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PTSD

von uena

Kapitel 2

Es ist Spock. Er steht neben dem Bett, beide Hände hinter dem Rücken verschränkt, und blickt in einer Art auf sie hinab, die Leonard nur als amüsiert bezeichnen kann. Dabei ist Spocks Gesicht so frei von jeglicher Mimik, wie es nur ein Vulkanier zuwege bringt. Leonard beschließt, dass Spocks Amüsement einzig und allein in seinen Augen liegt, und Spock hebt prompt die Braue über dem Linken.

„Guten Morgen, Doktor.“

Jim, Gott hab ihn selig, schläft noch. Einen Moment lang ist Leonard tatsächlich von seinem Anblick abgelenkt – von dem zufriedenen kleinen Lächeln, das in Jims Mundwinkeln sitzt. Er liegt noch immer direkt vor Leonard, sein Gesicht an seine Brust gedrückt, beide Arme um seinen Torso geschlungen, und seine Beine mit Leonards verflochten.

Es sollte unbequem sein. Aber wie auch immer Jim zu dieser Sache stehen mag, Leonard ist so ausgeschlafen wie schon seit Jahren nicht mehr. Er fühlt sich wunderbar erfrischt.

„Ich kann nur annehmen, dass der Besucherstuhl Ihnen auf Dauer zu unbequem geworden ist?“, reißt Spocks Stimme ihn aus der Betrachtung von Jims Lächeln, und Leonard dreht den Kopf und blickt dem Vulkanier stoisch in die Augen.

Besagter Stuhl liegt noch immer da, wo er vergangene Nacht umgefallen ist.

„Ganz genau“, sagt Leonard mit Bestimmtheit.

Spock nickt sein selbstzufriedenes kleines Nicken, und Jim wacht endlich auf. Er streckt sich, langsam und genüsslich, drückt sich während dieses Vorgangs der Länge nach an Leonard heran und brummt zufrieden.

Spock räuspert sich leise. „Guten Morgen, Captain.“

Jim blinzelt, hebt den Kopf, wirft Leonard einen Blick aus dem Augenwinkel zu – dann überzieht das altbekannte Grinsen sein Gesicht. „Morgen, Spock! Was treibt Sie schon so früh zu uns?“

Leonard löst sich aus Jims Armen, gelassen, behutsam, und setzt sich auf. Spock nimmt Haltung an. „Es wird mir im Verlaufe des Tages aufgrund zahlreicher Verpflichtungen nicht möglich sein, Sie aufzusuchen, und ich wollte -“

Spock unterbricht sich, und Leonard kann nicht sagen, ob es daran liegt, dass er aus dem Bett aufgestanden ist, oder daran, dass Jim die Hand nach seiner Uniformhose ausgestreckt hat und sie festhält.

„Sie wollten sicherstellen, dass es diesem Traumtänzer gut geht, ehe Sie Ihren Verpflichtungen nachkommen“, beendet er also Spocks Satz für ihn und nickt. „Nur zu verständlich.“

Spock wirft ihm einen vielsagenden Blick zu. „Ihre Auslegung ist korrekt, Doktor McCoy.“

„Nun, mir geht’s gut“, bringt Jim sich in das Gespräch ein. „Sie können beruhigt von Dannen ziehen, Spock.“

Er hält noch immer Leonards Hose fest; Spock sieht noch immer Leonard an. Leonard blinzelt ihm beruhigend zu, deutet ein Nicken an.

Chapel betritt die Szene.

Sie verharrt in der offenen Tür, die Klinke in der Hand, nimmt den sich ihr bietenden Anblick in sich auf, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Dann tritt sie ein und schließt die Tür hinter sich, ehe sie den umgefallenen Stuhl mit einer Selbstverständlichkeit aufrichtet, die Ihresgleichen sucht.

„Ich melde mich zum Dienst, Doktor McCoy.“

Jims Finger krallen sich fester in Leonards Hosenbein. „Ich hab Hunger“, sagt er mit einem atemlosen Unterton, der Leonard mehr als einfach nur verdächtig vorkommt. „Ich hätte gern Frühstück.“

„Sollst du bekommen“, erwidert Leonard, während er seine Hand über Jims legt und seine Finger sanft aus dem Stoff seines Hosenbeins entfernt.

„Ich hole etwas“, bietet Chapel sofort an. „Für Sie auch, Doktor.“

Leonard will abwehren, und sie hebt die rechte Hand, um ihn auszubremsen. „Ich mache es gern“, sagt sie fest. „Bleiben Sie beim Captain.“

Damit wendet sie sich ab und ist wieder aus der Tür. Spocks Kehle produziert so etwas wie ein Räuspern. „Ich werde die Herren jetzt Ihrem Frühstück überlassen.“

Er nickt Jim zu, berührt Leonard flüchtig an der Schulter, und dann ist auch er verschwunden.

Jim bleibt verdächtig still, nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, und Leonard setzt sich zu ihm an die Bettkante. Aber ehe er Jim so vorsichtig wie möglich danach fragen kann, was mit ihm los ist, hat Jim das Studium seiner Bettdecke eingestellt, und starrt ihm in die Augen. „Er hat dich angefasst.“

Leonards Gesichtszüge entgleisen ihm.

„An der Schulter“, spezifiziert Jim.

Jetzt, da er in dieser Form darauf aufmerksam gemacht wird, kommt es Leonard selbst auch einigermaßen merkwürdig vor. So weit ihm bekannt, neigen Vulkanier nicht unbedingt zu Körperkontakt. Wenn er Berührungstelepath wäre, überlegt Leonard, wäre er vermutlich auch vorsichtig damit, wen er anfasst.

Er beschließt, zu einem anderen Zeitpunkt über Spock und dessen unerwartete Annäherung nachzudenken und räuspert sich. „Und? Ist das dein Monopol?“

Jim starrt wieder auf seine Bettdecke hinab. „Ich habe Alpträume davon.“

Leonard hat das Gefühl, er hat essentielle Teile dieses Gesprächs nicht mitbekommen. „Wie bitte?“

Er sieht Jims Gesicht leer werden, seine Augen einen gehetzten Ausdruck annehmen. „Ich sterbe, und du bist nicht da. Ich habe Alpträume davon.“

Kälte legt sich um Leonards Eingeweide. Er würde sich gern weigern, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, würde die Schuldgefühle nur zu gern an sich abprallen lassen. Aber er kann nicht.

Er war nicht für Jim da, als er ihn gebraucht hat, und das ist eine Tatsache. Sich selbst zu sagen, dass er nichts dafür kann, macht nicht wirklich einen Unterschied. Nicht für ihn.

Für Jim offenbar auch nicht.

„Es tut mir leid“, sagt er leise.

Jim hebt endlich den Blick und sieht ihm in die Augen. „Es ist nicht deine Schuld.“

Leonard blickt stumm zurück, und Jims Gesichtsausdruck wird gequält. „Es ist meine Schuld.“

Leonard weiß nicht einmal, wie er damit anfangen soll, das zu begreifen.

„Wie zum Teufel kommst du auf sowas?“, fragt er, ungewollt barsch, und legt seine Hand an Jims Kinn, zwingt ihn, ihm weiter in die Augen zu sehen, als Jim versucht, seinem Blick auszuweichen.

„Was könntest du möglicherweise getan haben, das dir diese schwachsinnige Idee in den Kopf gesetzt hat?“

Jim erwidert nichts, und Chapel sucht sich diesen Moment aus, um mit ihrem Frühstück zurückzukommen. Leonard ist gefährlich nahe daran, sie anzuschreien. Er zieht seine Hand von Jims Kinn zurück.

Aber Chapel wäre keine derartig fähige Krankenschwester, wenn sie sich in jeder Situation auf die Aussagen ihrer Patienten verlassen müsste. Dementsprechend kann sie die Stimmung im Zimmer nach einem einzigen Blick auf die Gesichter der Anwesenden einschätzen, stellt ihnen ihr Frühstück hin, und geht wieder.

Leonard räuspert sich. „Nun?“

Jim kaut auf seiner Unterlippe herum, antwortet noch immer nicht.

Leonard fleht den Himmel um Geduld an. „Jim“, sagt er betont sanft. „Rede mit mir.“

„Ich bin ein schlechter Freund“, platzt Jim dann heraus, atemlos und viel zu schnell.

Leonard braucht einen Moment, um die einzelnen Silben dieser Aussage von einander zu trennen und Sinn in sie zu bringen.

„Ein schlechter Freund“, wiederholt er dann langsam. „Und deswegen war es deine Schuld, dass ich nicht da war, als du ... Jim, das macht keinerlei Sinn!“

Leonard will vom Bett aufstehen, und Jims Hand schnellt vor und umfasst sein Handgelenk. Sein Gesicht ist bleich, beinahe grau, und im Kontrast wirkt das Blau seiner Augen geradezu unnatürlich.

Leonard spürt seine Knie weich werden und er weiß, dass sie unter ihm nachgeben werden, wenn er jetzt versucht, aufzustehen. Jims Finger liegen heiß und klamm um sein Handgelenk. Ihr Druck ist nicht wirklich schmerzhaft, und er vermittelt Leonard die dringend benötigte Versicherung, dass mehr als genug Leben in seinem besten Freund steckt.

„Scotty hat Spock dazu geholt!“, sagt Jim mit erstickter Stimme, nimmt einen tiefen Atemzug. „Spock! Mit dem ich praktisch nur gestritten habe, seit wir einander zum ersten Mal begegnet sind – und jeder hat es gewusst, jeder weiß, dass wir ständig aneinander geraten! Und jeder weiß, dass der Bastard mein Freund ist, selbst Scotty. Aber offenbar ist er nicht auf die Idee gekommen, dich dazu zu holen, hatte keine Ahnung, dass ich dich in diesem Moment an meiner Seite haben wollte – und das ist meine Schuld.“

Diesmal braucht Leonard mehr als nur einen Moment, um das sacken zu lassen.

„Wann genau“, knurrt er schließlich, „hast du das ausgebrütet? Du hast doch die ganze Zeit praktisch nur geschlafen!“

Jim packt sein Handgelenk ein wenig fester, und jetzt fängt es an, wehzutun. „Du weißt, dass ich Recht habe!“

Er sieht fürchterlich ernst aus, und Leonard entkommt ein überfordertes Seufzen. „Jim.“

„Ich habe Recht“, beharrt Jim stur. „Es ging immer nur um Spock.“

Leonard weiß nicht, was er tun soll. Er hat keine Ahnung, wie er diesem Sturkopf begreiflich machen soll, dass Jims Beziehung zu Spock nicht das Geringste mit ihrer Beziehung zueinander zu tun hat; dass sie überhaupt nicht miteinander zu vergleichen sind.

„Du bist mein bester Freund, Jim“, sagt er schließlich heiser. „Und mir ist egal, wie vielen Menschen das bewusst ist. Weil es keine Rolle spielt, so lange ich nur so empfinde. Und Scotty weiß, dass wir Freunde sind. Er weiß es. Spock weiß es, und Uhura weiß es, genauso wie Sulu und Chekov. Sie wissen es alle – und es wäre mir scheißegal, wenn sie es nicht täten.“

Leonard atmet tief durch, löst Jims stählernen Griff von seinem Handgelenk, und nimmt Jims Hand in seine. „Dass Scotty mich nicht dazu geholt hat, war unglücklich und ganz sicher tragisch, aber es war nicht deine Schuld, Jim.“

Jim kaut wieder auf seiner Unterlippe herum.

„Lass das bleiben“, fordert Leonard ungeduldig. „Und sieh mich an.“

Jim kommt seiner Aufforderung nach, und Leonard sieht ihm ernst in die Augen. „Wie öffentlich eine Beziehung ist“, sagt er langsam und betont, „hat nichts mit ihrer Intensität zu tun. Und jetzt iss dein Frühstück, ehe ich noch schlimmere Abgeschmacktheiten von mir gebe.“

Damit stellt er Jim ein Frühstückstablett über den Schoß und nimmt die Tasse voll Kaffee zur Hand, die auf dem anderen steht. Er ist ein wenig zu heiß, aber davon lässt Leonard sich nicht aufhalten. Er braucht das Koffein, braucht etwas, an dem er sich festhalten kann.

Er kann nicht damit aufhören, sich zu fragen, ob Jim ihn deswegen geküsst hat. Es ergibt keinerlei Sinn – nicht für ihn; aber das heißt ja noch lange nicht, dass Jim es nicht irgendwie zuwege gebracht hat, sich eine ebenso schwachsinnige wie umständliche Erklärung zurechtzulegen, die beweist, dass es ihn zu einem besseren Freund macht, wenn er Leonard küsst.

Jim räuspert sich, als wolle er ihn von diesen Gedanken ablenken, und widmet sich dem Stapel Pfannkuchen, den Chapel ihm zugedacht hat. „Wann kann ich entlassen werden?“

Leonard registriert missgünstig und mit einiger Verspätung die Abwesenheit jeglichen Obsts im Frühstück des Captains und schafft es nicht völlig, ein Grollen zu unterdrücken. „Heute, wenn du drauf bestehst. Deine Werte sind stabil. Aber ich rate dir dringend dazu, deinen Zustand nicht auf die leichte Schulter zu nehmen und unter strenger Beobachtung zu halten. Deine Zellen werden noch eine ganze Weile brauchen, sich von der Strahlung im Warpkern zu erholen – Khans Blut hin oder her. Du wirst es langsam angehen, und dich auf gelegentliche Schwindelgefühle und Übelkeit einstellen müssen. Du brauchst außerdem regelmäßige Transfusionen.“

„Gut“, erwidert Jim mit verdächtiger Gemütsruhe, und verschlingt einen Pfannkuchen. „Ich komm mit zu dir.“

Leonard weiß nicht, ob er dem gewachsen sein wird. Er kommt allerdings nicht einmal auf die Idee, Jim abzusagen. Unter Berücksichtigung sämtlicher Faktoren ist es die ideale Lösung.

Also bringt er Jims Krankenakte auf den neuesten Stand und füllt seinen Entlassungsschein aus. Er informiert die Krankenhausleitung und Schwester Chapel über James T. Kirks veränderten Aufenthaltsort, verfasst ein kurzes Schreiben an die Admiralität, und schickt Nachrichten an die Crewmitglieder der Enterprise, denen sein Verschwinden aus dem Krankenhaus auffallen wird.

Sobald das erledigt ist, nutzen sie den Shuttledienst, der regelmäßig vom Krankenhaus in die Stadt pendelt, und Leonard nimmt Jim mit in die Wohnung, die er sich nach Abschluss seines Studiums an der Sternenflotten Akademie genommen hat. Im Prinzip ist sie zu klein für zwei Personen, aber da Jim für seine Rolle als liebevollster Symbiont der Welt zu proben scheint, fällt das nicht weiter auf.

Leonard lässt sie durch die Eingangstür, bringt Jim ins Wohnzimmer und setzt ihn auf dem Sofa ab. Obwohl er verspricht, sofort wieder zurück zu sein, folgt Jim ihm in die Küche und an die Kaffeemaschine heran.

Leonard nimmt es kommentarlos hin.

Er würde sich vermutlich weit mehr Sorgen über Jims ungewohntes Verhalten machen, wüsste er nicht, dass sein Freund vor Kurzem gestorben ist. Im Licht dieses Wissens erscheint es ihm nur natürlich, dass Jim sich scheut, allein zu sein.

Leonard hat nicht vor, diesen Umstand Jim gegenüber auch nur zu erwähnen. Was möglicherweise damit zusammenhängt, dass er anfängt, sich Sorgen um Jim zu machen, sobald er ihn auch nur fünf Minuten lang aus den Augen lässt.

Nicht einfach nur Sorgen. Es löst Übelkeit in ihm aus.

Sie könnten sich gegenseitig für ihr PTSD auslachen.

„Was ... was willst du jetzt machen?“ Jim räuspert sich, als sei ihm selbst aufgefallen, dass eine solche Frage in Kombination mit dem unterwürfigen Tonfall, den seine Stimme soeben angenommen hat, höchstgradig besorgniserregend ist. Er reibt sich den Nacken. Leonard kann nicht anders als registrieren, wie er sich mit der anderen Hand an der Küchenzeile festhält. „Ich meine: Wie lautet der Plan für diesen Nachmittag?“

Leonard blickt ihn kurz von der Seite an, ehe er damit fortfährt, Kaffeepulver in seine Maschine zu löffeln. Es ist ein altes Modell, längst aus der Mode gekommen, aber er hat sie von seiner Urgroßmutter geerbt, und wird sich erst dann von ihr trennen, wenn sie endgültig den Geist aufgibt. „Ich werde entweder lesen, oder mir einen Film ansehen. Im Gegensatz zu dir habe ich nicht die letzten zwei Wochen im Koma verbracht, und kann ein bisschen Ruhe und Frieden gut gebrauchen.“

Jim grinst und nickt, und seine Augen sehen ganz genau aus wie früher, selbst wenn sein Körper es noch nicht tut. „Guter Plan.“

Leonards linke Augenbraue hebt sich steil in die Höhe. „Guter Plan? Für gewöhnlich tust du solche Beschäftigungen als öde und ‚das alleinige Vorrecht greisenhafter Langweiler kurz vorm Abnibbeln’ ab“, bemerkt er streng.

Jims Grinsen wird breiter. „Ich erweitere das Beschäftigungsfeld hiermit auf springlebendige junge Draufgänger kurz nach dem Abnibbeln. Wir können Firefly gucken.“

Leonard schnaubt. „Typisch.“

Ihm wird bewusst, dass Jim ihm schon wieder viel zu nahe ist. Eine halbe Sekunde später verankern sich auch schon Jims Finger in dem Stoff über seinem rechten Schulterblatt. Es behindert Leonard in keinster Weise dabei, weiter Kaffee in die Maschine zu löffeln, also lässt er Jim gewähren.

„Du bist sehr tolerant“, merkt Jim leise an.

„Ich genieße es“, gibt Leonard zu, genau so leise.

Er hört Jim einen überraschten Atemzug nehmen, dann lässt Jim den Kopf nach vorn und auf seine Schulter fallen. „Ich hab keine Ahnung, was ich hier mache, Bones.“

Es ist so ziemlich das, was er erwartet hat, und Leonard schließt die Kaffeemaschine und schaltet sie an, ehe er sich Jim zuwendet. „Ist nicht schlimm. Ich weiß es auch nicht, Jim.“

Jim hebt seinen Kopf wieder an und sieht ihm in die Augen. „Was, wenn wir es verbocken?“

Leonard gibt seinem ersten Impuls nach, und zieht Jim an sich heran, bis sie Brust an Brust stehen. „Willst du gehen? Allein sein und darüber nachdenken?“

Jims Augen weiten sich wie im Schock, und Leonard sieht ihm an, dass er tatsächlich Angst hat. „Nein. Das will ich nicht.“

Leonard deutet ein Schulterzucken an. „Dann bleibt uns nicht wirklich eine Alternative. Abgesehen davon ist nicht wirklich etwas vorgefallen, Jim. Es gibt keinen Grund, zur Beunruhigung.“

Denn sie mögen sich geküsst haben, mögen einander in der vergangenen Nacht in den Armen gehalten haben, aber Leonard hat noch nie etwas davon gehalten, sich selbst und anderen vorzuenthalten, was schlicht nötig ist. Seiner Meinung nach verdient Jim die bestmögliche Behandlung, und ihr augenblickliches Verhalten ist ein Teil davon.

Jim gibt ein beipflichtendes Brummen von sich, drückt sich enger an ihn heran, lehnt seinen Kopf an Leonards und seufzt. „Es tut lächerlich gut.“

Leonard lächelt in sich hinein und reibt ihm über den Rücken. „Ich weiß.“

„Du hättest mir das ruhig mal sagen können.“

Leonard schnaubt. „Dass es sich gut anfühlt, im Arm gehalten zu werden? Ich dachte, das sei einer der Gründe dafür, dass du dich mit so wundervoller Regelmäßigkeit in so viele Arme wie nur möglich stürzt.“

Jim verpasst ihm einen Stoß mit der Hüfte. „Wie du hoffentlich weißt, ging es mir dabei nicht um Umarmungen – abgesehen davon hat sich das nie so angefühlt.“

Leonard gibt den Hüftstoß zurück. „Das will ich doch schwer hoffen.“

„Mh-hm“, macht Jim. „Das hier ist besser.“

Leonard entkommt ein fassungsloser Laut. „Besser.“

Jim brummt zustimmend. „Viel besser.“

Seine Arme ziehen sich fester um Leonard zusammen, und er greift sich mit beiden Händen den Stoff am Rücken von Leonards Uniformoberteil. Leonard räuspert sich vorsichtig. „Du weißt, dass ich nicht die Absicht habe, zu verschwinden?“

Jim bleibt einen Moment lang still. „Ich will sicher gehen“, antwortet er dann.

Leonard lässt seine Hand in Jims Nacken gleiten, streicht ihm mit den Fingerspitzen durchs Haar. „Ok. Geh sicher.“




Sie verbringen den Nachmittag auf dem Sofa vor dem Fernseher, gucken die antiquierte Fernsehserie aus dem zwanzigsten Jahrhundert über eine Gruppe von Weltraumpiraten, die Jim zu sehen verlangt hat, und ... kuscheln.

Leonard weiß beim besten Willen nicht, wie er es anders beschreiben sollte. Selbst in den Momenten, die sie nicht aneinander geklebt auf dem Sofa verbringen, weicht Jim nicht von seiner Seite.

Sie kochen sogar gemeinsam, als es Zeit fürs Abendessen wird – auch wenn das eine Erfahrung ist, die Leonard in dieser Form so schnell nicht wiederholen möchte. Jim hat weder ein Talent für die Zubereitung noch für das Abschmecken einer Mahlzeit.

Es ist ein friedlicher Nachmittag, ereignislos und vollkommen banal, und Leonard genießt jede einzelne Sekunde. Ob es Jim genau so geht, kann er nicht sagen. Aber Jim bleibt neben ihm sitzen, so dicht, dass er ihn atmen spürt, und das muss genügen.

Leonard ist zufrieden, selbst wenn Jims Verhalten vermutlich hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass ihn jede Anstrengung so viel schneller als gewohnt ermüden lässt. Zweimal schläft er an Leonards Schulter ein, und verlangt nicht, im Fernsehprogramm zurückzuspringen, als er wieder aufwacht.

Erst als es auf den Abend zugeht, als es dunkel wird, und die Straßenlaternen ihren Dienst aufnehmen, wird Leonard bewusst, dass er bisher keinen einzigen Gedanken an Schlafarrangements verschwendet hat.

Er hat das Gefühl, dass es nicht richtig von ihm wäre, Jim mit ins Bett zu nehmen.

Der vergangene Tag hat ihm nur zu bewusst werden lassen, dass das, was Jim in seine Arme treibt, weniger romantisches Begehren ist als die Angst, allein gelassen zu werden.

Sie ist eine natürliche Begleiterscheinung der jüngsten Ereignisse, und Leonard würde nie versuchen, sie Jim auszureden – aber ob er ihr weiterhin so bereitwillig nachgeben soll, weiß er auch nicht.

Die Grenzen ihrer Freundschaft sind schon jetzt beinahe bis zur Unkenntlichkeit verwischt, und zu gestatten sie vollständig verschwinden zu lassen, wäre vielleicht ein Fehler, der sich nicht rückgängig machen ließe.

Also steht Leonard in seinem Schlafzimmer, bezieht eine zweite Garnitur Bettwäsche, und kann sich nicht entscheiden, ob er sie zu seiner eigenen aufs Bett werfen soll, oder ob sie auf dem Sofa im Wohnzimmer besser aufgehoben wäre.

Jim ist im Badezimmer, hat die Dusche in Beschlag genommen, und Leonard hört das Rauschen des Wassers so deutlich, als stünde Jim direkt neben ihm – Jim hat sämtliche Türen offen gelassen.

Leonard seufzt. Selbst wenn er versuchte, Jim in dieser Nacht auf dem Sofa unterzubringen ... es wäre verschwendete Liebesmüh. Also legt er die frischbezogene Bettwäsche auf die rechte Betthälfte, und zieht sich zum Schlafen um, ehe er zu Jim ins Bad hinüber geht.

Er hat sich für lange Schlafanzughosen und ein altes T-Shirt entschieden, auf das er für gewöhnlich verzichtet. Aber was sich auch immer zwischen ihm und Jim in der kommenden Nacht abspielen wird, er wird es in keinster Weise durch mangelnde Oberbekleidung beeinflussen.

„Ich komm rein“, warnt er Jim, ehe er das Bad betritt, dann baut er sich vor dem Waschbecken auf, ohne auch nur einen einzigen Blick in Richtung der Dusche zu werfen.

„Nichts, was du noch nie gesehen hättest“, erwidert Jim betont leichthin, und Leonard kann ein Lächeln nicht unterdrücken.

Er putzt sich die Zähne, während Jim in seinem Rücken fertig duscht. Nach ein paar Minuten taucht Jim an seiner Seite auf, mit tropfnassem Haar und einem Handtuch um die Hüften. Leonard wirft ihm einen flüchtigen, prüfenden Blick aus dem Augenwinkel zu, registriert die vage Erschöpfung in seiner Haltung und runzelt automatisch die Brauen, selbst wenn das kaum Grund zur Besorgnis ist.

Jim stößt ihn mit der Schulter an. „Du hast nicht zufällig eine Zahnbürste für mich?“

Leonard gibt ihm eine.

„Dankeschön.“

Leonard nickt ihm zu, spült sich den Mund aus und geht zurück ins Schlafzimmer – legt Jim ein Paar Shorts, Schlafanzughosen und ein T-Shirt auf die ihm zugedachte Betthälfte. Dann schlüpft er auf der anderen Seite unter die Bettdecke.

Er hört Jim dabei zu, wie er im Bad herum rumort, bereitet sich innerlich darauf vor, am nächsten Morgen Zahnpastaflecken aus dem Waschbecken schrubben und das klatschnasse Handtuch vom Boden aufheben zu müssen, und schließt die Augen.

Kurz darauf hört er Jims nackte Füße auf dem Teppich, hört ihn sich anziehen, und dann gibt die Matratze neben ihm nach, und Jim rutscht von hinten an ihn heran. „Bist du dir sicher?“

Leonard dreht sich zu ihm um, sieht ihm in die Augen. „Nicht wirklich, nein. Möchtest du lieber auf dem Sofa schlafen?“

Jims Gesicht verzieht sich zu einem hilflosen Grinsen. „Nicht wirklich, nein.“

Leonard grollt leise, und Jim reckt den Hals, presst kurz ihre Lippen zusammen. „Gute Nacht, Bones.“

Er dreht ihm den Rücken zu, und Leonard schlingt seinen Arm um seine Mitte, legt sein Gesicht in Jims Nacken. „Nacht, Jim.“




Das Licht ist zu grell. Es hat einen Stich ins Grünliche, der in den Augen brennt und ihm Kopfschmerzen verursacht. Er weiß nicht, wo er ist.

Es riecht nach Blut und Angst. Panik flackert in der Luft und behindert ihn beim Atmen, verzweifelte Stimmen schreien nach Müttern, Vätern, um Hilfe.

Er kann nicht helfen. Er kann sich nicht bewegen. Das Licht wird greller, blendet ihn, und die Stimmen schreien lauter.

Er versucht, vom Fleck zu kommen, versucht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber sie sind zu schwer, und er ist so schrecklich erschöpft.

„Er ist tot“, hört er eine Stimme, die ihm vage bekannt vorkommt, ohne dass er sie zuordnen könnte, und das Licht fällt beiseite, lässt bleigraue Dunkelheit zurück.

Jim liegt vor ihm auf dem Seziertisch. Er ist nackt, und seine Augen sind offen, starren an ihm vorbei ins Nichts.




Leonard kommt mit einem Ruck zu sich, und er schafft es gerade eben so aus dem Bett und ins Badezimmer, ehe er sich übergeben muss.

Wenn er die Augen schließt, hat er sofort wieder Jims toten Blick vor sich, also lässt er sie offen, versucht sein eigenes Spiegelbild zu ignorieren, als er sich zum zweiten Mal in dieser Nacht die Zähne putzt.

Er spürt den kalten Schweiß auf seiner Stirn und an seinem Rücken, spürt das hilflose Krampfen seiner Eingeweide. Er hat nichts mehr in sich, das er erbrechen könnte, aber die Übelkeit hat ihn noch immer im Griff.

Er muss die Zahnbürste beiseite legen und sich mit beiden Händen neben dem Waschbecken abstützen, als die Schwäche in seinen Knien droht, seine Beine unter ihm nachgeben zu lassen.

Und dann ist plötzlich Jim da, direkt neben ihm, schlingt seinen rechten Arm um ihn und hält ihn aufrecht. Eine nagende kleine Stimme in seinem Unterbewusstsein, versucht ihn darauf aufmerksam zu machen, dass Jim zu schwach ist, um ihn aufrecht zu halten, dass das hier eine verdammt blöde Idee ist – aber er kann nicht zuhören; das Blut rauscht zu laut in seinen Ohren.

„Bones“, hört er Jims beunruhigte Stimme direkt an seinem Ohr, viel deutlicher und wesentlich eindringlicher als die seines Unterbewusstseins, „was ist los? Soll ich Hilfe holen?“

Das hysterische Lachen, das sich seiner Kehle entwindet, wird zu einem Würgen, und er beugt sich automatisch vor und über das Waschbecken. Er erbricht sich kein weiteres Mal, konzentriert sich darauf, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Unter keinen Umständen die Augen zu schließen.

Er sieht, wie Jim ihn im Spiegel anstarrt, unsicher und so unfassbar besorgt, also reißt er sich zusammen. „Alptraum“, bringt er hervor, sieht das Begreifen in Jims Augen, und endlich beruhigt sich sein Magen so weit, dass er sich aufrichten und wieder allein stehen kann.

„Kein Grund zur Besorgnis.“

Er nimmt wieder die Zahnbürste zur Hand, spült sie ab und fängt von neuem an, sich die Zähne zu putzen. Jim verharrt an seiner Seite, und Leonard sieht die abgrundtiefe Erschöpfung in seinen Augen.

Seine Hand liegt inzwischen auf Leonards Schulter, und sein Daumen reibt über die nackte Haut unter dem Ärmel seines T-Shirts. Es fühlt sich unfassbar gut an, beruhigend, und Leonard vergisst sich so weit, die Augen zu schließen.

„Oh Gott, nein.“

Die Bilder sind sofort zurück, und Jim versucht ihn aufzufangen, als seine Beine unter ihm wegknicken.

„Bones!“

Sie gehen gemeinsam zu Boden, sinken voreinander auf die Knie, und Leonard kann die Worte nicht länger zurückhalten, kann sie nicht länger unter Verschluss halten – nicht mit Jims totem Blick vor seinem inneren Auge.

„Du bist gestorben!“, hört er sich sagen, erkennt seine eigene Stimme nicht.

Er hört Jims überraschtes Keuchen, und dann nimmt er ihn in die Arme, drückt ihn an sich.

„Du bist gestorben, Jim!“, wiederholt er, scheint keine Kontrolle darüber zu haben, jetzt, da er Worte herausgelassen hat. Und er weiß, dass es lächerlich ist, er weiß, dass Jim lebt; er hat ihn verdammt noch mal persönlich zurückgeholt, aber ... er hatte ihn verloren.

Tränen, die er über zwei Wochen lang erfolgreich unterdrückt hat, kämpfen sich ihren Weg an die Oberfläche, und er kann nicht das Geringste dagegen tun, kann sich nur an Jim klammern und sie zulassen.

Jim hält ihn fest, lässt ihn in seine Schulter weinen und sich an ihn drängen, murmelt beruhigende Sinnlosigkeiten an seinem Ohr, presst seine Lippen gegen seine Schläfe.

Leonard will ihn so sehr küssen, dass es wehtut.

„Es tut mir leid, Bones“, hört er ihn murmeln. „Es tut mir so leid.“

Leonard versucht, die Kontrolle über sich zurückzuerlangen, nimmt ein paar tiefe, unstete Atemzüge, die seinen ganzen Körper erbeben lassen. Jim reibt ihm beruhigend über den Rücken. „Ich bin hier. Ich hab dich.“

Die perfekte Symmetrie ihrer unsäglichen Situation bringt ihn beinahe zum Lachen.

„Ich weiß“, erwidert er rau, hebt endlich sein Gesicht von Jims Schulter. „Ich weiß das.“

Als er Jim in die Augen sieht, sieht er Besorgnis und Zuneigung, aber kein Mitleid, und er fühlt sich ein wenig besser.

„Geht es wieder? Willst du zurück ins Bett?“

Leonard nickt, und sie helfen sich gegenseitig auf die Füße. Jim wendet nicht den Blick ab, als Leonard sich mit dem Handrücken über die feuchten Wangen wischt.

„Ich -“ Jim bricht ab, räuspert sich. „Ich wollte dich nicht unglücklich machen.“

Leonard sieht ihm in die Augen. „Ich weiß. Du wolltest mir das Leben retten.“

Jim sieht gleichzeitig erleichtert und schuldbewusst aus, und Leonard streckt die rechte Hand nach ihm aus und legt sie ihm an die Wange. „Was du getan hast, war wundervoll und selbstlos, Jim.“

Und weil er genug hat von diesem gefühlsbeladenen Moment – weil er wieder anfangen wird zu heulen wie ein überbezahltes Klageweib, wenn er ihm nicht sofort ein Ende macht – fügt er hinzu: „Aber wo gehobelt wird, fallen Späne.“

Es funktioniert. Jim gibt ein fassungsloses Prusten von sich, boxt ihm gegen die Schulter, und geleitet ihn zurück ins Schlafzimmer.
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