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Über die Schwelle

von Gabi

Kapitel 2

 

Die wissenschaftliche Leiterin, Commander Reka Kesmarki, staunte nicht schlecht, als an diesem Vormittag der Sicherheitschef und Hekate bei ihr in Labor eins auftauchten. Dass die beiden gemeinsam auftraten war an der Tagesordnung, daran hatte sich die gesamte Crew bereits gewöhnt. Doch dass Cerovic nervös wirkte, war ein absolutes Novum. Sie konnte sich nicht daran erinnern, den Offizier jemals mit einer anderen Miene als seinem alles überschauenden, verschlossenen und leicht arrogant wirkenden Blick erlebt zu haben.

 

 

 

„Avram. Hast du was Falsches gegessen?“ Die Terranerin warf ihren kastanienbraunen langen Zopf über die Schulter zurück.

 

 

 

Der missbilligende Blick, den sie dafür erhielt, war wieder ganz der typische Cerovic. „Wir haben ein Problem, das eine gewisse Diskretion verlangt, und bei dem du uns helfen kannst.“ Es war überraschend, wie selbstverständlich aus Hekates Problem sein Problem geworden war.

 

 

 

Kesmarkis Brauen hoben sich, woraufhin Cerovic sich bemüßigt fühlte hinzuzufügen: „Und die Richtung, in die du jetzt denkst, kannst du dir gleich wieder abschminken.“

 

 

 

„Woher willst du denn wissen …“ Die Wissenschaftlerin stockte. Ihre Brauen wanderten noch ein kleines Bisschen weiter hinauf. „Du sondierst! Seit wann sondierst du?“

 

 

 

Cerovic nickte mit dem Kinn in Hekates Richtung.

 

 

 

„Was machst du mit diesem Mann?“, wandte sich Kesmarki an die Mora. „Ich erkenne ihn nicht wieder.“ Sie bemerkte, wie Hekates Fühler vor und zurück zuckten. „Okay, keine Scherze mehr. Was ist los? Und wie kann ich helfen…?“

 

 

 

 

 

 

 

Einige Zeit später saß Kesmarki mit einem elektronischen Stift und zwei PADDs bewaffnet an ihrem Arbeitsplatz, reservierte Laborzeit, Hochleistungsbiosensoren und Prozessorkapazität. Sie wirkte fast noch aufgeregter als Hekate, wenn auch aus völlig anderen Gründen.

 

 

 

„Es ist dir wirklich recht, wenn ich die Metamorphose überwache?“, erkundigte sie sich zum wahrscheinlich fünften Mal innerhalb der letzten Minuten ohne aufzublicken. „Ich meine … das ist etwas sehr Persönliches … aber Himmel! Diese Chance! Das ist einzigartig, ich meine … Die Metamorphose einer Mora vom Juvenil- zum Adultstadium. Das ist …“ Sie scrollte auf ihrem PADD, setzte weitere Häkchen und hatte anscheinend völlig vergessen, dass da noch ein Satz im Raum stand, den es zu beenden galt.

 

 

 

Hekate blickte zu Cerovic. Der nickte nur.

 

 

 

„Ja, natürlich, Reka“, erklärte die Mora. „Ich fühle mich sogar ein wenig sicherer, wenn meine Lebenszeichen überwacht werden … falls etwas schief geht …“

 

 

 

Nun blickte die wissenschaftliche Leiterin doch auf. Sie lächelte entschuldigend. „Ich tu mein Bestes, Hekate. Allerdings fehlen mir natürlich jegliche Referenzen, was deine Normalwerte während der Metamorphose angeht.“

 

 

 

Ich überwache dich“, erklärte Cerovic ernst.

 

 

 

Kesmarki schüttelte den Kopf, nicht weil sie seine Aussagen anzweifelte. „Ich kann mich nur immer wieder wiederholen: Was hast du mit dem Mann gemacht? Seit wann kümmert er sich um andere?“

 

 

 

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Ich kümmer mich immer um andere. Das ist mein Job!“

 

 

 

„Du verteidigst Prinzipien, Avram“, erklärte Kesmarki. Sie erhob sich und bedeutete den beiden, sich ihr anzuschließen. „Darin bist du ausgezeichnet, ein hervorragender Sicherheitschef und Soldat.“ Sie blieb kurz auf seiner Höhe stehen, um ihm in die Augen zu sehen. „Aber das hier gehört nicht einmal im Entferntesten zu deiner Stellenbeschreibung. Dafür braucht es keiner tadellosen Ausbildung, dafür braucht es eines guten Kerls.“

 

 

 

Sein Mundwinkel zuckte leicht. „Und du willst sagen, dass ich kein guter Kerl bin?“

 

 

 

Sie ging an ihm vorbei und verabreichte ihm dabei einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. „Du weißt, was ich meine.“ Dann verließ sie das Labor.

 

 

 

Die anderen folgten ihr über den Korridor zwei Türen weiter zur Rechten. Zwei Laborassistenten kamen ihnen mit Geräten entgegen. „Der Raum steht Ihnen zur Verfügung, Commander“, erklärte der zweite mit einem Blick über die Schulter zurück.

 

 

 

„Danke.“ Sie betrat den nun freien Raum und wandte sich dann den beiden zu. „Labor siebzehn steht euch zur Verfügung. Hekate, schieß los, was brauchst du? Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Geräusche, Gegenstände …“

 

 

 

Während die Mora sich noch in dem Raum umsah, betraten bereits wieder wissenschaftliche Assistenten das Labor, brachten die von Kesmarki angeforderten Bioscanner und begannen mit der Kalibrierung. Die wissenschaftliche Leiterin machte sich daran, Cerovic die Funktionsweise der Geräte zu erklären.

 

 

 

Hekates Fühler bewegten sich hektisch hin und her. Sie schmiegte sich eng an den Sicherheitschef, während sie die Betriebsamkeit in dem kleinen Raum beobachtete.

 

 

 

Cerovic schnipste einmal, was in der Lautstärke einem Klatschen nahe kam. Alle Köpfe wandten sich ihm zu. „Fertig?“

 

 

 

„Einen Augenblick noch.“ Unter dem inquisitorischen Blick des Sicherheitschefs beeilten sich die Crewmitglieder mit den letzten Justierungen.

 

 

 

„Dann alle Wissenschaftler raus.“ Cerovic deutete auf die Tür. „Reka, du hast sicherlich draußen die Datenverbindungen zu prüfen. Ihr macht Hekate nervös. Was sie jetzt braucht …“

 

 

 

„… ist ein Stoiker, schon klar.“ Kesmarki ließ ein knappes Grinsen sehen. Sie nickte ihren Leuten zu, dass sie gemeinsam den Raum verlassen sollten. Über die Schulter fügte sie noch hinzu: „Ich schreib deinen Dienstplan für die nächsten vier Tage um, Avram, und informiere den Captain.“

 

 

 

„Danke.“

 

 

 

Ein wesentlich sanfteres Lächeln hatte sie für die Mora übrig „Viel Erfolg, Hekate. Wir sehen uns auf der anderen Seite der Schwelle!“

 

 

 

Als sie endlich alleine waren, setzte sich Hekate in der Mitte des Labors auf den Boden. Cerovic kniete vor ihr nieder und nahm zwei ihrer Hände in die seinen. „Was soll ich tun?“

 

 

 

Wahrscheinlich ohne sich dessen bewusst zu sein, begannen ihre Finger wieder auf seiner Haut zu tanzen. „Ich muss einen Kokon spinnen. Du musst mir helfen, die Drüsen zur Produktion zu stimulieren, das kann ich nicht selbst.“

 

 

 

Er blickte sie fragend an.

 

 

 

„Du musst …“ Sie blickte an sich hinab und schien erst jetzt den Trommeltanz zu realisieren, den ihre Finger auf seinem Körper aufführten.

 

 

 

Er empfing das empathische Äquivalent eines entschuldigenden Lächelns.

 

 

 

„… das hier machen.“

 

 

 

Nachdenklich hob Cerovic eine Hand und betrachtete seine fünf Finger, die im Verhältnis zu den jeweils drei langgliedrigen Fortsätzen an Hekates Händen kurz und ungeschickt wirkten. „Wenn ich das hinbekomme… Wo?“

 

 

 

Sie nahm eine seiner Hände und führte sie auf eine ihrer Abdominalplatten, dann legte sie seine andere Hand spiegelbildlich daneben. „Kurz und rasch.“ Sie selbst lehnte ihren Thorax nach hinten und stützte sich mit den vier Armen auf dem Boden auf.

 

 

 

Cerovic war heilfroh, dass sie sich alleine im Labor befanden. Hierfür brauchte er wahrlich keine Zeugen. Er hatte sich bislang für recht unbefangen gehalten und wurde nun in seinem Selbstbild eines Besseren belehrt. Für einen Moment wünschte er sich sehnlichst in den Trainingsraum an den Schießstand. Dann hatte er sich wieder im Griff und begann zögerlich mit dem Tappen der Fingerkuppen.

 

 

 

„Rascher!“, wies Hekate ihn an.

 

 

 

Er schloss die Augen und konzentrierte sich gänzlich auf seine empathischen Sinne und ihre Stimme. Als er den richtigen Rhythmus gefunden hatte, konnte er es augenblicklich an ihrer Ausstrahlung spüren. Ihre Zufriedenheit floss über ihn hinweg und ließ ihn lächeln. Auch als er hörte, dass sie ihre Arme bewegte, hielt er die Augen weiterhin geschlossen, um sich nicht ablenken zu lassen. Es dauerte eine ganze Weile, in der er das ermüdende Gefühl ignorierte, das durch die ungewohnte Bewegung der Fingermuskeln hervorgerufen wurde. Endlich hörte er sie sagen: „Das ist genug, die Produktion läuft jetzt.“ Er öffnete die Augen wieder. Sein Blick fiel auf seine Hände, die immer noch auf den Abdominalplatten lagen. Nach wie vor bekam er das Gefühl nicht los, Hekate in gewisser Weise unsittlich zu berühren. Dabei hatte er nicht einmal die geringste Ahnung, wo sich bei einer Mora überhaupt die Genitalbereiche befinden könnten. Das war ein Thema, über das sie nie gesprochen hatten, und bei dem er auch keinerlei Drang verspürte, mehr darüber zu erfahren.

 

 

 

Hekate ließ ihr hochfrequentes Lachen hören. Natürlich spürte sie die Erhöhung der Körpertemperatur, die bei ihm mit dem Erleben einer für ihn peinlichen Situation einherging. „Hilfst du mir mit den Fäden?“

 

 

 

Er konnte sehen, dass die äußeren Ränder der beiden Abdominalplatten sich ein wenig angehoben hatten, darunter, in ungeschütztem, sehr weich wirkendem, Gewebe lagen zwei Reihen von Düsen, die silbrigweiße, klebrige Fäden hervor pressten.

 

 

 

Hekate nahm diese Fäden auf beiden Seiten mit jeweils zwei Händen ab. Ihre langen Finger bewegten sich flink und geschickt, während sie ein netzartiges Gebilde daraus erschufen.

 

 

 

Cerovic beobachtete sie fasziniert. Zwölf Finger und vier Arme bewegten sich wie ein organischer Webstuhl, ohne sich oder die Fäden dabei zu verknoten. Er hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, wie Insekten oder Spinnen ihre feine Arbeit bewerkstelligten. In Zukunft würde er der Natur ein wenig ehrfurchtsvoller gegenüber stehen.

 

 

 

„Wie?“

 

 

 

„Wenn ich die Grundplatte fertig habe, muss ich die Wände hochziehen. Du formst von außen, ich von innen, damit es fest genug wird.“ Hekate hatte eine kleine Schicht der Fäden zu einer planen, halbwegs runden Form verwoben. Sie legte diese auf den Boden und setzte sich mit überkreuzten Beinen darauf. „Das wird ein wenig dauern, da wir nur zu zweit sind.“

 

 

 

Er beugte sich vor und hielt seine Hände so, wie sie es ihm zeigte, als sie damit begann, die ersten Bahnen in der Vertikalen zu weben. „Ich habe alle Zeit der Welt für dich.“

 

 

 

Für einen Moment hielt sie inne.

 

 

 

Er konnte die ehrliche Zuneigung spüren. „Danke.“

 

 

 

 

 

 

 

Es waren Stunden, in denen sie damit beschäftigt waren, einen sicheren Kokon um Hekate herum zu errichten. Erst zog Cerovic die Uniformjacke aus, dann den dünnen Rollkragenpulli in der Abteilungsfarbe, schließlich modellierte er nur noch in kurzem T-Shirt an dem mannshohen Kokon und schwitzte immer noch. Die Raumtemperatur war mittlerweile erhöht worden, da Hekate während der Metamorphose ihren Stoffwechsel herunterfuhr. Auch die Luftfeuchtigkeit hatte das angenehme Maß überschritten, um die Austrocknung des empfindlichen Gewebes unterhalb der Chitinschicht zu verhindern. Cerovic sah sich vor vier Tagen Camping im Dschungel.

 

 

 

Er strich sich dunkle Strähnen aus der Stirn und wischte dann die Handflächen an der Uniformhose ab. „Von hier außen sieht das jetzt okay aus.“ Er hob die Stimme ein wenig an, da er nicht wusste, in wieweit  Schall den geschlossenen Kokon durchdringen konnte. Von Hekate war nun nichts mehr zu sehen. Lediglich ein überdimensionales Ei aus getrockneten Fäden dominierte das Zentrum des kleinen Labors.

 

 

 

„Hier innen auch“, erklang ihre körperlose Stimme.

 

 

 

Schweigen. Er konnte spüren, dass die Angst in ihr wieder zunahm, und dieses Mal hatte er keine Möglichkeit, sie durch seine physische Gegenwart zu trösten.

 

 

 

„Was jetzt?“, versuchte er sie auf die faktische Abfolge zu lenken. „Ist es in Ordnung, wenn ich die Bioscanner einrichte?“

 

 

 

Er spürte ihr Nicken mehr als dass er eine Zustimmung hörte.

 

 

 

„Okay, Reka hat mir gesagt, wie ich sie stellen muss …“ Er begleitete jeden seiner Handgriffe, für ihn ungewöhnlich, mit Worten, damit sie seine Stimme hören konnte. Schließlich aktivierte er das Signal, das Commander Kesmarki in deren Labor mitteilte, dass hier alles aufgebaut war, und sie mit dem Monitorieren beginnen konnte.

 

 

 

„Was jetzt?“, fragte er.

 

 

 

„Ich versuche mich in einen Trancezustand zu bringen. Ich werde dann bewusst nichts mehr wahrnehmen, aber ich werde deine Gegenwart weiterhin spüren.“

 

 

 

„Was soll ich machen?“ Er ließ sich vor dem Kokon im Schneidersitz nieder. Später würde er sich eine Feldmatratze kommen lassen und etwas zum Lesen. Es war ihm noch nicht klar, wie er die Zeit totschlagen sollte, wenn er sich hier vier Tage lang aufhielt.

 

 

 

„Sei einfach da.“

 

 

 

„Ich bin da.“

 

 

 

 

 

Und er war da. Es wurden vier der schwierigsten Tage, die der Sicherheitschef jemals erlebt hatte. Er hatte in seiner Ausbildung und in zahlreichen Fortbildungen einiges an körperlich fordernden Situationen durchgestanden, war bis an seine Schmerzgrenze und darüber hinaus gegangen. Doch es war immer physisch gewesen. Dieses Mal ging er durch ein emotionales Wechselbad, von dem er nicht wusste, wie er dagegen angehen konnte. Mehr als ein Mal stand er kurz davor, seine empathischen Sinne zurückzuziehen. Für ihn, der es gewohnt war, seine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten und sich um diejenigen anderer wenig zu kümmern, war es unerträglich, direkter Zeuge von Hekates aufgewühlter Verwirrung zu werden. Mehrfach war er aus dem Schlaf geschreckt, weil das plötzliche Aufwallen von Furcht so intensiv gewesen war, dass es ihn selbst in der Tiefschlafphase erreicht hatte. Hekate wusste nicht, wer sie war, wo sie war und was auf sie zukam.

 

 

 

Er konnte regelrecht fühlen, wie sich ihr Bewusstsein auflöste, an Substanz verlor. Sie war wie ein verängstigter Geist in einem Glaskasten, in dem es nur glatte Barrieren gab, ganz gleich, wohin ihre suchenden Finger tasteten.

 

 

 

Stunden verbrachte er damit, einfach nur vor dem Kokon auf- und abzuwandern, um seinen Kreislauf in Schwung zu halten. Die Idee, die Zeit zu nutzen, um in Ruhe die Testberichte der Mark IV Prototypen zu lesen, hatte sich als kontraproduktiv herausgestellt. Sobald er damit begann, sich auf Waffenfunktionen zu konzentrieren, wurde Hekates Ausstrahlung noch aufgewühlter. Beim ersten Mal hatte er es noch für Zufall gehalten, doch rasch stellte sich heraus, dass der Effekt reproduzierbar war.

 

 

 

Daraufhin bemühte Cerovic sich mit all seiner Kraft beruhigend auf ihren Geist einzuwirken. In seiner Verzweiflung begann er sogar damit, romantische Gedichte zu lesen, die ihm gar nicht zusagten. Doch er merkte, dass es ihm immer schwerer fiel. Die ungewohnte emotionale Belastung setzte ihm auch körperlich zu. Am dritten Tag hatte sich ein Bartschatten auf seinen Wangen gebildet und dunkle Ringe hatten sich unter seine Augen gelegt.

 

 

 

Er sehnte die Zeiten herbei, in denen Commander Kesmarki oder Captain Odhran ihn besuchen kamen, ein wenig mit ihm sprachen, ihm frische Sachen brachten. Doch diese Augenblicke waren nicht von langer Dauer, denn er hatte den Eindruck, dass Hekates Bewusstsein panischer wurde, wenn er sich eine Zeitlang nicht völlig auf sie konzentrierte. Selbst die kleine angrenzende Toilette mit Waschgelegenheit besuchte er so kurzzeitig wie möglich, um sich dann wieder auf seine Feldmatratze vor den Kokon zu setzen. Wenn das hier vorbei war, würde er erst einmal einen Tag durchschlafen. Das nahm er sich fest vor.

 

 

 

Gegen Mittag des vierten Tages kam die Veränderung. Es geschah so übergangslos und bar jeder Vorwarnung, dass es ihn im wahrsten Sinn des Wortes umwarf.

 

 

 

Als wäre eine Hülle gerissen strahlte Gewissheit auf, überflutete seine Sinne und vertrieb die emotionale Anstrengung der letzten Tage. Es war ein Moment unfassbarer Schönheit, unbeschreiblicher Klarheit; wie der erste Sonnenstrahl, der sich nach langen Tagen des Regens durch die Wolkendecke wagte.

 

 

 

Cerovic spürte etwas auf seiner Brust auftropfen und erkannte mit nicht geringer Verwunderung, dass er weinte. Verwirrt hob er die Hand und strich die Feuchtigkeit mit den Fingerknöcheln fort. „Hekate?“ Er flüsterte den Namen, versuchte ihn nicht mit Worten, sondern in seinem Geist zu bilden.

 

 

 

Das, was er bislang als die Essenz der Mora wahrgenommen hatte, war nicht mehr da. Die Verwirrung, die Unsicherheit, die er so sehr mit der zierlichen Insektoiden in Verbindung gebracht hatte, waren verschwunden. Was sich ihm bot, war eine klare Selbstsicherheit, die ihn beinahe überwältigte.

 

 

 

„Avram.“ Er hörte nicht ihre Stimme, er hörte ihren Geist. „Ich bin erwacht.“

 

 

 

Er beugte sich nach vorne und begann von außen die Struktur des Kokons mit den Fingern einzureißen. Von innen machte Hekate dasselbe. Als sich das erste Loch gebildet hatte, ging es einfacher. Von außen griffen humanoide Finger nach innen und zogen an den Rändern, von innen reichten chitinummantelte Gliedmaßen nach außen und zerrten die Öffnung größer.

 

 

 

Schließlich gab das Gebilde den Scherkräften nach und zerriss über seiner gesamten Höhe.

 

 

 

Cerovic ließ sich ein wenig zurückfallen, um Hekate Raum für den Ausstieg zu geben.

 

 

 

Sie war größer geworden, die schillernden Farben ihrer Hülle intensiver, die gesamte Struktur ihres Körpers noch feingliedriger. Die großen Facettenaugen, die nun beinahe schwarz waren, fixierten den erschöpften Mann für einen Moment, dann zerteilte eine scharfe Bewegung die Luft und an ihrem Rücken entfalteten sich zwei Flügelpaare. Es waren nicht mehr die kleinen Stummelflügel, die Hekate, die bisherige Hekate, manches Mal ausgebreitet hatte, um Witterungen über die Luft aufzunehmen. Zu mehr waren sie nicht zu gebrauchen gewesen.

 

 

 

Ein flirrendes Geräusch erfüllte das Labor, als sie ihre neuen Flügel in rascher Frequenz bewegte, um sie zu fühlen, ihre Funktion zu testen. Sie waren transparent, filigran und erzeugten dennoch den Eindruck von Festigkeit. Ihr bläulicher und grünlicher Schimmer reflektierte unter dem Strahl der Laborlampen. Entfernt erinnerten sie an die Flügel einer großen Libelle.

 

 

 

„Du kannst fliegen!“, bemerkte Cerovic fasziniert, als die Mora einen halben Meter vom Boden abhob. Auch wenn er es nicht hörte, konnte er ihr Lachen spüren.

 

 

 

„Ich kann fliegen!“ Sie bewegte sich vorsichtig auf ihn zu und setzte direkt vor ihm wieder auf den Füßen auf. „Danke!“

 

 

 

Wie zuvor schon überflutete ihre Dankbarkeit seinen Geist; kraftvoll und sicher wie er sie noch nie erlebt hatte. Cerovic musste feststellen, dass er es nicht wagte, den Arm zu heben, um sie zu berühren. Sie war so anders, so ebenbürtig. Er musste die empathische Verbindung kappen, wenn er seine stoische Ruhe von vor vier Tagen zurückerlangen wollte. Doch etwas in ihm hielt ihn noch davon zurück; nur noch ein paar Minuten, nur noch ein wenig länger dieses Wunder der Metamorphose spüren.

 

 

 

„Bist du noch Hekate?“

 

 

 

„Ich bin noch Hekate – und mehr.“

 

 

 

Sie hob ihre vier Arme. Sie musste sich nun nicht mehr nach oben strecken, wenn sie seine Schultern berühren wollte. Sie standen sich einander auf Augenhöhe gegenüber.

 

 

 

Immer noch nur im kurzen Standard-Sternenflotten-T-Shirt spürte er ihre Berührungen auf seinen bloßen Armen intensiv, weit intensiver als das bislang der Fall gewesen war. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, was diese Metamorphose noch bedeutete: Sie war vom Mädchen zur Frau geworden.

 

 

 

Er konnte nicht verhindern, dass er in einem ersten Reflex einen Schritt nach hinten von ihr weg tat.

 

 

 

Glücklicherweise öffnete sich in diesem Moment die Tür zum Labor. Commander Kesmarki und Captain Odhran traten ein und entbanden ihn einer Erklärung für seine rüde Reaktion.

 

 

 

„Hekate, das ist fantastisch! Reka hat mich gerade von der Brücke gerufen, dass es soweit ist.“ Der Captain umrundete die Mora in gebührendem Abstand, um sie sich von allen Seiten anzusehen. Seine wasserhellen Augen strahlten vor wissenschaftlicher Begeisterung. „Wir hatten keine Ahnung, dass die Mora mehrere Entwicklungsstadien durchlaufen. Ach, was sage ich da?“ Er schlug sich gutmütig vor die Stirn. „Wir hatten überhaupt keine Ahnung von den Mora. Punkt.“ Er blieb hinter ihr stehen, wo er die Flügel bewunderte. „Du kannst fliegen! Wer hätte das gedacht?“ Er grinste. „Völlig nutzlos auf einem Raumschiff, aber ein riesiger Vorteil auf Außenmissionen.“

 

 

 

„Ich muss gestehen, dass ich mich sehr darauf freue, meine neue Fähigkeit unter freiem Himmel auszuprobieren“, erklärte Hekate. Zwar wurde ihre Stimme immer noch leicht blechern übersetzt, doch selbst der Computer brachte es fertig, mehr Selbstvertrauen in die Intonation zu legen.

 

 

 

Der Captain hatte sie einmal umrundet und kam nun neben Cerovic zu Stehen. Er legte seinem Sicherheitschef den Arm um die Schulter. „Sieht sie nicht fantastisch aus, Avram?“

 

 

 

Cerovic atmete tief durch. Er hatte mit Eintreten seiner beiden Vorgesetzten die empathischen Sinne ausgeschaltet. Für den Moment hatte er genug von Gefühlen. Immer noch verspürte er Unsicherheit, doch sie stammte nicht mehr länger von Hekate. „Ja, tut sie.“

 

 

 

„Du hingegen“, Odhran drückte ihn freundschaftlich, „siehst aus, als hätte dich ein großer, böser Wolf durchgekaut und wieder ausgespuckt.“

 

 

 

„Wenn du meinst, Captain.“ Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht und spürte Bartstoppeln, die dort nichts verloren hatten. Er sehnte sich nach seinem Bett, einer langen Dusche und dann nach der Einsamkeit seines Trainingsraums. Wenn er wieder wach war, würde er seinen Körper solange antreiben, bis das einzige Gefühl, das er noch empfinden würde, dasjenige eines ordentlichen Muskelkaters war.

 

 

 

„Avram!“, sagte Odhran nachdrücklich, als er merkte, dass er mit seinem freundlichen Spott nicht zu seinem Sicherheitschef durchdrang, „Du warst vorbildlich! Mann! Du kannst dir sicher sein, dass ich dafür sorgen werde, dass das, was du hier für Hekate getan hast, lobend in deiner Personalakte stehen wird. Das war voller Einsatz! Ohne dich hätte sie das nicht geschafft …“ Der Captain wandte den Kopf zu der neben ihnen stehenden Mora, „…oder?“

 

 

 

Die Insektoide stand still, während Commander Kesmarki sie mit einem Handscanner abtastete, um auch die letzten verwertbaren Daten aus dieser wissenschaftlichen Einzigartigkeit herauszuholen. Sie neigte den Kopf ein wenig in Richtung Cerovic. „Ohne dich hätte ich es nicht geschafft, Avram. Ich wäre wahrscheinlich wahnsinnig geworden, wenn ich deine starke Ausstrahlung nicht stets als Anker gespürt hätte. Und es tut mir so leid, was du dadurch mitmachen musstest.“

 

 

 

„Nichts, was ne ordentliche Portion Schlaf nicht wieder hinkriegt.“ Er lächelte. „Ich bin einfach nur froh, dass du es gepackt hast.“

 

 

 

Kesmarki blickte ihn erstaunt an und auch Odhran hob grinsend die Augenbrauen. „Da holen mich doch die Krähen, du bist echt fertig. Du hast gelächelt.“

 

 

 

Cerovics Blick wurde hart, als er seine Vorgesetzten fixierte. „Ich habe nicht gelächelt!“

 

 

 

„Hast du, ich habe Zeugen!“ Odhran zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Aber dein Geheimnis verlässt diesen Raum nicht.“ Das brachte ihm lediglich ein Schnauben des dunkelhaarigen Mannes ein.

 

 

 

Kesmarki hatte alle Daten gesammelt. „Hekate wirkt so viel erwachsener und selbstsicherer jetzt“, bemerkte sie. „Ich schätze, eure Beziehung wird nun eine andere werden?“ Sie stellte die Frage in Richtung der Mora.

 

 

 

„Wir haben keine Beziehung …“, entgegnete Cerovic etwas zu hastig. Aber als er das sagte, war ihm bereits klar, dass das nicht stimmte. Er musste sich von der einseitigen Betrachtungsweise lösen, die bei dem Wort Beziehung fast immer etwas Intimes, sexuell Relevantes implizierte. Sobald er mit einem anderen Wesen in Kontakt trat, mit ihm kommunizierte, Vertrauen zu ihm aufbaute, trat er in eine Beziehung. Er und Hekate hatten eine Beziehung, und zwar eine, die sehr tief ging.

 

 

 

„Natürlich haben wir eine Beziehung“, erklärte die Mora leidenschaftlich. „Avram ist mein Paarungspartner, jetzt, da ich geschlechtsreif bin.“

 

 

 

„Ich bin dein … was?“ Er starrte sie verblüfft an, für den Moment war jede Müdigkeit vergessen.

 

 

 

Sie blickte ihn an, und mit einem Mal vermisste er die Unsicherheit, die ihre Juvenilform immer wie ein feiner Hauch begleitet hatte. Es hatte etwas Beruhigendes darin gelegen, stets der Überlegenere zu sein.

 

 

 

„Du hast mich berührt, und ich habe das akzeptiert“, erklärte sie ohne auf sein Unbehagen einzugehen.

 

 

 

Commander Kesmarki und Captain Odhran hatten sichtlich damit zu kämpfen, eine neutrale Miene zu wahren.

 

 

 

„Ja, aber doch nur, um dich davon abzuhalten jemanden umzubringen“, versuchte Cerovic seine Haut zu retten. Er starrte sie an. Mit dieser Hekate würde es ein Stück schwieriger werden. Er verschränkte die Arme vor der Brust, um ihrer selbstsicheren Haltung etwas entgegenzusetzen zu haben. „Wir können uns nicht paaren. Unsere Physiologie ist viel zu verschieden.“

 

 

 

Sie zirpte hell. „Wir Mora führen die Befruchtung außerhalb des Körpers durch. Das bekommen wir schon hin.“

 

 

 

„Vergiss es! Ich werde doch nicht in irgendeinen …“

 

 

 

Commander Kesmarki musste sich die Hand auf den Mund pressen, um nicht in lautes Schnauben auszubrechen. Sie fasste ihren Captain am Oberarm und zog diesen in Richtung der Labortür. „Komm, Ciaran, ich denke, wir lassen die beiden dieses heikle Thema alleine ausdiskutieren.“

 

 

 

Odhran wirkte für einen Moment als wolle er noch stehenbleiben, um den Rest der Show nicht zu verpassen, dann ließ er sich jedoch von seinem Ersten Offizier hinausführen.

 

 

 

„Feiglinge!“, beschied Cerovic den beiden Kollegen, die lieber ihr Heil in der Flucht suchten als ihm moralisch beizustehen. Er baute sich vor Hekate so auf, dass er möglichst einschüchternd wirkte, nachdem er aufgrund ihrer neuen Größe nicht mehr auf sie hinunterblicken konnte. Eine Haltung, die bei seinen Leuten immer funktionierte, bei der Mora aber eine gewisse angebrachte Reaktion vermissen ließ. „Ich denke gar nicht daran …“

 

 

 

Als sich die Labortür sicher hinter ihnen geschlossen hatte, blickten sich Captain und Erster Offizier in die Augen, dann brachen beide in Gelächter aus.

 

 

 

 

 

 

 

Ende

 


Man möge mir das Ende verzeihen ... ich habe es einfach nicht geschafft, durchgehend ernst zu bleiben. Meine allgemeine Laune hat sich während des Schreibens gebessert und das merkt man dem Stil auch an.

Leider schreibe ich irgendwie besser, wenn ich mies drauf bin ... ;)

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