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Der Mann über dem Abgrund

von Heidi Peake

Kapitel 1

Sie fragten ihn: „Wie kamst du an diesen Ort.“

„Ich bin gefallen“, antwortete er.

„Doch es ist ein hoher Ort, du kannst ihn nicht durch Fallen erreichen.“

„Um alles zu erreichen, was möglich ist, muss man das Unmögliche versuchen.“

Sie fragten ihn: „Hast du gefunden, nach was du suchtest?“

„Die Propheten geben dir nicht immer das, was du verlangst“, sagte der Mann über dem Abgrund.

Aus ‘Der Mann über dem Abgrund’, frühe Schriften.

„Wie konntest du es wagen, mein Leben zu leben!“ Vom östlichsten Punkt des Klosters, von dem einen großen Fenster in seinem Quartier war es gerade noch möglich, die Spitze der Steinsäule zu sehen, die einzeln in einer tiefen Schlucht stand. Sie zeigte in den Himmel wie der Finger eines Gottes. Bareil war sich sicher, dass es sich um den Mittelfinger handelte.

Er wandte dem Ausblick seinen Rücken zu und warf das Buch, das er gelesen hatte, quer durch den Raum. Es traf die gegenüberliegende Wand ohne viel Lärm zu machen und flatterte dann anmutig zu Boden. Nicht einmal leblose Gegenstände schienen gewillt zu sein, ihm in seiner Frustration zu helfen.

Am Ende war er zum Kloster gekommen. Es war unausweichlich gewesen. Sie hatten ihn mit enthusiastischer Freundlichkeit empfangen und hatten ihm diese Räume hier gegeben. Doch schließlich - nachdem sie ihn gebadet und gekleidet und gespeist und mit all dem spirituellen Lesestoff, den er sich nur hätte wünschen können, versorgt hatten - schließlich hatten sie ihn allein gelassen.

Offiziell war er gekommen, um sich selbst zu finden. In Wahrheit war er hergekommen, um sie alle los zu sein: Die Bajoraner, die sich verhielten, als könne er auf Wasser laufen. Der Starfleet Captain, der darauf bestanden hatte, ihn wie einen alten Freund zu behandeln. Und Kira Nerys, die das nicht tat.

Mehr als er vor sich selbst zugeben wollte ärgerte ihn das: Dass die Liebe, die sie ihm so zärtlich und großzügig angeboten hatte, nicht wirklich alleine auf seiner Person beruhte. Natürlich war es nicht so, dass er sie liebte. Er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart, zugegeben. Er wollte sie, natürlich, vielleicht würde er sie eines Tages lieben. Wenn man ihm Zeit ließ, würde er das definitiv tun. Dennoch würde ihre Liebe immer reserviert sein für den Mann, dem er ähnlich sah, doch der er nicht war.

Bareil, der Priester, Bareil der Heilige, Bareil, der sein Leben für das Wohl Bajors gegeben hatte, Bareil, der durch das Eis gebrochen war, mit welchem sie ihr Herz umgeben hatte und der sie gelehrt hatte zu lächeln.

Und alles, was er war, war Bareil, der Dieb.

Keine große Charakterbeschreibung für ein Leben. Er hatte niemals nach etwas Verlangen gehabt, das man sich nicht irgendwie aneignen konnte, irgendetwas Materielles, das man in die Hand nehmen und forttragen konnte. Es hatte ihm nie an etwas gefehlt. Nun, da er einem Leben von billiger Dieberei entkommen war hin zu einem Ort, der einem Paradies ähnelte, fehlte es ihm an allem. Nachdem ihm all die materiellen Güter gegeben worden waren, die er sich hätte wünschen können, fühlte er sich ohne Sinn.

Natürlich war er anfangs von den Freundschaften, die an ihn herangetragen worden waren, berührt gewesen. Er hatte die Schmeichelei genossen. Und vor allem hatte er ihre Liebe willkommen geheißen. Doch er kannte diese Leute nicht, er konnte den Glauben nicht begreifen, der sie definierte, und er war nicht der Mann, den Kira verloren hatte, ganz gleich, wie sehr er es auch versuchen mochte. Er wünschte, er könnte die Aufmerksamkeiten um seiner selbst willen annehmen, nicht wegen dem, was ein anderer einmal gewesen war.

Bareil, der Dieb, war einfach niemand, der diese Geschenke verdiente.

Er trat zum Spiegel hinüber und schenkte seiner Reflexion einen zweifelnden Blick. Wie gesetzt er in den einfachen Gewändern wirkte, welche die Prylaren ihm zur Verfügung gestellt hatten, beinahe würdig. Er studierte das Bild des Mannes im Spiegel und versucht sich ihn in einer  roten Vedek Robe vorzustellen. Es sah falsch aus. Langsam ließ er den Kopf sinken, bis seine Stirn das Glas berührte, seine ausgestreckte Hand hielt Kontakt mit seinem eigenen Spiegelbild.

„Wer bist du?“, wisperte er. „Und was hast du getan, dass sie dich alle so lieben?“

Ein leises Klopfen ertönte, fast augenblicklich gefolgt von sanften Schritten.

Er zog eine Grimasse, als er sich vom Spiegel fort drückte. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher die Prylaren kamen und gingen, war etwas, an das er sich nur sehr schwer gewöhnte. Er war es gewohnt, dass ein Anklopfen die Bitte um Einlaß anzeigte, nicht aber den Umstand, dass jemand hereinkommen würde, ganz gleich, was man gerade tat. Als er versuchte, dem Prylar nicht misstrauisch zu begegnen, dachte er bei sich selbst, dass ein Kloster wohl kaum der Ort war, an dem man Dinge tat, bei denen man überrascht werden konnte.

„Haben die Schriften Sie erleuchtet?“ fragte der junge Mann mit einem raschen Blick zu dem misshandelten Buch auf dem Boden.

Bareil seufzte. Die Geduld dieser Leute im Angesicht der regelmäßig umgeworfenen Möbel, zerbrochenen Teller und demolierten Bücher in diesem Raum war bewundernswert. ‘Er ringt mit seinem Glauben’, hatte er sie zueinander in geflüsterten Worten sagen hören.

Nun, das tat er. Im übertragenen wie im wörtlichen Sinn.

„Es ist der Fels, nicht wahr?“ fragte er mit einem Nicken zum Fenster.

Der Prylar neigte seinen Kopf in einem kurzen Aufwall von Stolz. „Ja, es ist der höchste Punkt in der östlichen Landschaft. Dennoch hat man ihn dort sitzend gefunden.“

„Diese Geschichte ist also wahr, hm?“ Er konnte seine Belustigung ob der offensichtlichen Ehrfurcht des jungen Mannes vor der Legende nicht ganz verstecken. „Was im Namen der Propheten hat ihn veranlasst, dort hinauf zu klettern?“

Die Frage hatte er eigentlich sich selbst gestellt, dennoch erhielt er die einfache Antwort augenblicklich. „Glauben.“

Bareil hatte seine Aufmerksamkeit nun dem Fenster zugewandt und studierte die Felsoberfläche mit geübtem Auge. „Ich würde sagen, man braucht auch eine gute Muskelausstattung dazu.“

„Oh nein, Muskeln können nicht helfen.“ Im Gegensatz zu seinem sonst zurückhaltenden Wesen, trat der Prylar an seine Seite und zeigte auf das Monument. „Sehen Sie, unterhalb des Vorsprungs ist glatter Felsen.“

„Sie haben es versucht?“ fragte Bareil mit einem Lächeln.

Die Wangen des Prylar verfärbten sich. „Nein, nein, niemand hat das“, dann erwiderte er das Lächeln, wenn auch scheu, „Aber ich denke, wir alle waren dort, um es uns anzusehen.“

Ein Gedanke begann sich in Bareils sorgenvollem Geist zu regen, entfernt noch, doch sehr lockend.

„Er ist also auch nie oben gewesen?“, bemerkte er beiläufig.

„Wer?“

„Sie wissen, wer. Vedek Heilig!“

„Wie ich sagte, es ist unmöglich. Sehen Sie, es gibt keinen Weg hinauf.“

Er sah es. Doch für einen Dieb existierte kein Weg hinein oder hinauf nicht.

* * *

Er war in der Dämmerung aufgebrochen, um ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen, und er hatte es fast augenblicklich bereut. Diese frühen Stunden waren die Zeit des Dämmerlichts, doch sie waren auch die Zeit des Frosts und des Morgennebels, welche die Finger umhüllten, die Muskeln versteiften und Fels in Seife verwandelten. Er unterdrückte einen Fluch, als seine Hand einmal mehr von ihrem Halt ausrutschte, nur um hart und schmerzerfüllt gegen eine kleine Felsspitze zu prallen.

Anfangs war der Aufstieges einfach gewesen, eine willkommene Herausforderung für Muskeln und Reflexe, die eingelullt worden waren in seinen Versuchen, den Pfad eines anderen zu wandeln. Hier, an der kalten, feuchten Oberfläche des Felsens hängend, mit all seinen Instinkten und Fähigkeiten auf die eine Aufgabe hin ausgerichtet fühlte er sich erregend lebendig.

Um herauszufinden, wer er in dieser Welt der Wunder werden konnte, musste er erst herausfinden, wer er war. Was immer die Tugenden des anderen Mannes gewesen waren, welche Wunder dieser auch immer erreicht haben mochte, er war hilflos in einer Krankenstation gestorben. Sein Körper hatte Teil für Teil seine Funktionen eingestellt. Niemand würde jemals Bareil den Dieb der Gnade von Ärzten ausgeliefert finden.

Er drückte sich ein wenig weiter, seine Augen suchten schon die Oberfläche über ihm nach möglichen Fußstützen ab, seine Finger glitten über den Fels auf der Suche nach Rissen, um sich darin festzuhalten. Hier, etwa in halber Höhe der Steinsäule, änderte sich die Beschaffenheit des Gesteins: Den Elementen direkter ausgeliefert, hatte es sanft ihrem Ansturm nachgegeben und jede Unebenheit ausgeglättet.

Es ging auf Mittag zu und die Sonne wärmte den Stein, trocknete die Feuchtigkeit des Morgens aus und mit ihr die schützenden Schatten. Er hatte den östlichen Aufstieg gewählt, um zu vermeiden, vom Kloster gesehen zu werden, wo sein Fehlen ohne Zweifel schon bemerkt worden war, und um sich so gut wie möglich vor der Sonne zu schützen. Es war nicht die Jahreszeit großer Hitze. Doch mit nur dem warmen aufnahmefähigen Stein als Schutz vor der direkten Strahlung begannen das irritierende Licht und die zunehmende Trockenheit ihren Tribut zu fordern.

Er hatte Wasser und energiereiches Essen eingepackt, - doch das hing nun nutzlos in einer Tasche über seinem Rücken. Essen und Wasser waren nur dann eine gute Idee, wenn man eine Möglichkeit fand, sich irgendwo zu setzen und sie zu konsumieren. Oder zumindest die Möglichkeit, eine Hand vom Fels zu nehmen. Er versuchte wieder hinaufzusehen, wo er geglaubt hatte, einen schmalen Vorsprung ausmachen zu können, doch die Sonne schien ihm nun direkt in die Augen und ließ ihn faktisch blind zurück.

Dennoch machte er weiter.

Er konnte sich mit der rauen Oberfläche, gegen die er gepresst stand, verbunden fühlen. Er konnte sich mit dem Schmerz in seinen Muskeln identifizieren, als er einmal mehr die Schwerkraft besiegte und ein paar weitere Zentimeter wett machte. Er fühlte sich sogar dem seltsamen Geruch des staubigen Felsens zugehörig - im selben Maß, wie es ihm unmöglich war, sich einem Bajor verbunden zu fühlen, das von einem Mann mitgeformt worden war, den er niemals zu verstehen hoffen konnte. Es war alles erfühlbar, erfahrbar, real und es brachte ihn Schritt für Schritt näher an den einen Ort, der nicht von der Gegenwart Vedek Bareils berührt worden war, den einen Ort, an dem er nur Bareil Antos sein konnte.

Ein schmerzhafter Schlag versicherte ihm der Existenz des Vorsprungs, als sein Kopf blind über seine Hände hinaus drückte und daran stieß. Dankbar fasste er die Kante und hievte sich selbst hinauf. Es war nicht mehr als ein schmaler Rand, der am Fels entlang lief. Immerhin bot er aber eine Möglichkeit um auszuruhen. Er kauerte sich auf dem Vorsprung zusammen und fingerte nach seinem Proviant, wobei er einen ersten Blick auf seine Umgebung wagte. Der Ausblick war eher enttäuschend. Von der halben Höhe des Monuments aus waren das Meiste, was er sah, die Wände der umgebenden Schlucht. Da es unklug gewesen wäre, nach unten zu sehen, suchte er sich ein kleines Gebüsch an der gegenüberliegenden Wand und fokussierte dies, während er aß. Er machte sich erst wieder an den Aufstieg, als er sicher gehen konnte, dass die Sonne sich weit genug über die Spitze der Säule bewegt hatte, damit er etwas sehen konnte. Seine protestierenden Muskeln ignorierend begann er, sich erneut vorwärts zu bewegen.

Für eine Weile sah es so aus, als habe die kurze Rast ihm wieder genügend Energie gegeben, um einen zügigen Aufstieg zu erlauben, und einmal mehr verspürte er das intensive Gefühl, eins zu sein mit seiner Umgebung, er fühlte die Felsoberfläche, während er sich an ihr entlang bewegte, sich jede Unebenheit zum Vorteil machte. Das Monument bot ihm etwas Konkretes, auf das er sich konzentrieren konnte, um seinen von existentieller Suche gequälten Geist auszuruhen. Hier auf dem Felsen war es genug, Bareil der Dieb zu sein.

Doch dann verschwand das Licht langsam und er schien sich immer noch weit entfernt von der Spitze zu befinden, die Realität seiner Erschöpfung begann die starrsinnige Entschlossenheit durchzuhalten zu besiegen, und er hatte den Punkt erreicht, von dem aus es wahrlich kein Weiterkommen mehr zu geben schien. Soweit das verblassende Licht ihn das einschätzen ließ, war er von kargem, glattem Gestein umgeben.

Zum ersten Mal seit Beginn seines Aufstiegs begannen sich in ihm Zweifel ob der Weisheit seines Unterfangens zu regen. Eng an den nun wieder abkühlenden Fels gepresst, wagte er einen vorsichtigen Blick an seinen Füßen vorbei. Er stand auf dem schmalsten First über einem Abgrund. Der Weg, den er erklommen hatte, war schon keine Alternative mehr, weil er ihn nicht mehr länger deutlich ausmachen konnte. Das einzige Licht befand sich nun über ihm, und dessen sterbende Helligkeit begann, mit den Schatten zu spielen, ließ Risse, die zu schmal für seine Finger waren, breit erscheinen, verbarg andere völlig vor seiner Sicht.

Er wurde sich plötzlich bewusst, dass, er, auch wenn er es zur Spitze schaffen sollte, keine Möglichkeit hatte, wieder hinunter zu gelangen.

‚Wie hat der Mann über dem Abgrund seine Geschichte erzählen können?’ fragte er sich mit bitterem Humor. Die Schriften berichteten einem nie etwas über die wirklich wundersamen Dinge.

Da nach oben im Augenblick keine Option war, entschied er sich für seitwärts in der Hoffnung auf etwas anderes als glasglatten Fels zu stoßen. Eine Weile schien das Glück auf seiner Seite zu sein, und er fand eine schmale Spalte, die langsames, aber sicheres Vorwärtskommen erlaubte. Am oberen Ende der Spalte bekamen seine Finger einen Überhang zu fassen, dann schwang sein Fuß nach einem festen Tritt aus und berührte nichts als Schatten. Er rutschte langsam und kämpfte um irgendeine Art von Halt, doch die Bewegung verschlimmerte seine Situation nur noch. Mit beiden Händen um das dünne Stück Fels geklammert und den Zehen eines Fußes immer noch im oberen Ende der Spalte kam er schließlich zum Stillstand. Sein Gewicht hing beinahe vollständig an seinen Fingern, die Fußstütze war nur gut genug, um ihn vom Schwingen abzuhalten. Der Zug, den dies auf seinen Oberkörper ausübte, beeinflusste allmählich seine ohnehin schon angeschlagene Atmung.

Mit kalter Klarheit realisierte Bareil, dass er wenig Chance hatte, aus dieser Position wieder herauszukommen, und so gut wie überhaupt keine, es darin für eine längere Zeit auszuhalten. Dies war also der Weg, den er gewählt hatte: Nicht auf einem Krankenbett dahinvegetieren, weil das Schicksal von vielen das Leben eines einzelnen überwog, sondern von einem isolierten Fels zu fallen in der Mitte von nirgendwo auf einem Bajor, dessen Verständnis er vehement bekämpft hatte, und welches seinen Tod nicht einmal bemerken würde.

Man sagte, dass es Hoffnung gibt, so lange es Leben gibt. Im Angesicht der Unwahrscheinlichkeit fand er die heftig lodernde Überzeugung in sich, dass dies nicht die Art war, wie sein Leben enden würde. Er zwang sich, seine nicht benutzten Muskeln zu entspannen, um die Energie auf Arme, Finger und das Atmen alleine zu konzentrieren - und er begann, auf ein Wunder zu warten.

* * *

„Was heißt das, Sie wissen nicht, wo er ist?“ Kira Nerys stand leicht betäubt in dem kleinen Raum, der aussah, als ob darin kürzlich ein Kampf stattgefunden hätte, und versuchte ihr Bestes, nicht die Fassung in der Gegenwart eines Vedeks zu verlieren.

„Wir sorgen für seine Bedürfnisse, doch wir wachen nicht über jeden Schritt, den er geht“, erklärte dieser geduldig.

„Es sieht nicht so aus als ob Sie wachen müssten!“ Sie schloss mit einer vagen Geste die Unordnung ein. „Sie müssten nur hören!“

„Unser Bruder Antos fühlte sich oft entmutigt im Angesicht der Propheten.“

„Also hat er Stühle nach ihnen geworfen?“ Es klang nicht nach Bareil. Es klang nicht nach dem Bareil, den sie gekannt hatte, korrigierte sie sich schweigend. „Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?“

„Ein Prylar sprach mit ihm kurz vor dem letzten Sonnenuntergang. Er las in den Schriften.“

Kiras Blick war auf das Buch gefallen. „Der Mann über dem Abgrund“, las sie laut. „Ich glaube nicht, dass ich das kenne.“

„Es stammt aus den frühen Schriften. Mit der Hilfe der Propheten hat Kai Timon als junger Mann das Monument erstiegen und Erleuchtung gefunden.“

„Das Monument?“ Kira schenkte dem Vedek nur einen Teil ihrer Aufmerksamkeit, ihr Blick war vom Anblick des Sonnenuntergangs gefangen, der die steilen Berge zu beiden Seiten der Schlucht in rosiges Licht tauchte. In deren Mitte, dramatisch gegen den orangen Himmel abgesetzt, stand eine einzelne Felssäule, die sich sogar über die umgebenden Berge erhob. Kira betrachtete sie mit Faszination.

„Ist das ein Pilgerort?“

Der Vedek lächelte. „Nur von der Ferne. Er kann nicht bestiegen werden. Es gibt einen Punkt, an welchem der Fels so glatt wie Glas wird.“

Der Nachhall eines Gedankens formte sich in ihrem Bewusstsein. „Wusste er das?“, fragte sie langsam.

„Ja, man hat es ihm gesagt.“

„Oh, nein!“

* * *

Nur das Licht hatte ihn mit einem Gefühl für die vergehende Zeit ausgestattet, doch dieses war verloschen. Seit einiger Zeit konnte er nicht einmal raten, wie lange er schon in der Dunkelheit hing. Die aufkommende Kälte der Nacht schlich sich in seine Muskeln. Er hieß die Kälte willkommen, denn sie betäubte den Schmerz und ließ sein Bewusstsein frei, um sich auf das Gefühl lebendig zu sein zu konzentrieren. Der rationale Teil seines Gehirns machte ihm klar, dass die wenige Nahrung, die er heute zu sich genommen hatte, ihn nicht für immer erhalten würde. Er machte ihm klar, dass mittlerweile seine Abwesenheit sicherlich registriert worden war, und dass vielleicht sogar jemand erraten haben konnte, wohin er gegangen war. Doch die sinkende Sonne hatte alle Hoffnung mit sich genommen, dass ihn jemand vor dem nächsten Morgen finden würde. Er machte ihm ebenfalls klar, dass er am nächsten Morgen nicht mehr länger hier sein würde.

Der rationale Teil seines Gehirns war etwas, das ihn im Augenblick überhaupt nicht beschäftigte.

Er war lebendig. Er fühlte keinen Hunger, oder Kälte, oder überhaupt irgendetwas, doch er fühlte, dass er immer noch durchhielt. Es musste einen Grund dafür geben. Er war aufgebrochen, um die Grenzen dessen zu finden, was er auf dieser Welt darstellen konnte, und er war gegen festen Fels angetreten. Er hatte wissen wollen, ob die Götter dieses Bajor Interesse an seinem Existenzkampf zeigen würden, und zumindest zum Teil war sein Wunsch erhört worden. Hier an diesem Stück Fels hängend war er sich so sicher wie niemals zuvor in seinem Leben, dass er nicht sterben wollte.

Nicht hier.

Nicht jetzt.

Nach einer Weile realisierte er, dass die Taubheit seine Finger erreichte. Er konnte nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob sein Griff noch fest war. Nicht ohne hinzusehen. Langsam, um nicht seinen Körper in Bewegung zu versetzen, begann er, den Kopf in Richtung der linken Hand zu drehen. Seine Finger waren fest um den Fels geschlossen, das Weiß seiner Knöchel war sogar im fahlen Mondlicht erkennbar. Er konnte auch eine Spur von schimmernder, feuchter Dunkelheit ausmachen, die in feinen Linien zwischen seinen Knöcheln hinunter lief.

Er schloss seine Augen und versuchte, das Bild zu vertreiben.

Dann wandte sich sein Kopf langsam zu seiner Rechten. Dort waren seine Finger ebenfalls um den Stein gekrallt, leicht zitternd - und über seinen Fingern befand sich der Vorsprung.     Mehrere Dinge wurden ihm gleichzeitig bewusst: Dass der Vorsprung groß genug war, um ihn auszuhalten, dass er nur eine Armbreite von seiner jetzigen Position entfernt war - und dass er nicht imstande sein sollte, ihn zu sehen.

Er war zuvor nicht dort gewesen. Er konnte nicht. Bareil hätte ihn bemerkt. Auf jeden Fall hätte er den Mann bemerkt, der auf der glatten Oberfläche saß und ihn betrachtete. Er hieß die angenehme Freiheit des Deliriums mit einem Lachen willkommen, immer noch bedacht, seinen Körper dabei nicht zu sehr zu bewegen.

Während er die Erscheinung anlächelte, fragte er: „Wie sind Sie dort hingekommen?“

„Ich bin gefallen“, antwortete der Mann.

Es war eine seltsame Vertrautheit in der Stimme, ein Versprechen auf Ruhe und Verständnis, welches Zweifel, Angst und sogar die Hoffnung hinfort trieb. Gegen jedes bessere Wissen löste Bareil langsam die Finger seiner rechten Hand und kämpfte gegen den stechenden Schmerz an, seine gefrorenen Muskeln wiederzubeleben. Allmählich ließ er von dem Felsen ab, streckte seinen Arm dem Vorsprung entgegen, nur um ihn knapp zu verfehlen.

„Ich kann nicht zu Ihnen kommen“, sagte er.

Der andere Mann hob seinen Kopf und erwiderte das Lächeln. „Nein“, stimmte er zu, „Das kannst du nicht.“

Und Bareil löste die Finger seiner linken Hand und ließ ab vom Fleisch, den Knochen, den Muskeln und der Erinnerung, die am Gestein hing.

Er ließ den Felsen los.

* * *

Gefangen im immerwährenden Prozess des Loslassens und Umfangens saß die zusammengekauerte Figur eines Mannes: Fleisch und Knochen, Muskeln und Erinnerung, nicht mehr, nicht weniger. Auf der Felssäule über dem Abgrund ließ er ab von dem Zustand, den er für das Leben hielt, um denjenigen zu umfangen, den er für Leere gehalten hatte.

Mit dem Aufgehen der Sonne erstreckte sich die Gesamtheit von Bajor unter und um ihn herum, er konnte den Teil des Lebens, der sich über die Oberfläche bewegt, erwachen sehen, und er konnte alles davon fühlen. Er streckte die Hände aus und berührte die Berge. Diese Erfahrung erfüllte ihn mit Freude. Er trank die kalte Morgenluft.

Und als der Gleiter schließlich kam, fanden sie ihn lächelnd.

Er nahm die helfenden Hände an, den warmen Mantel, der rasch über seine Schultern geworfen wurde, und er hieß die leidenschaftliche Umarmung willkommen, mit welcher Kira sich gegen ihn presste.

„Was für eine idiotische, idiotische Unternehmung.“ Die Tränen der Erleichterung waren nur zu deutlich in ihrer Stimme hörbar, als sie ihr Gesicht an seinem Hals verbarg. Er ließ seine Hände über ihren Rücken gleiten und genoss für einen Moment einfach nur dieses Gefühl. „Wie, im Namen der Propheten, bist du dort hinauf gekommen?“

Er blickte ihren Kopf an, der immer noch halb an seiner Schulter verborgen war, dann die Gesichter der Prylaren, die nach ihm gesucht hatten, und er stellte fest, dass die Frage ihn verwunderte.

„Ich bin gefallen“, sagte er.

Kira befreite sich langsam aus seinen Armen, und nahm wieder ein wenig Haltung an.

„Ich kann dir nicht ganz folgen. Dies ist der höchste Punkt...“

Statt einer Antwort nahm er ihre Hand und presste sie lächelnd gegen seine Wange. „Ich will nicht, dass du mir folgst, Nerys“, sagte er. „Sei nur an meiner Seite.“

Sein Körper hungerte nach Erholung und so gab er den Verlockungen der Hilfe nach und erlaubte den anderen, ihn zu einem Sitz zu führen, wo ein Prylar schon mit einer Tasse voll dampfender Flüssigkeit auf ihn wartete. Dankbar nahm er das aromatische Getränk von dem jungen Mann an, den er nun als seinen letzten Gesprächspartner im Kloster erkannte. Die Furchtsamkeit, mit welcher dieser sich ihm näherte, amüsierte Bareil. Mit einem Wink bedeutete er dem jungen Mann, zu ihm zu kommen, und als dieser sich zu ihm hinunter lehnte, wisperte er: „Nichts ist unmöglich.“

Der Prylar schien für einen Moment wie betäubt, dann nahm er sich ein Herz und kniete sich neben den Sitz nieder. Er fragte die eine Frage, die ihn beschäftigte: „Haben Sie gefunden, nach was Sie gesucht haben?“

Zu seiner Überraschung begann Bareil zu lachen.

„Die Propheten geben uns nicht immer das, nach dem wir gefragt haben“, sagte der Mann über dem Abgrund.

„Doch sie werden uns das geben, was wir brauchen“, sagte Bareil.

Ende

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