Trupp am nächsten Tag auf eine große Herde Quolongs stieß und seine Jagd begann.
Als sich die Gruppe wieder sammelte, fehlten zwei Personen. Beunruhigt machte sich Kelbrint mit einigen Leuten auf die Suche nach Ioheki und Lamikis, um nur wenig später auf einer Lichtung auf das zu stoßen, was von der Ilb übriggeblieben war.
Sich zusammenzureimen, was sich abgespielt haben mußte, war nicht weiter schwierig, ebenso wie klar war, daß Ioheki nicht zurückkehren würde. Niemand hatte Lust, sie zu verfolgen, und so nähte Kelbrint die Tote in die Haut eines Quolongs ein und machte sich mit ihrem Jagdtrupp auf den Weg nach Hause. Als sie vier Tage später dort eintraf, trat sie vor Mongaris´ Beraterstab und berichtete den schlimmen Vorfall, verschwieg oder beschönigte jedoch auch Lamikis´ Verhalten nicht. Nach längerer Diskussion entschied dann Trijat, der erste und angesehenste Berater von Mongaris, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Lamikis´ Körper wurde den Ilb übergeben, die ihn dem rhazaghanischen Brauch entsprechend auf der Habitatsspitze verbrannten.
Wie zornig mußt du auf sie gewesen sein. dachte Tarkin nachdenklich, während er die Sirk betrachtete. Es gehört einiges dazu, einen Rhazaghaner zu erschlagen, aber Lamikis´ Schädel war vollkommen zerschmettert worden. So als ob die Täterin einfach nicht mehr in der Lage gewesen wäre aufzuhören...
Seine Gedanken mußten sich während des gemeinsamen Schweigens auf seinem Gesicht abgezeichnet haben, denn plötzlich erkannte er, wie sich etwas in den Zügen seines Gegenübers veränderte. Ein fremdes, fiebrig wirkendes Glimmen trat in die Augen der Rhazaghani, ihre Zähne entblößten sich leicht, und Tarkin sah zum ersten Mal den Achaji ein kleines Stück ans Tageslicht treten. Hier stand Ioheki nicht mehr unter Zwang, ihn zu verbergen.
„Sie... sie war so gemein!“ zischte sie voller Abscheu. „Und sie hatte ihren Spaß daran. Ich habe versucht ihr auszuweichen, aber sie kam mir andauernd nach und machte über alles ihre widerlichen Bemerkungen, über jeden Handgriff, über meine Ungeschicklichkeit, meine zu langsamen Bewegungen, meine...“
„Ja, ich weiß!“ unterbrach Tarkin sie sanft. „Ich habe davon gehört und will sie auch nicht in Schutz nehmen. Aber sie ist tot, und du bist hier, und nun müssen wir sehen, was wir daraus machen.“ Er stockte einen Moment. „Sei ehrlich zu mir, Ioheki,“ setzte er dann vorsichtig an, „war es das erste und einzige Mal gewesen, daß du...“
Seine Frage war berechtigt. Es kam durchaus vor, daß die Tat eines Achajis nicht als solche erkannt wurde, sondern daß man von einem Unfall ausging. Besaß der Betreffende genug Intelligenz und Selbstbeherrschung, um sein Handeln zu vertuschen, konnten Jahrzehnte vergehen, bevor die Clangemeinschaft begriff, was sie da in den eigenen Reihen beherbergte: Ein Individuum, das durch seine Gene dazu verdammt war, eine tödliche Gefahr für Seinesgleichen darzustellen.
Ihr sonderbarer Gesichtsausdruck erlosch, der Achaji zog sich zurück in den Schatten, und Ioheki sah müde zu Boden.
„Ich habe immer auf mich aufgepaßt.“ erklärte sie mit hilflosem Schulterzucken. „Seit meiner Zeit als Heranwachsende, als es erwachte. Ich habe versucht, zwischen euch unterzutauchen, euch so ähnlich zu sein wie ich konnte. In glücklichen Zeiten brachte ich es sogar beinahe fertig, mich selbst zu täuschen.“
Tarkin nickte zufrieden. Diese Information war ihm wichtig gewesen. Nun aber wurde es allerhöchste Zeit, daß sie sich einem anderen Thema zuwandten.
„Ioheki,“ begann er langsam und schob vorsichtig eine der kühner gewordenen Spinnen von seinem Knie, „weißt du, warum ich hier bin?“
Sie musterte ihn einen Augenblick lang.
„Weil Clanführer Tybrang dich zu mir geschickt hat.“ antwortete sie dann. „Zumindest hast du mir das vorhin erzählt.“
Er nickte geduldig. „Und das stimmt auch, allerdings ist das erst der Anfang der Erklärung. Außerdem bin ich dir immer noch die Antwort auf deine Frage, wie ich dich finden konnte, schuldig. Und zwar ist es so, daß vor knapp vierzig Tagen ein Jagdtrupp der Dana das Gebiet hier durchquert hat. Sind sie dir aufgefallen?“
„Keine sonderlich große Gruppe.“ bestätigte sie seine Vermutung. „Etwa fünfundzwanzig Rhazaghaner, die meisten Zahnluum und Krallenluum. Ich habe mich zurückgezogen und gewartet, bis sie fort waren.“
„Ja, um diesen Trupp geht es. Sie sind auf eine deiner Fährten gestoßen, Ioheki. Und der Zufall wollte es, daß sich zwei Sirk unter ihnen befanden, die in der Lage waren, deine Witterung zu identifizieren.“
Die Rhazaghani starrte ihn an. „Sie haben sie erkannt?“ fragte sie bestürzt.
„Allerdings, das haben sie. Und natürlich hielten sie es für ihre Pflicht, Mongaris darüber zu informieren, daß du irgendwo hier deine Zuflucht gefunden hast. Sie ist deine Clanführerin, man kann also mit Recht sagen, daß die Nachricht sie unmittelbar anging. Als die Meldung im Sirk-Habitat eintraf, rief sie augenblicklich ihre Berater zu einem Meinungsaustausch zusammen. Nach dem, was ich über Umwege gehört habe, soll die darauffolgende Diskussion recht lebhaft gewesen sein.“
„Zu was für einer Entscheidung ist Mongaris gelangt?“ fragte Ioheki ängstlich.
Tarkin beugte sich vor und sah ihr ernst in die Augen. „Sie ist hierher unterwegs.“ antwortete er aufrichtig. „Sie ist fest entschlossen, ihre Pflicht an dir zu erfüllen. Ich konnte ihr nur deshalb zuvorkommen, weil ein Numa die Aufregung im Sirk-Habitat mitbekommen hat. Glücklicherweise handelt es sich um einen zähen und ausdauernden Flieger; er hat die ganze Strecke zwischen Sirk und Numa-Habitat auf einmal zurückgelegt, weil er überzeugt war, daß die Neuigkeit seinen Clanführer interessieren würde. In der Tat hatte Tybrang kaum davon erfahren, als er sich auch schon mit mir in Verbindung setzte. Nun weißt du also, warum ich dir einen kleinen Besuch abgestattet habe.“
Ioheki hatte sich voller Entsetzen erhoben.
„Aber dann... dann muß ich weg von hier, auf der Stelle.“ stammelte sie und blickte gehetzt zum Höhleneingang, als erwarte sie dort bereits eine große achtunggebietende Gestalt stehen zu sehen. „Du wirst mich nicht an sie verraten, nicht wahr?“ flehte sie Tarkin in einer Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung an. „Wenn ich mich jetzt sofort aufmache...“
„...würdest du wahrscheinlich die Angelegenheit beschleunigen und ihr geradewegs in die Arme laufen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube kaum, daß du zu diesem Zeitpunkt schon wieder in der Lage bist zu wechseln, und selbst wenn:“ Er wies bezeichnend an ihr hinunter. „Schau dich an! Du befindest dich in einem viel zu schlechten Zustand, um die Strapazen einer Flucht durchzuhalten. Mittlerweile dürfte sich Mongaris schon hier in der Gegend befinden, und jetzt, da sich der Dunst aufgelöst hat, wird eine Schwinge auch über größte Entfernungen gesehen. Ganz zu schweigen von der Idee, die Sache auf Beinen angehen zu wollen. Falls du...“
„Man müßte es einfach versuchen.“ unterbrach sie ihn heftig. „Ich bin schon zwei Jahre hier draußen, ich kenne mich hier aus. Wenn ich nur einen kleinen Vorsprung hätte...“
„Ioheki!“ sagte Tarkin langsam und eindringlich. „Mongaris ist nicht allein. Sie hat Disbarn mit auf die Suche genommen.“
Auf diese Eröffnung hin stand sie mehrere Momente lang regungslos da und starrte ihn an. Schließlich ließ sie sich langsam wieder auf ihr Lager sinken.
„Dann ist es aus!“ stöhnte sie. „Selbst wenn ich mich auf dem Höhepunkt meines Lebens befände, würde mich Disbarn wie einen Tschilk vom Himmel holen. Nichts und niemand ist in der Lage ihm zu entkommen. Ich weiß nicht, ob du ihn kennst, Clanführer Tarkin; er ist seit beinahe drei Jahrzehnten der beste und stärkste Jagdführer von ganz Rhazaghan, und das wird auch noch lange so bleiben.“
Tarkin richtete seinen Blick geradeaus und sah vor sich hin. „Doch.“ murmelte er. „Doch, ich kenne ihn.“
Sie lehnte sich vor und betrachtete ihn zaghaft von der Seite. „Was hast du vor?“ stieß sie ihn bittend an. „Du hast doch bestimmt irgend etwas vor, Clanführer Tarkin? Nicht wahr, du bist nicht hergekommen, um mich ihnen einfach zu übergeben?“
Er blinzelte ein wenig, dann wandte er ihr den Kopf zu. Gleich darauf sah er sie an und lächelte.
„Nein, natürlich nicht.“ beruhigte er sie. „Ich habe vielmehr die Absicht, mit Mongaris zu sprechen. Sie kennt mich gut; wir haben in mehreren heiklen Situationen zusammengearbeitet und ich weiß, daß sie meinen Rat schätzt. Ich bin zuversichtlich, daß es möglich sein wird, sie zu überzeugen, immerhin lebst du hier draußen und kannst kaum jemandem gefährlich werden. Es wird sich bestimmt eine gute und vernünftige Lösung für alle Seiten finden lassen, allerdings halte ich es doch für besser, wenn du dich ein Stück von hier zurückziehst und mich erst einmal allein mit Mongaris verhandeln läßt. Vielleicht wird es ein bißchen dauern, aber sobald wir zu einer Einigung gekommen sind, werde ich dich zu uns rufen. Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, wirst du zukünftig in Frieden leben und dich nicht mehr vor Verfolgung fürchten müssen.“
„Kein Verstecken mehr!“ In Iohekis Augen leuchtete es sehnsüchtig und hoffnungsvoll auf. „Glaubst du wirklich, daß du das erreichen kannst?“
„Wie gesagt, ich zweifle eigentlich nicht daran.“ Er stand auf und reckte sich, soweit es die beengten Verhältnisse erlaubten. „Und jetzt würde ich sagen, du gehst und überläßt alles weitere mir. Wo wirst du dich in der Zwischenzeit aufhalten?“
Sie überlegte kurz. „Ein Stückchen bergauf von hier.“ schlug sie vor. Nacheinander krochen sie zurück ans Tageslicht, und Ioheki zeigte zu einer etwas dichter bewaldeten Stelle, die in einiger Entfernung zu erkennen war.
„Ausgezeichnet!“ befand Tarkin zufrieden. Gleich darauf schaute er zu, wie sie unter merklicher Anstrengung den steilen Hang hinaufkletterte. Erst als sie außer Sicht geraten war, drehte er sich um und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den unteren Teil des Berges. Die Sicht war recht gut von hier aus, und auch wenn die Vegetation einiges an Deckung für eine Annäherung bot, zweifelte er doch nicht daran, daß Mongaris ihn rasch bemerken und von selbst auf ihn zukommen würde. Zu diesem Zweck würde es das beste sein, wenn er sich gut sichtbar in der Nähe von Iohekis Unterschlupf plazierte.
Es war nicht schwer, eine geeignete Stelle zu finden. Nur wenige Schritte weiter unten lag ein rissiger, von der Sonne gebleichter Stamm eines gestürzten Nadelbaumes. Hier ließ Tarkin sich nieder und begann aufmerksam Himmel und Umgebung zu beobachten.

Ein gutes Stück weiter unten, am Fuße des Berges, war ein Rish-Tik-Tik eifrig dabei, einen morschen, von Maden halb zerfressenen Baumstumpf aufzubrechen. Zwischendurch hielt das Tierchen immer wieder in seinen Bemühungen inne, richtete sich auf und ließ wachsam seine Ohren spielen. Anschließend setzte es scharrend und beißend seine Bemühungen fort.
Es hatte sich gerade wieder beruhigt seiner Tätigkeit zugewandt, als nur wenige Schritte entfernt eine riesige schwarze Gestalt den Schatten unter den Bäumen verließ. Lautlos strich sie vorbei und wurde erst von dem kleinen Arbeiter bemerkt, als sie sich schon wieder etwas entfernt hatte. Das Rish-Tik-Tik duckte sich vor Entsetzen, ergriff im nächsten Augenblick in wilder Panik die Flucht und raste in weiten Sätzen in den Wald hinein, wo es sich auf der höchsten Spitze eines Baumes in Sicherheit brachte.
Seine Angst war unnötig gewesen. Der dunkle Jäger hatte nicht einmal den Kopf nach ihm gewandt. Er war damit beschäftigt, einer anderen Fährte zu folgen.
Bald verließ er die dichteren Baumbestände, stieg unbeirrt immer weiter den Berg hinauf und erreichte schließlich jenen Platz, an welcher der kleine Wasserlauf die Felswand hinunterplätscherte. Mit langsamen Schritten und gesenktem Schädel umrundete er die überströmte Stelle, während seiner Nase nicht die geringste der zahlreichen Geruchsbotschaften entging.
Als er zu den Sträuchern gelangte, unter denen Tarkin auf der Lauer gelegen hatte, legte er deutlich sichtbar die Ohren an. Ohne noch weiter auf seine Deckung zu achten folgte er den beiden Fährten, die dicht nebeneinander den Hang hinaufführten.

Tarkin saß da und blinzelte in die Frühlingssonne, noch immer froh und überrascht, daß sich seine Aufgabe so leicht und unblutig hatte lösen lassen. Vor seiner Begegnung mit Ioheki hatten sich seine gesamten Erfahrungen mit Achajis auf Kiardal beschränkt, einen Rhazaghaner, dessen Existenz vier Artgenossen das Leben gekostet hatte und den lebenslange Angst und Verzweiflung halb in den Wahnsinn getrieben hatten. Die sonst so starke rhazaghanische Tötungshemmung war bei dem Unglücklichen im Laufe der Jahre beinahe zu einem Nichts zusammengeschrumpft, was ihn zu einem hilflosen Opfer seiner Aggressionen gemacht hatte. Ioheki hingegen schien in der Lage zu sein, durchaus massive Kontrolle über sich auszuüben, und in Tarkin erwachte die Frage, wodurch dieser auffällige Unterschied wohl zu erklären war.
Lag es vielleicht daran, daß es sich bei Ioheki um eine Rhazaghani handelte? Der Vari glaubte nicht so recht daran. Die Verhaltensmuster von männlichen und weiblichen Rhazaghanern unterschieden sich in nur geringem Maße voneinander, sah man einmal von Schwangeren und Müttern in der Hütephase ab. Tatsächlich wiesen Letztere sogar ein erhöhtes Aggressionspotential auf, bis sich ihr Hormonspiegel dann wieder normalisiert hatte. Die Antwort mußte also höchstwahrscheinlich woanders gesucht werden.
Hing sie möglicherweise mit Iohekis niedrigerem Alter zusammen? Tarkin rechnete kurz nach und kam zu dem Schluß, daß Kiardal fast drei Jahrzehnte früher zum Mörder geworden war als Ioheki und in ihrem Alter schon zweimal getötet hatte. Hinzu kam der Umstand, daß verhältnismäßig harmlose Vorfälle Kiardals Natur hatten durchbrechen lassen, während die Sirk zuvor auf das heftigste provoziert worden war.
Der Rhazaghaner überlegte. Freilich hatte Ioheki ihre Artgenossen nicht gemieden und sogar einen verhältnismäßig geselligen Lebensstil gepflegt. Dagegen hatte sich Kiardal aus Furcht vor Kontrollverlust schon früh an den äußersten Rand der Gemeinschaft zurückgezogen. War es tatsächlich möglich, daß sich ein solches Verhalten derart verhängnisvoll auswirken konnte?
Das Problem war, daß man kaum etwas über Achajis wußte. Die einzigen, die hätten Auskunft geben können, waren die Betroffenen selbst, doch sobald man einen von ihnen als das erkannt hatte, was er war, entsann sich der Clanführer seiner entsetzlichen, stets zutiefst verhaßten Pflicht. Er schaltete die tödliche Gefahr aus und verschloß damit gleichzeitig einen Mund für immer. Bei allem Mitleid, das dem Unglücklichen entgegengebracht wurde: Was er während seines Lebens gefühlt, gedacht und durchlitten hatte, blieb ein Geheimnis, und eine Mischung aus Unsicherheit, Trauer und vielleicht auch Scham sorgte dafür, daß das Thema im Clan gemieden wurde. Alles was blieb war die gängige Überzeugung, daß es keine andere Möglichkeit gegeben hatte, die Gemeinschaft zu schützen.
Aber in diesem Fall war alles anders abgelaufen. Ioheki lebte, und im Gegensatz zu den wenigen Achajis, denen eine Flucht geglückt war, war ihr Aufenthaltsort bekannt. Darrab und Eldriakim würden darauf brennen mit ihr zu sprechen, würden sie vielleicht sogar regelmäßig aufsuchen wollen. Die Zeit, in der die junge Sirk auf die Gesellschaft von Aasspinnen angewiesen war, hätte damit ein Ende. Tarkin faßte den Entschluß, mit Mongaris über eine Verbesserung von Iohekis Lebensbedingungen zu sprechen. Wahrscheinlich würde die Clanführerin dabei zunächst die Frage ihrer zukünftigen Wohnumgebung diskutieren wollen, eine zugegebenermaßen recht heikle Angelegenheit. Tarkin war froh, daß er sich schon am Vortag darüber Gedanken gemacht und bereits einen ersten Schritt in die Wege geleitet hatte. Wenn tatsächlich alles so ablief, wie er es sich erhoffte, würden sie dieses Thema rasch als erledigt abhaken können. Mit einer Enttäuschung war eigentlich kaum zu rechnen, schließlich gab es auf ganz Rhazaghan keine gutmütigere und warmherzigere...
Tarkin unterbrach schlagartig seine Gedankengänge, als er sah, wie etwas weiter unten ein muskelbepackter schwarzer Schatten das Buschwerk verließ. Kein Zweifel, es war soweit; Iohekis Versteck war gefunden.
Der Vari beobachtete, wie die wuchtige Gestalt sich mit ruhigen und zielstrebigen Schritten näherte, dabei hielt er mit zunehmender Unruhe Ausschau nach Mongaris. Er kannte Disbarn gut genug um zu wissen, daß er seiner Clanführerin niemals vorgreifen würde, wenn er sie irgendwo in der Nähe wußte. Daß er allein hier auftauchte, konnte nur eines bedeuten: Mongaris und ihr Erster Jagdführer hatten sich bei der Verfolgung mehrerer Fährten getrennt. Gleichzeitig ließ Disbarns Mangel an Zurückhaltung zwei Schlüsse zu: Zum einen mußte Mongaris ihn mit einigen Kompetenzen ausgestattet haben, und zum anderen hatte er begriffen, aus welchem Grund sich der Vari hier aufhielt. Offenbar hatte er die Spuren am Wasser gefunden und sich alles weitere zusammengereimt. Nun blieb Tarkin nichts anderes übrig als Zeit zu gewinnen, bis sich Mongaris ebenfalls an dieser Stelle einfand.
Als Disbarn die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, wechselte er in die Grundform und legte den Rest der Strecke ohne sichtbare Eile zurück. Wie selbstverständlich nahm er auf Tarkins Baumstamm Platz, ließ seine Augen in aller Ruhe über den tiefer gelegenen Wald wandern und warf schließlich dem neben ihm sitzenden Vari einen kurzen, prüfenden Seitenblick zu.
„Immer noch zu leicht.“ lautete sein knappes Urteil. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder der Umgebung, während Tarkin spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß.
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