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A Decade of Storm: Kapitel 3 - Schattenreich

von Markus Brunner

Kapitel 2

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„Reiten ist wie Fahrradfahren. Das verlernt man nicht“, hatte Philip Kirk ihr noch vor wenige Minuten gesagt. Aber jetzt gerade glaubte Winona Giles, direkt miterleben zu können, wie sich all ihr Können als Reiter mit einem Mal ins Nirwana verabschiedete. Ohne irgendeine Kontrolle über den schwarzen Hengst zu spüren, hatte sich das beständige Klopfen der Hufen auf den erdigen Boden in ein pausenloses Pochen verwandelt. Der Wind pfiff an ihr vorbei und drückte sie beinahe vom Rücken des Pferdes herunter. Sie tat es dem Tier gleich und beugte sich so tief hinab wie möglich. Diese windschlüpfrige Position machte den Ritt gleich noch rasanter, doch nur so sah sie eine Chance, sich im Sattel zu halten. Ihr Gesicht war nun ganz nahe am rechten Ohr des Pferdes. Da es sich über die Zügel, die Winona mit weiß angelaufenen Fingerknöcheln festhielt, nichts mehr befehlen ließ, versuchte es Winona mit ihrer Stimme.
„Okay, wie hoch ist dein Preis? Soll ich dir den ganzen Tag das Fell striegeln? Oder soll ich für dich was Süßes aus der Küche stibitzen? Ich tu alles, aber Hauptsache, du bleibst stehen“, rief sie verzweifelt, doch das Pferd zuckte nicht einmal mit dem Ohr. Aber auf irgendeiner Ebene schien es verstanden zu haben, was Winona ihm vermitteln wollte und tatsächlich wurde der Galopp langsamer und ging graziös fließend in einen Trabschritt über, ehe es schließlich locker auslief und stehen blieb. Erst jetzt traute sich Winona, wieder den Kopf zu heben, sah über die Mähne und den Scheitel des Pferdes hinweg und erkannte dann schließlich den wahren Grund, warum der Hengst gestoppt hatte: Phil Kirk stand vor ihm und streichelte ihm die Blesse.
George Kirks Bruder hatte das Pferd wohl nur durch Handzeichen aus der Ferne angewiesen, langsamer zu werden und zu ihm zu kommen. Winona war beeindruckt, über dieses Verständnis zwischen Pferd und Mensch.
„Tibor hat es wohl eilig gehabt, mich wieder los zu werden“, stellte Winona fest, während sie mit nur einem Fuß im Steigeisen aus dem Sattel glitt. Sie merkte erst wie stark ihre Beine zitterten, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Phil war sofort an ihrer Seite und ergriff stützend ihre Ellbogen.
Winona musste zugegen, dass Phil sie sehr an George erinnerte. Derselbe Charme, dasselbe Lächeln und dieselbe Hilfsbereitschaft: Sie hatte kaum angefangen etwas zu wanken, da war Phil bereits neben ihr und überbrückte die zwei Meter zwischen ihnen in Windeseile. Sie war recht froh, dass – abgesehen von der offensichtlichen Familienähnlichkeit – Phil seinem älteren Bruder zumindest optisch nicht stark ähnelte. Das hätte sie noch mehr verwirrt, als sie es ohnehin schon war. Alleine die Tatsache, dass sie schon seit zwei ganzen Tagen zu Gast auf der Farm der Familie Kirk war, sagte schon einiges darüber aus, wie schlecht es um ihren Geisteszustand bestellt war.
Die Kelvin war letzte Woche im irdischen Sonnensystem angekommen und wurde derzeit in der neuen Utopia Planitia-Werft im Marsorbit gewartet. Die Arbeiten – es ging lediglich um die Adaptierung einiger Schiffssysteme und Computer-Updates – sollten zwei Wochen dauern. Lange genug also, damit Captain Robau seine ganze Crew auf Urlaub schicken konnte. Winona hatte nicht gezögert und das erste Shuttle bestiegen, das sie zur Erde brachte, von wo aus sie einen Weiterflug nach Tarsus IV bereits arrangiert hatte. Bis ihr Flug zur Koloniewelt, auf der ihre Eltern lebten, ging, wollte sie eigentlich nur ein paar Tage in ihrer seltenbenützten Wohnung in San Francisco verbringen und – nach einigen Stunden intensiven Staubwischens – einfach mal faulenzen.
Das hatte sie ungefähr fünfzehn Sekunden ausgehalten, ehe sie von ihrem Sofa hochgesprungen und ins Freie geflüchtet war. Zwei Tage später konnte sie die Überlegungen, die sich nach Riverside in Iowa gebracht hatten, nicht mehr nachvollziehen. Sie wusste noch, dass sie im Ferry Building gewesen war. Zumindest die Einkaufstaschen, die sie bei ihrer Ankunft in Iowa noch bei sich gehabt hatte, deuteten darauf hin. Aber von dort dürfte sie dann wohl nicht mehr nach Hause gegangen sein. Und sie war wohl auch nicht die kurze Treppe hinunter zum Fährenhafen gegangen. Stattdessen dürfte sie die Rolltreppe hinauf zum modernen Air-Tram-Terminal gefahren sein und war dort in den bereitstehenden Wagon nach Iowa City gestiegen und eine Stunde später vor der Haustür der Kirks gestanden.
Es war natürlich nicht so, dass sie für die Kirks eine Unbekannte war. Vor fünf Monaten hatte sie es sich nicht nehmen lassen, Captain Robau zu begleiten, der George Kirks Angehörigen persönlich die Neuigkeit mitgeteilt hatte, dass der älteste Sohn der Familie doch noch am Leben war. Und gleichzeitig musste er ihnen mitteilen, dass er sich vermutlich in klingonischer Gefangenschaft befand. Winona fand es schwer zu beurteilen, ob es nicht besser gewesen wäre, die Kirks weiterhin im Glauben zu lassen, Goerge wäre tot. Anderseits bestand so wieder Hoffnung, an die sie sich klammern konnten. Es war dieselbe Hoffnung, die auch sie selbst vorwärtsblicken ließ.
Winona hatte ihre Beine nun langsam wieder unter Kontrolle und löste sich aus Phils stützenden aber auch etwas aufdringlichen Griff. Es hatte keine zwei Tage gedauert, um herauszufinden, dass Phil sie sehr mochte. Ein wenig zu sehr für Winonas Geschmack. Obwohl es am jüngeren Kirk auch nichts auszusetzen gab.
Und er hat mir weder gedroht, die Zähne auszuschlagen, noch mich mit einem Phaser-Gewehr zu erschießen, überlegte sie. Also eigentlich ein bedeutend besserer Start als mit George. Rein mathematisch gesehen hatte Phil mehr Sympathie-Pluspunkte auf dem Konto als George nach zwei Tagen.
„Alles okay, Nona?“, fragte Phil schließlich.
Ach, der Spitzname. Minuspunkt!
Winona hatte diesen Spitznamen noch nie gemocht. Er war nicht so schlimm wie „Winnie“, aber nicht weit davon entfernt. Eigentlich hatte sie immer angenommen, dass der Name Winona kurz genug war, um keine Kurzbezeichnungen nach sich zu ziehen. Sie hatte sich getäuscht.
„Es geht schon wieder. Danke“, erwiderte sie schließlich und ihr warmer Atem verwandelte sich in weiße Wölkchen vor ihrem Gesicht. Wie im Februar üblich war es in Riverside deutlich kälter als in San Francisco. Und mit knapp minus vier Grad Celsius war es ein noch eher milder spätwinterlicher Tag in Iowa.
„Du schwitzt. Gehen wir besser wieder ins Haus bevor du dir eine Erkältung holst.“
Sie nahm dieses Angebot dankend an. Obwohl sie in eine dicke Jacke gehüllt war und trotz des Adrenalins, das wegen des wilden Ritts noch immer durch ihren Körper pumpte, fühlte sie sich wie ein Eiszapfen. Zusammen führten sie Tibor wieder zurück in den Stall. Zumindest wirkte das Gebäude von außen wie ein Stall. Im Inneren war es eher ein Pferdehotel mit fünf Sternen. Tibor hatte eine Box für sich, die fast gleich viel Fläche hatte wie Winonas Apartment. Und den anderen Pferden ging es auch nicht viel schlechter. Alle hatten sie in ihren beheizten und klimatisierten Boxen verschiedene Bereiche, medizinische Monitore überwachten ihren Zustand und gaben die Bedürfnisse der Tiere preis, wohl noch ehe sie selbst etwas davon wussten. Ein Dutzend Pfleger kümmerte sich um sie, alles absolute Pferdenarren, wie Winona festgestellt hatte. Hier würde ich auch gerne wohnen. Wenn ich ein Pferd wäre, dachte sie, als sie eine Pflegerin in der benachbarten Box dabei beobachtete, wie diese einer semmelbraunen Stute Zöpfchen in die blonde Mähne flocht.
„Und Tibor ist das Pferd von George?“
„Nein“, antwortete Phil sofort. Fast ein wenig zu schnell. Ihm musste inzwischen schon bewusst geworden sein, dass Winona sich mehr für seinen vermissten Bruder als für ihn interessierte. Er reagierte etwas schnippisch, wenn Georges Name fiel. Doch dann hatte er sich wieder unter Kontrolle: „Er reitet gerne mit ihm, aber Tibor ist eigentlich das Pferd von unserem Dad.“
„Oh. Ja, jetzt wo du es sagst, ist mir das klar.“
Tibor. Das Pferd von Tiberius. Winona hatte keine Ahnung, was den Großvater von George und Phil geritten hatte, seinem Sohn den Namen Tiberius zu geben. Aber so exzentrisch und ungewöhnlich wie der Name, war auch Tiberius Kirk. Man konnte Tiberius Kirk allerdings zu Gute halten, dass er ein Exzentriker im besten Sinne des Wortes war. Kein Gegen-den-Strom-Schwimmer aus Prinzip. Eher ein Querschwimmer, der den Kompromiss suchte. Die Quarter Horse Ranch war auch ein gutes Beispiel dafür. Von außen traditionell, rotgestrichenes Holz, weißer Dachgiebel, dunkelgraue Dachplatten. Innen jedoch war alles hochmodern eingerichtet, sehr hell und mit viel moderner Technologie. Wahrscheinlich sogar mit mehr Technologie, als im Maschinenraum der Kelvin zu sehen war.
„Georges Pferd ist Riley“, sagte Phil schließlich und deutete auf eine Box auf der gegenüberliegenden Seite der Ranch. Dort stand das wahrscheinlich schönste Pferd, das Winona je gesehen hatte. Es war hochgewachsen, fuchsrot mit einer geraden, weißen Blesse, die sich von den Nüstern zu einem ganz dünnen, geraden Strich verengte und an der Stirn in einem nahezu perfekten Dreieck endete. Ungewöhnlich war die Augenfarbe. Die Iris über der schwarzen Pupille war braun während der seitlich und darunter liegende Teil blau war.
„Er ist wunderschön“, sagte Winona bewundernd, während sie sich der Box näherte.
„Genaugenommen ist Riley ein Mädchen“, sagte Phil lachend. Aber egal ob Hengst oder Stute fühlte Winona sich wie magisch von dem schönen Tier angezogen. An der Umzäunung der Box angekommen streckte sie ihren Arm aus. Und zog in blitzschnell wieder zurück, als Riley dazu ansetzte, ihr in die Hand zu beißen. Mit einem kurzen Wiehern und einem angedeuteten Ausschlagen mit den Hinterbeinen verzog sich das Pferd schließlich um eine Ecke in einen nicht einsehbaren Bereich der Box.
„Habe ich was Falsches gemacht?“
„Sie ist ein wenig zu temperamentvoll“, sagte Phil und fügte hinzu: „Typisch rothaarige Frau.“
Auf Winona wirkte Rileys Reaktion nicht nur wie ein Temperamentsausbruch, sondern auch ein wenig eingeschnappt. Als ob sie auf die menschliche Frau eifersüchtig war und es zeigen wollte. Winona schüttelte den Kopf und vertrieb diesen absurden Gedanken.
„Sie hat eine komische Augenfarbe.“
„Ja, ein Birkauge. Ziemlich selten bei einem Quarter Horse. Riley ist das einzige, das ich je damit gesehen habe und ich habe schon viele Pferde gesehen.“
Ein langer Verbindungstunnel führte von der Ranch direkt zum Vorhof des Wohnhauses der Kirks. Winona war erfreut festzustellen, dass der Tunnel beheizt war. Vom Tunnelausgang zur Haustür des großen dreistöckigen Gebäudes, das im selben klassischen Stil gehalten war wie die Ranch, waren es nur noch wenige Schritte. Die schmutzigen Stiefel ließen sie vor der Tür am bereitgestellten Platz zurück, wo sich sofort ein Holzpanel zur Seite schon, hinter dem die Stiefel verschwanden. Eine verborgene Reinigungsanlage würde die Stiefel säubern.
Und auch im Inneren des Wohnhauses war alles wieder sehr modern eingerichtet. Viel Licht aus unterschiedlichen Quellen, helles Holzdekor und es gab fast keine rechten Winkel zu entdecken. Jede Ecke und jede Kante schienen zumindest ein wenig abgerundet zu sein. Die meisten Möbel zeichneten sich sogar durch vollkommen kreisrunde Elemente aus. Winona folgte Phil in die Küche, wo seine Mutter – Eusebia Kirk, nicht minder exzentrisch – sich um den Abwasch kümmerte. Händisch, wohlgemerkt. Interessanterweise gab es neben einem Rohstoff-Synthetisierer alle möglichen Geräte zur Essenszubereitung, die es Eusebia ermöglichten, gleichzeitig für zwanzig Personen zu kochen, beziehungsweise automatisiert kochen zu lassen. Und das sogar mehrmals am Tag, wohnten doch die meisten Angestellten der Familie Kirk hier im Haus. Hauptsächlich waren es die Leute, die die Pferde-Ranch betreuten. Aber auch einige Landarbeiter wohnten zumindest je nach Saison hier im Haus. Und da fiel schon recht viel schmutziges Geschirr und Besteck an, für das es jedoch keine automatisierte Spülmaschine gab. Der Raum strahlte in einem so hohen Maße das Flair einer Großküche aus, dass Winona bezweifelte, dass bei der Planung dieses praktische Gerät einfach vergessen worden war. Daher neigte sie dazu, das Fehlen des modernen Geräts in einer ansonsten topmodernen Küche einer seltsamen Vorliebe von Eusebia fürs Geschirrabwaschen zuzuschreiben.
Die dunkelhaarige Frau, die an der Spüle stand, war Anfang fünfzig, sah für Winona aber viel jünger aus. Fast zu jung um zwei erwachsene Söhne zu haben.
„Hallo, junge Leute“, grüßte Eusebia. Der Gruß wirkte etwas merkwürdig auf Winona, sah Eusebia nicht einmal zehn Jahre älter als die Kommunikationsoffizierin der Kelvin aus. „Wie war’s draußen?“
„Hauptsächlich kalt“, antwortete Winona, ehe Phil damit loslegen konnte, ihren ziemlich hoffnungslosen Versuch zu beschreiben, Tibor, einen der sanftesten und ruhigsten Hengste im Stall der Kirks, zu reiten. Tibors Besitzer war ebenfalls in der Küche anwesend, wie Winona erst jetzt bemerkte. Tiberius Kirk, ein Bär von einem Mann, der Mitte fünfzig war und auch so aussah, lehnte am Rahmen der zweiten Tür, die Küche und Esszimmer verband. Er grüßte die beiden mit einem kurzen Wink. Tiberius war kein Mann großer Worte und hatte in den zwei Tagen seit Winona hier war wahrscheinlich keine fünf Sätze gesprochen. Das lag aber nicht an Winonas Anwesenheit, denn die Einladung, über das Wochenende hier zu bleiben, stammte von ihm. Er ließ eben lieber die anderen reden und hörte selbst einfach nur zu.
„Nicht gerade Kalifornien, was?“, fragte Eusebia lächelnd. „Wie ist eigentlich das Wetter auf Tarsus?“
„Im Bereich der Kolonie herrscht ähnliches Klima wie hier in Iowa. Aber momentan ist dort Sommer. Also sogar wärmer als jetzt in San Francisco.“
„Ich finde es schade, dass du heute schon abreist. Du hast ja fast noch gar nichts gesehen. Vielleicht ist die Kelvin ja mal in den Sommermonaten wieder im Sonnensystem. Dann hat unsere Farm gleich viel mehr zu bieten.“
George hatte damals nicht übertrieben, als er Winona vor eineinhalb Jahren auf Tagus III das riesige Farmland beschrieben hatte, das seit ungefähr hundertfünfzig Jahren im Familienbesitz war. Aber sie freute sich inzwischen auch darauf, wieder die viel kleinere Farm ihrer Eltern auf Tarsus IV zu besuchen. Sie war seit Jahren nicht mehr dort gewesen.
Ein leises Piepen erklang. Instinktiv wanderten die Blicke aller über die verschiedenen Küchengeräte um festzustellen, ob sich eines auch mit einem blinkenden Licht als Ausgangspunkt des Geräusches zu erkennen gab. Doch als sich das Signal wiederholte wurde Winona klar, dass es von ihrem Kommunikator ausging. Sie holte das Gerät aus der Hosentasche ihrer Jeans heraus und klappte es auf:
„Hier Giles.“
„Hier Robau“, drang die tiefe Stimme ihres Captains aus dem kleinen Lautsprecher. „Ich hoffe, ich störe nicht gerade.“
Winona versprach, in einer Minute zurückzurufen und entschuldigte sich bei den Kirks, ehe sie die Treppe hinauf zum Gästezimmer ging. Bevor sie nach links zum Westflügel abbog, schweifte ihr Blick eine Tür am Ende des Ostflügels. Es war ihr zuvor nicht aufgefallen, aber an dieser Tür war ein Stück Messing befestigt, das den Buchstaben P formte. P für Philip. Neugierig, ob es an einer anderen Tür auch ein G für George gab, schlich sie den Korridor des Ostflügels entlang. Neben der Tür zu Philips Zimmer bog der Korridor nach links ab. Und dort gab es tatsächlich eine weitere Tür mit einem großen G darauf. Winona warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter, aber sie war allein und es war seelenruhig im ganzen Stockwerk. Vorsichtig drehte sie den Türknauf und drückte gegen die Tür, die sich tatsächlich öffnete.
„Na wenn schon mal offen ist …“, murmelte sie, als sie eintrat. Kurz darauf stand sie auf einem weichen hellblau und dunkelblau gemusterten Spannteppich, der gut zu den in kräftigem Gelb gestrichenen Wänden passte. Das Zimmer enthielt eigentlich genau das, was zu erwarten gewesen war: Ein Bett mit einem hellen Holzrahmen, das aus der gelben Wand zu wachsen schien. Eine dunkelblaue Tagesdecke über dem Bett, auf der sich jedoch schon etwas Staub angesetzt hatte. Einen zweiteiligen Kleiderschrank, der zwischen seiner linken und rechten Hälfte einen Bogen über einer gläsernen Tür spannte, die hinaus auf einen kleinen Balkon führte. Überraschenderweise fehlte ein Computerterminal. In diesem hochmodernen Haus hatte Winona bisher noch keinen Raum gesehen, in dem es keinen Zugang zum Computernetzwerk gab. Sogar in den sanitären Einrichtungen gab es welche. Aber hier nicht. Stattdessen wurde eine Wand vollständig von einem großen Bücherregal eingenommen. Die unteren, höheren Fächer beherbergten eine Reihe dicker Schmöker, alles Sachbücher zu den Themen Technik, ein paar zu den Themen Geschichte und ganz wenige zum Thema Landwirtschaft. Letztere waren vermutlich Geschenke von Leuten, die nicht wussten, dass George andere Prioritäten hatte.
Die oberen Regalreihen fand Winona noch interessanter. Es fand sich einiges an klassischer Literatur hier. Elliot, Hugo, Milton, Melville aber auch moderne Klassiker. Doch den Großteil der Bibliothek machte Science-Ficiton-Literatur aus. Hauptsächlich wirklich alte Sachen von H. G. Wells und Jules Verne und weitere Romane aus der Prä-Warp-Ära der Menschen. Also Geschichten, die vor dem Jahre 2063 niedergeschrieben worden waren, ehe ein großer Teil der Science-Ficiton zur Realität geworden war. Im Taschenbuchformat aneinander gereiht standen hier die Werke von Frank Herbert, Sir Arthur Clarke, Philip K. Dick, Markus F. Brunner, Benjamin Russell und Douglas Adams.
Erst jetzt fielen Winona die Bilder auf, die an den Wänden hingen. Bilder von alten Mondraketen, von Zefram Cochranes erstem Warp-Schiff Phoenix und das Gemälde eines vulkanischen Schiffes der Surak-Klasse zierten die Wände und über dem Bett hing ein eingerahmtes Kinoplakat. Natürlich das eines Science-Fiction-Films. Das Raumschiff, um das es im Film ging, hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit der Kelvin oder zumindest mit einem Föderationsschiff mit Untertassensektion. Aber das Plakat und dementsprechend der Film mussten uralt sein, dem Design des Bildes und den vergilbten Farben nach zu urteilen.
Nachdem sie nun George Kirks Zimmer gesehen hatte, verstand sie, warum es den Mann in den Weltraum hinaus getrieben hatte, anstatt Farmer zu werden. Anderseits fragte sie sich, warum er nicht direkt zur Sternenflotte sondern zu den MACOs gegangen war. Das Militärische Angriffskommando war, wie der Name schon sagte, eine reine Organisation zu Verteidigungszwecken gewesen und war für diesen Zweck nun auch Teil der Sternenflotte geworden. Den Romanen in Kirks Bibliothek nach schien ihn das Thema Krieg im Weltraum nicht besonders interessiert zu haben. Zumindest hatte sie kein einziges historisches Sachbuch entdeckt, das sich mit dem Romulanischen Krieg oder der Xindi-Krise beschäftigte.
Winona erschrak, als ihr bewusst wurde, dass aus der Minute, in der sie sich bei Captain Robau melden wollte, inzwischen fünf geworden waren. Sie hielt den Kommunikator noch immer in der Hand und stellte schnell eine Verbindung her.
„Wurde auch Zeit“, sagte Robau, der jedoch nicht wirklich so klang, als hätte ihn der verspätete Rückruf gestört.
„Tut mir leid. Ich stand mitten in einem Pferdestall und habe endlich ein ruhiges Plätzchen gefunden“, log Winona und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie war froh darüber, dass der Captain nur ihre Stimme hören konnte.
„Schon gut. Ich habe leider schlechte Neuigkeiten.“
Winona konnte sich schon denken, was diese kurze Ankündigung für ihren Urlaub bedeutete. Nämlich dass er vorbei war.
„Sie müssen zum Schiff zurück. Wir haben einen neuen Auftrag vom Sternenflottenkommando bekommen und fliegen in fünf Stunden los. Einer unserer Außenposten meldet sich nicht mehr.“
„Oh“, erwiderte Winona enttäuscht.
„Gibt es ein Problem? Schaffen Sie es in fünf Stunden nicht zum Schiff zurück?“
Das war natürlich keine wirkliche Frage. Sie konnte innerhalb einer oder höchstens zwei Stunden wieder in San Francisco sein und vom dort ansässigen Sternenflottenkommando flogen alle paar Minuten Shuttles zum Mars. Anderseits, warum den Captain nicht wissen lassen, warum sie so enttäuscht war?
„Nein, nein, ich schaffe es schon rechtzeitig bis zum Abflug zurück. Es ist nur schade. Mein Flug zur Tarsus-Kolonie war auch für heute Abend gebucht. Ich wollte in diesen zwei Wochen Urlaub die Zeit nützen, meine Eltern wiederzusehen.“
„Oh, verstehe“, sagte Robau tonlos. Dann folgte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Winona entschied deshalb, etwas direkter zu werden:
„Es ist wirklich schade. Wenn mein Flug nur etwas früher gegangen wäre …“
„… oder die Nachricht vom Sternenflottenkommando etwas später eingetroffen wäre …“, fügte Robau hinzu, der offenbar zu verstehen schien, worauf sie hinauswollte.
„Genau! Dann wäre ich weg und würde den Abflug der Kelvin verpassen. Sie müssten dann theoretisch ohne mich auskommen.“
Wieder folgte Schweigen. Sehr langes Schweigen. Und gerade als Winona zu fürchten begann, dass der Kontakt zur Kelvin abgerissen war, sagte Robau schließlich:
„Tja, schade. Da haben Sie Pech gehabt.“
Doch der Tonfall des Captains ließ keinen Zweifel daran, dass er genau verstand, worauf sie abzielte: „Ach, Captain. Drücken Sie ein Auge zu.“
„Also wollen Sie Sonderurlaub?“
„Ja“, antwortete sie drängend. „Wenn das Sternenflottenkommando schon keine Verbindung zum Außenposten herstellen kann, dann werde ich es mit den Bordmitteln der Kelvin auch nicht können. Crewman Stone kann mich vertreten.“
Es knisterte kurz im Lautsprecher. Der Captain hatte offenbar sehr nahe am Mikrofon seines Kommunikators tief durchgeatmet. Doch schließlich erklangen die erlösenden Worte: „Meinetwegen.“
„Danke, Sir. Ich bin am nächsten Mittwoch wieder zurück auf der Erde.“
„Wir fliegen nicht zurück zu Erde. Unser Wartungsaufenthalt hier wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Sobald wie die Außenposten-Angelegenheit erledigt haben sollen wir gleich direkt weiter zum Laurentianischen Graben fliegen. Die Sternenflotte möchte jedes verfügbare Schiff dort haben.“
„Die Klingonen?“, vermutete Winona.
„Ja, die Klingonen.“
Die Ruhe im Laurentianischen Graben war mehr als ein Jahr lang zu schön gewesen um wahr zu sein. Vor ein paar Monaten hatten die Klingonen jedoch damit begonnen, den Schiffsverkehr ihrer Schlachtkreuzer und Bird-of-Prey-Patrouillen sukzessiv zu steigern. Die Sternenflotte hatte bisher nicht feststellen können, was die Klingonen mit ihren merkwürdigen Flugrouten bezweckten. Es kam immer wieder vor, dass sich einige Schiffe trafen und einen kleinen Flottenverband formten. Das war natürlich stets ein höchst alarmierendes Ereignis aus Sicht der Strategen im Sternenflottenhauptquartier. Aber so schnell sich diese Flottenverbände formten, zerstoben ihre Schiffe schon wieder in alle Richtungen und flogen neue Patrouillenrouten. Und mit jedem neuen Schiff, das vom Imperium in den Graben geschickt wurde, wurde die Lage unübersichtlicher.
„Tarsus ist nicht so weit entfernt vom Laurentianischen Graben. Ich werde schon eine Möglichkeit finden, wieder auf die Kelvin zurück zu kommen.“
„Machen Sie sich da keine Gedanken darüber. Genießen Sie lieber erst einmal Ihren Urlaub. Sie sind wenigstens eines von 500 Besatzungsmitgliedern, das in den nächsten Tagen nicht auf mich sauer sein wird.“
Bevor Robau sich verabschieden und den Kanal schließen konnte, kam Winona noch eine Frage in den Sinn:
„Welcher Außenposten ist es eigentlich, der sich nicht mehr meldet?“
„Sarathong V“, antwortete der Captain. „Jener Außenposten, den wir letztes Jahr geholfen haben zu errichten.“
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