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Was jeder von euch getan hätte

von Gabi

Kapitel 2

Niemand hatte ihn aufgehalten, die Posten am Lagertor hatten nur flüchtig die Ankunftszeit auf seinem Aufenthaltsschein mit der momentanen Zeit verglichen und ihn dann gelangweilt passieren lassen. Nun befand sich Ishta Moren auf der Ebene, welche das Lager von dem nahen Wald trennte. Er wusste nicht, wo sich im Augenblick die anderen Gruppenführer der Dahkur-Provinz aufhielten, aber der Wald erschien ihm auf jeden Fall am sichersten. Sein Schritt war zügig, aber nicht gehetzt. Er zweifelte zwar daran, dass Bewohner der cardassianischen Siedlung, welche das Lager umgab, die Zufahrtswege über die Ebene beobachteten und einem bajoranischen Prylaren mehr als nur einen kurzen Blick schenken würden, doch überflüssiger Leichtsinn war nie angebracht.

Er hatte etwa zwei Drittel der Entfernung hinter sich gebracht, als im Lager die Sirenen heulten. Es war vollkommen klar, was das bedeutete. Sie hatten den jungen Prylar entdeckt. Ishta bog rasch von seinem Weg ab und nutzte die Deckung einiger Büsche, um sich seiner Robe zu entledigen. Als der Ohrschmuck in seiner Hand lag, hielt er inne. Er konnte ihn unmöglich hier zusammen mit der Kleidung zurücklassen. Tragen konnte er ihn auch nicht, es stand ihm nicht zu. Doch er sollte als Andenken immer daran gemahnen, zu was Bajoraner fähig waren, wenn ihre Liebe zu ihrem Land tief genug war. Mit den Fingerspitzen berührte er das filigrane Gebilde, dann ließ er es in die Tasche seiner zerfetzten Jacke gleiten.

In der Deckung von Büschen und Bäumen huschte Ishta weiter auf den Wald zu. Er musste dort sein, bevor sie die Gleiter schickten. Die Cardassianer besaßen verdammt gute Schützen, denen es mühelos gelang, flüchtende Gefangene aus der Luft heraus abzuschießen und an Bord zu holen.

Jedoch der Wald war noch zu weit entfernt. Der Schatten des ersten Gleiters streifte sein momentanes Versteck und ließ Ishta in der Bewegung innehalten. Verdammt! Wenn er hier verharrte, dann würden ihn früher oder später die Sensoren aufspüren, wenn er rannte, dann hatte er eine gute Chance, von den Scharfschützen erwischt zu werden. Er blickte zum Himmel hinauf bis der Gleiter seine Richtung gewechselt hatte, dann spurtete er zum nächsten Gebüsch hinüber. Atemlos wartete er, ob sich im Suchmuster der Cardassianer etwas änderte, was darauf schließen ließ, dass sie ihn entdeckt hatten. Nichts geschah. Dem einen Gleiter hatten sich noch zwei andere hinzugesellt, aber sie alle schienen die Ebene nach einem vorgegebenen Schema abzusuchen. Ishta fixierte den Waldrand. In dessen Ausläufern musste es einfacher sein, weiterzukommen, aber bis dorthin befand sich nur noch ein weiteres Buschwerk auf der trockenen Wiese, und der Weg dorthin würde ihn mehrere Sekunden in Anspruch nehmen.

Der Gleiter kehrte zurück. Ishta duckte sich auf den Boden hinunter, jeder Muskel bereit, sofort los zu sprinten. Der Gleiter überstrich sein Versteck und flog in entgegengesetzter Richtung weiter. Ishta wartete wenige Sekunden, dann holte er tief Luft und rannte. Im Augenwinkel nahm er die Bewegungsänderung der cardassianischen Patrouille wahr. Sie hatten ihn entdeckt.

Die ersten Energiestrahlen versengten den Boden, auf welchem er rannte. Der Bajoraner stoppte kurz, änderte die Richtung. Er durfte nicht in einer geraden Linie rennen, sonst hatten sie ihn sofort.

Ein weiterer Schuss durchriss die Luft, doch ihm folgte das Geräusch von Energie auf Metall. Ishta Moren war gut genug trainiert und lange genug im Widerstand, um gelernt zu haben, nicht zu fragen. Was immer dieses Geräusch ausgelöst hatte und wo immer es hergekommen war, es klang positiv. Er trieb seine ermüdenden Beine dazu an, noch schneller zu laufen, er wechselte nun auch nicht mehr die Richtung, sondern hielt geradewegs auf den Waldrand zu. Das Geräusch versengter Erde und dasjenige von beschädigtem Metall wechselten sich nun ab. Er spüre die Hitze der Strahlen, so nah neben ihm gingen sie zu Boden. Doch er glaubte auch den Schatten des Gleiters schwanken zu sehen, so als würde dieser Ausweichmanöver ziehen. Ohne auf das eine oder das andere zu achten, hetzte er weiter. Schließlich traf ihn der Strahl an der Schulter. Anstelle des erwarteten brennenden Schmerzes, fühlte Ishta jedoch nur eine Taubheit sich in seinem Arm ausbreiten. Natürlich! Sie wollten ihn lebend, er war viel zu wertvoll, um ihn hier draußen einfach abzuknallen. Der Strahl war nicht zentriert genug erfolgt, um allzu viel Gewebe zu lähmen. Mit taubem Arm rannte der Bajoraner weiter. Es trennten ihn nur noch wenige Meter vom Waldrand, wo er zumindest in relativer Sicherheit war.

Der Schatten, der sich nun von der anderen Seite über das kurze Gras näherte, kündete den nächsten Gleiter an.

Mit einem Fluch auf den Lippen stieß Ishta sich ab, um mit einem Hechtsprung das Gehölz zu erreichen. Seine Schulter berührte kaum den Boden, als er brutal und schmerzhaft herumgerissen wurde. Er ignorierte den Schmerz und federte augenblicklich auf die Beine zurück. Ohne einen Kampf sollten sie ihn nicht wieder bekommen.

„Verdammt!“ hörte er einen Fluch in Bajoranisch. „Runter!“

Er fühlte die erneute Hitze des Strahles und erkannte den jungen Mann, der ihn nun abermals auf den Boden drückte. „Edon! Bei den Propheten...“ Seine Anspannung löste sich ein wenig. Shakaar Edon, er hatte auf ihn gewartet. Mit neuem Mut grinste er dem jüngeren Kämpfer zu, dann warfen sie sich beide synchron in das fast undurchdringliche Buschwerk des Waldrandes. Die Phaserschüsse trafen Geäst und Blätter in ihrer Nähe, Ishta bemerkte, dass das Gewebe teilweise verdampft wurde. Die Cardassianer hatten ihre Waffen umgestellt, es ging jetzt nur noch darum, die Bajoraner an der Flucht zu hindern, gleichgültig auf welche Weise. Aber es war schon zu spät. Über dem dichten Wald waren die Gleiter so gut wie nutzlos. Nur ein zufälliger Treffer konnte den beiden Männern etwas anhaben. Die Besatzer würden landen und ihre Soldaten zu Fuß hinterherschicken müssen. Und bis dahin schenkten sie den Flüchtenden genügend Zeit, sich im Wald unsichtbar zu machen.

Ein befreites Lachen zeigte sich auf Ishta Morens Gesicht, als er neben dem jüngeren Bajoraner rannte. Shakaar blickte ihn an und ließ sich davon mitreißen.

* * *


Bareil zitterte. Er flehte stumm, dass der Cardassianer vor ihm endlich aufhören möge, ihn ins Gesicht zu schlagen, doch er wagte es nicht, diese Bitte laut auszusprechen. Er wusste, dass er überhaupt nicht mit Reden anfangen durfte. Der Prylar gab sich keinen Heldenvorstellungen von sich selbst hin. Er hatte kein Training hinter sich, keine Kampf- und Schmerzerfahrung. Er würde ihnen alles sagen, was er wusste, wenn er erst einmal begann, den Mund aufzumachen.

Die Wut, mit welcher der Cardassianer vor ihm stand, verriet ihm, dass Ishta Moren entkommen war. Die Widerstandskämpfer würden sicherlich sofort ihr Versteck in den Bergen räumen, und er, Bareil, war es ihnen schuldig, dass er solange die Schmerzen ertrug, bis sie genügend Zeit für ihren Aufbruch gefunden hatten. Danach konnte er reden, solange er wollte, denn danach gab es nichts mehr, was er hätte verraten können.

Ein weiterer Schlag ließ seinen Kopf gegen die Wand krachen. Tränen schossen in Bareils Augen. Sie sollten aufhören, endlich aufhören!

„Wenn du glaubst, den Helden spielen zu müssen, dann können wir es auch auf dem harten Weg machen“, bemerkte der Mann humorlos. „Dann kannst du uns ja eindrucksvoll zeigen, wie sehr die Propheten auf deiner Seite stehen.“ Er winkte zwei weitere Soldaten herbei, die den Prylaren packten und aus der Zelle schleiften. Bareil bemühte sich nicht darum, irgendeine Art von Haltung zu bewahren. Er ließ sich mit tränenden Augen im Griff der Cardassianer hängen. Auf dem harten Weg... Mehr als diese Schläge würde er ohnehin nicht aushalten können.

Bareil war so in seine Schmerzen versunken, dass er das leise „hey!“ beinahe überhörte. Er hob den Kopf und bemerkte die Bajoranerin in ihrer Zelle am Energiefeld stehen. Aus ihren Augen war jede Spur von Verachtung und Zynismus verschwunden. Stattdessen blickte sie ihn fest an. Als die Cardassianer ihn an ihrer Zelle vorbeischleiften, vollführte sie eine leichte Verneigung - ohne jeden Hohn und Spott.

* * *


Du wusstest es wie wir alle!“ rechtfertigte Adalan Vilga sich. „Wir können das Lager nicht angreifen. Die Verluste wären zu hoch. Edon“, fuhr sie in einem verständnisvollen Ton fort, als sie sah, wie sich trotzige Sturheit in den Zügen des jungen Widerstandsführers zeigen wollte. „Sie werden rasch feststellen, dass er überhaupt nichts weiß und nur von uns benutzt wurde. Sie werden einsehen, dass es keinen Sinn hat, ihn zu foltern.“

„Wer belügt jetzt wen?“ Shakaar schlug mit der Faust auf den Tisch. Der Ohrring des Prylaren, der wie ein Mahnmal in der Mitte gelegen hatte, hüpfte ein wenig in die Luft. „Sie werden nur sehen, dass er dafür gesorgt hat, dass Moren entfliehen konnte, von dem sie sich einen Sieg über uns erhofft hatten. Sie werden ihn für einen von uns halten und ihre Rache an ihm nehmen. Wir haben ihm versprochen, dass wir versuchen werden, ihn wieder rauszuschlagen.“

„Er hat diesem Versprechen ohnehin nicht geglaubt“, bemerkte Gaymed Tosra. Wie jedem anderen in diesem Raum war auch ihm anzusehen, dass er sich unwohl fühlte und das Thema am liebsten begraben hätte. Wie weit waren sie schon gekommen, dass sie gezwungen waren, solche Entscheidungen zu fällen? Er verstand den Zorn des jüngeren Bajoraners nur zu gut. Niemand hätte genau sagen können, wann der Punkt erreicht worden war, an welchem ein einzelnes Leben nichts mehr zählte in ihrem Kampf. Aber er war gekommen, unaufhaltsam, ohne Vorwarnung und ohne eine Möglichkeit, ihm zu entgehen.

„Sollten wir ihn nicht gerade deswegen eines Besseren belehren?“ beharrte Shakaar.

„Edon“, Ishta Moren hob den Kopf, den er bisher auf die Stuhllehne gestützt hatte. Ihm war diese Diskussion wahrscheinlich noch unangenehmer als jedem anderen. Immerhin war es sein Leben, welches hier höher bewertet worden war, als das Leben des jungen Geistlichen. Doch er verbesserte sich in Gedanken, es war nicht sein Leben, welches den Vorrang hatte... „Ihr hättet mich ganz genauso dort in den Zellen gelassen, wenn ich nicht im Besitz dieser wichtigen Informationen wäre. Nein“, er wehrte jedes mögliche Gegenargument sofort ab. „Wir hätten jedes Mitglied unserer Gruppen dort geopfert - und jeden von Euch.“

„Also...“, setzte Adalan an, aber Ishta unterbrach sie sofort wieder. „Ich weiß, wie das klingt. Aber einer muss es einfach einmal aussprechen. Alles, was zählt, ist unser Kampf. Unsere Ziele dürfen nicht verraten und unsere Vorhaben nicht vereitelt werden. Der Grund, warum ich jetzt wieder vor euch stehe und nicht in einem Massengrab liege, hat nichts mit mir als Bajoraner zu tun. Das muss jedem von euch einfach verdammt klar werden. Meint ihr, ich finde es gut, wie es läuft? Meint ihr, ich kann noch ruhig schlafen? Doch wir dürfen nicht damit beginnen, unsere Kräfte wegen einzelner Personen aufzureiben. Wir haben klare Pläne, die durch niemanden in Gefahr gebracht werden dürfen.“ Er hatte die Worte an alle gerichtet formuliert, doch es war Shakaar, den er dabei anblickte. „Wenn ich mich recht erinnere, waren es deine eigenen Worte, die uns erklärt haben, dass wir keine kopflosen Aktionen mehr angehen dürfen und nur noch nach dem handeln sollten, was den größten Nutzen für Bajor hat, Edon.“

Der blonde Bajoraner starrte den Sektionsführer über den Tisch hinweg an. Er sah in große, ernste, fast schwarze Augen, doch es war nicht Ishta Moren, den er darin erkannte.
Ich mache nur das, was jeder von euch getan hätte... Es herrschte Schweigen im Raum. Kein Geräusch störte das Blickduell der beiden Widerstandsführer. Es war Shakaar, der die Lider schließlich senkte. Mit einem leisen „Wir sind verdammt“ wandte er sich ab und verließ den Raum.

Die anderen sahen Ishta Moren betreten an. Seine Worte waren die ungeschminkte Wahrheit gewesen, das wusste jeder von ihnen, das wusste auch Shakaar, deswegen hatte er nachgegeben - dennoch hatte keiner sie so deutlich ausgesprochen hören wollen.

* * *


Sie hatten ihn mit Drogen vollgepumpt, die es ihm unmöglich machten, das Bewusstsein zu verlieren. Und es gab nichts, was er sich im Augenblick mehr wünschte als genau dies zu tun. Schmerzen waren bis zu einem gewissen Punkt zu ertragen, dann schaltete sich der Körper ab. Es war eine Schutzreaktion, die lebensnotwendig war. Bareils Körper war dieser Luxus verwehrt worden. Er hatte das Gefühl, in einem Flammenmeer zu stehen. Sie hatten Elektroden in seine Haut gerammt, mit denen sie in jeder beliebigen Höhe und Abart Schmerzen erzeugen konnten. Der Prylar war nicht mehr imstande zu unterscheiden, an welchem Teil seines Körper neue Instrumente angeschlossen wurden. Er spürte nur das Feuer, das immer heißer wurde. Und es schien schon Jahre zurückzuliegen, als er gedacht hatte, es könne überhaupt nicht mehr stärker brennen.

Die Cardassianer hatten jeden Punkt überschritten, den Bareil in seiner Vorstellung für möglich gehalten hatte. Sie hatten nicht nur jeden Punkt überschritten, sondern auch jede Vorstellung. Er hatte geschrien, bis seine Lungen keine Luft mehr besaßen und seine Zunge trocken und aufgedunsen an seinem Gaumen klebte, nun wimmerte er nur noch. Er hatte das wenige verraten, was er über den Widerstand wusste, er hatte neue Tatsachen erfunden, in der Hoffnung, sie würden aufhören. Doch sie hörten nicht auf. Er wusste nicht, ob sie glaubten, noch mehr von ihm zu erfahren, oder ihn einfach ihre Rache spüren lassen wollten.

Bareil klammerte den gesunden Teil seines Verstandes an der vagen Hoffnung fest, dass sie versprochen hatten, ihn hier herauszuholen, wenn sie genügend Leute zusammengezogen hatten. Hatte er diesen Ausspruch zuvor nur als gnädige Notlüge abgetan, war er jetzt alles, was ihn vom nahen Wahnsinn trennte. Die Propheten konnten nicht so grausam sein, ihn alleine zu lassen. Die Bajoraner konnten nicht so grausam sein, ihn alleine zu lassen. Er glaubte so stark und intensiv wie nie zuvor in seinem Leben, einfach weil es nichts anderes mehr gab, an dem er sich festhalten konnte.

Die langen, dürren Finger des Wahnsinns berührten den Rand seines Verstandes, und er wünschte sich, sie würden endlich die letzte Barriere überwinden.

* * *


Die Zellenführer der Dahkur-Ebene hatten sich wieder getrennt. Ihr Vorgehen bis zum nächsten Treffen war einigermaßen koordiniert worden, sie würden die Cardassianer an fünf Randposten zur gleichen Zeit angreifen, und sie somit in Probleme mit der Truppenverstärkung bringen. Nach außen hin hatte ihre Versammlung einen guten Abschluss gefunden - wie es im Moment in den Herzen der Bajoraner aussah, stand auf einem ganz anderen Blatt.

Shakaar war nicht in sein Heimatgebiet zurückgekehrt. Er hatte die Mitglieder seiner Gruppe, die ihn begleitet hatten, vorausgeschickt, er selbst wollte in ein paar Tagen nachkommen. Ishta Moren hatte recht gehabt. Das war ihm an diesem Abend schmerzlich bewusst geworden. Und was das Schlimmste war, er hatte seine eigenen Worte nur konsequent nachvollzogen. Wie viele Welten lagen doch zwischen edlen Idealen und Zielsetzungen und der nüchternen Wirklichkeit? An manchen Tagen erschienen es Shakaar so viele zu sein, dass er jede Hoffnung aufgab, sie jemals zusammen bringen zu können. Heute war einer dieser Tage.

Der junge Mann stand mit einem Korb auf dem Rücken am Rand des Platzes der cardassianischen Siedlung, der als Marktplatz diente. Etliche bajoranische Händler hatten sich dort versammelt, um ihre Waren anzubieten. Auch Cardassianer hatten Interesse an frischen Früchten, Töpferwaren und schmückenden Handwerksarbeiten. Shakaar beobachtete eine Zeitlang die Frauen und Kinder der Soldaten, wie sie unbeschwert die Auslagen betrachteten und daraus auswählten. Ein paar Kinder spielten lachend zwischen den Tischbeinen Verstecken, und der Bajoraner fragte sich, was er hier eigentlich verloren hatte. Jede Ermahnung daran, dass die Cardassianer sich nicht so sehr von seinem eigenen Volk unterschieden, schmerzte ihn. Ob die Frauen und Kinder vor ihm wohl wussten, was hinter den Mauern des Lagers vorging, welche den einen Rand der Siedlung begrenzten? Und wenn sie es wussten, ob es sie interessierte?

Eine große Soykal-Frucht rollte ihm vor die Füße, und Shakaar bückte sich automatisch, um sie aufzuheben und in die ihm entgegengestreckten Hände eines cardassianischen Jungen zu legen. Auch das Lächeln, welches er im Erheben der hinzu geeilten Mutter schenkte, erfolgte ohne nachzudenken. Die junge Frau warf ihm ihrerseits einen wohlwollenden Blick zu. Shakaar merkte, wie sie ihn interessiert musterte und wandte sich mit einem kurzen Nicken ab. Es war ihm schon des Öfteren passiert, dass cardassianische Frauen ein Auge auf ihn geworfen hatten. Es lag an seinen hellen, von der Sonne gebleichten Haaren, welche für die schwarzhaarigen Cardassianer eine besondere Faszination ausüben mussten. Manchmal spielte er das Spiel aus Eitelkeit ein wenig mit, aber heute war ihm nicht nach Aufmerksamkeit. Er kehrte dem Marktplatz den Rücken und ging langsam auf die alles überragende Mauer zu.

An dem der Siedlung entgegengesetzten Ende des Lagers befand sich verborgen von Gehölz eine Grube, von welcher niemand wissen sollte. Sie diente dazu, die Spuren der Befragungen zu beseitigen, ohne bei irgendjemandem Aufsehen zu erregen. Ihre Gruppen hatten in der Dahkur-Provinz schon drei dieser Massengräber entdeckt, die von den Cardassianern geleugnet wurden. Und jedes Mal standen sie mit Verachtung und Verzweiflung davor - und mit dem Übelkeit verursachenden Wissen, dass sie zu schwach und zu wenige waren, um das Morden zu verhindern.

Shakaars Hand berührte den Ohrschmuck in der Tasche seines Überwurfs. Er hatte ihn an sich genommen, denn er wollte, dass er dem Kloster zurückgegeben wurde - so wie der Leichnam des jungen Prylaren. Zumindest das war er ihm schuldig, wenn er auch das Gefühl hatte, in jeder anderen Hinsicht vor sich versagt zu haben.

Als er den Korb und den Umhang abgelegt hatte und durch das Gebüsch kroch, wies der Geruch ihm den Weg. Er lockerte den Knoten des Tuches, welches er um den Hals trug, und band es sich vor die Nase. Leider gab es keine Möglichkeit, auch die Augen vor dem, was ihn erwartete, zu verschließen. Er robbte im Schutz der Büsche bis an den Rand und blieb dort erst einige Zeit ruhig liegen, um sich zu versichern, dass er alleine war. Dann wagte er es, sich aufzurichten und in die Grube zu blicken. Er starrte einen Moment erst einmal bewegungslos auf die geschundenen und abgemagerten Körper, die sich dort auftürmten, um seinen Magen an den Anblick zu gewöhnen. Das einsetzende Würgen in seiner Kehle legte sich nach ein paar Sekunden wieder. Mit einem letzten intensiven Luftholen stieg er hinab.

* * *


Nach mehreren Lebensspannen hatten sie ihn von dem Gestell losgebunden, auf welches er gefesselt war. Doch nur seine Augen nahmen dies noch war, in seinem Gehirn schien nichts mehr anzukommen. Aus einem Meer von Schmerz heraus starrten sie die Soldaten an, starrten die grauen Wände an, die an ihm vorüberzogen - warum bewegten sie sich? - starrten den Himmel an - die Sonne war viel zu hell, er sollte die Lider senken, doch er wusste nicht mehr, wie das ging, oder warum es überhaupt nötig war. Sie fixierten immer noch die Sonne, als sein Körper durch die Luft geworfen wurde, irgendwo landete - er musste irgendwo gelandet sein, denn die Umgebung war wieder bewegungslos, er selbst spürte es nicht. Dann hatten Schatten die Sonne verdunkelt, fliegende Schatten, die nach ihrem Flug auch ihn bedeckten. Sie nahmen ihm das Licht und sie nahmen ihm die Luft. Es wurde dunkel, er wollte schreien, doch seine Kehle wusste nicht mehr, wohin mit seiner Panik. Er musste weg von hier, bevor er erstickte, doch keine Synapse funktionierte mehr, kein Muskel schien zu wissen, warum er existierte. Nur sein Bewusstsein - sein Bewusstsein war grausam klar und erbarmungslos.

Fast konnte Bareil erkennen, wie die dünnen Finger über die Barriere griffen. Seine Augen füllten sich mit Tränen der Dankbarkeit, als sein Gehirn sich weigerte, die Realität weiterhin wahrzunehmen.

* * *


Shakaar hätte beinahe laut aufgeschrien, nur das Tuch über seiner Nase, welches auch seinen Mund bedeckte, dämpfte die Reaktion. Er hatte mit Todesverachtung leblose Körper mit den bloßen Händen beiseite gerollt, um den einen zu finden, nach dem er suchte. Dabei hatte er gebetet, um seine Nerven zu beruhigen und die Geräusche zu übertönen, welche das Fleisch unter seinen Händen verursachte. Und jetzt starrte er in ein Augenpaar von einer Schwärze, die er noch nie gesehen hatte, jedes Licht schien von ihnen verschluckt zu werden. Das war es nicht, was ihn zum Schreien veranlasst hatte, sondern die Tatsache, dass diese Augen lebten. Die Hornhaut musste am Austrocknen sein, es war keine Funke Intelligenz in ihnen zu erkennen - aber sie lebten.

Shakaar vergaß, wo er sich befand, in was sich seine Hände gruben, als er achtlos Körper zur Seite schaufelte. Tränen trübten seinen Blick, seine Lippen bewegten sich unentwegt, um den Propheten zu danken. Er lebte, das war alles, was zählte, der Prylar lebte. Schließlich hatte er den Körper soweit freigelegt, dass er Bareil an den Schultern packen und aus der Grube schleifen konnte. Shakaar war kräftig genug, dass das Gewicht des Geistlichen ihm keinerlei Mühe bereitete. Er zerrte ihn durch das Unterholz dorthin zurück, wo er seine Sachen liegen gelassen hatte. Jedes Mal, wenn er es nicht schaffte, einen Ast daran zu hindern, die Haut des Prylaren einzuritzen, zuckte Shakaar zusammen. Bareil schien aber von all dem nichts mitzubekommen. Er kam dem blonden Mann vor wie eine Puppe, an der lediglich die Augen lebten. Am Rand des Unterholzes griff Shakaar nach seinem Überwurf und hüllte den Körper des Prylaren darin ein. Dann nahm er ihn auf die Arme und machte sich auf den Weg zum Kloster.

Der Widerstandsführer wusste im Endeffekt nicht, wie er den Weg zurückgelegt hatte. Seine Gedanken waren nicht mit der Umgebung beschäftigt, seine Füße wussten auch so, wohin sie laufen mussten. Von Zeit zu Zeit hatte er sein Ohr gegen Bareils Brust gelegt, um sich zu versichern, dass dessen Herz noch schlug. Und er war jedes Mal mit erneuter Dankbarkeit erfüllt worden, als dem so war.

Schließlich fand er sich in einem kleinen Tempel wieder. Er hatte das Kloster erreicht, Bareil war ihm abgenommen worden, ihm selbst war ein Platz zum Ausruhen gewiesen worden, neben welchem er diesen kleinen Raum entdeckt hatte. Jetzt kniete er dort und hielt ein persönliches Zwiegespräch mit den Propheten, in welchem er ihnen für Bareils Leben dankte und sie um Verzeihung bat.

Als er sich irgendwann wieder erhob, bemerkte er einen Mönch geduldig mit einem Teller Brot und Käse und einem Krug in der Hand im Türbogen stehen. Shakaar wusste nicht, wie lange der Mann dort schon gestanden hatte, ohne ihn zu unterbrechen. Mit einem dankbaren Lächeln nahm er das Essen an und setzte sich auf einen Säulensockel.

Shakaar schickte einen Boten zu seiner Einheit, sie würden den nächsten Angriff ohne ihn starten müssen. Seine Stellvertreterin war gut genug, dass sie ihn nicht dazu brauchten. Er wollte im Kloster bleiben, bis er wusste, wie es Bareil ging. Der Vedek dieses Ordens hatte seinem Wunsch nachgegeben und ihm eine Unterkunft zugewiesen. Die Ärzte hatten Bareils Körper wieder hergestellt. Cardassianische Foltermethoden hinterließen keine dauerhaften Schäden - wenn man sie überlebte. Doch es war eine Frage der Geduld, ob der Geist des Prylaren wieder aus seinem Rückzugsort hervorkommen wollte.

Shakaar besuchte ihn einmal am Tag, setzte sich dann vor Bareils Stuhl oder bot sich an, ihn im Garten spazieren zu führen. Stets redete er dabei auf ihn ein, abwechselnd erzählte er Geschichten, die er erlebt oder gehört hatte, und bat ihn um Vergebung für das, was sie ihn hatten durchmachen lassen. Den Rest der Zeit machte er sich bei den täglichen Klosterarbeiten in der Küche, im Garten oder in der Werkstatt nützlich.

Es war in der zweiten Woche, dass der Widerstandskämpfer mitten in der Nacht durch einen Schrei aus dem Schlaf gerissen wurde. Hastig zog er sein Hemd über und stürzte auf den Gang hinaus und in Richtung von Bareils Quartier. Die Schreie rissen nicht ab. Vor dem Zimmer hatte sich eine Traube von Mönchen und Prylaren gebildet, aber eine Frau, die Shakaar als den Vedek dieses Ordens wiedererkannte, bat sie, zu ihren Betten zurückzukehren.

„Ich bitte auch dich weiterzuschlafen“, sprach sie schließlich Shakaar an. „sein Geist ist wieder erwacht, und ich möchte nicht, dass jetzt irgendjemand in seiner Nähe ist. Nicht, bis er begriffen hat, dass er wieder in Sicherheit ist. Bitte, geh!“

Es wurde eine harte Nacht für den blonden Bajoraner. Die Schreie wollten nicht abbrechen, teilweise klangen sie gar nach wilden Tieren. Auch die Decke, die sich Shakaar über den Kopf gezogen hatte, dämpfte den Schrecken nur wenig. In dieser Nacht durchlebte er eine ganz eigene Art der Hölle.

Auch die nächsten Tage wurde niemand zu Bareil vorgelassen. Die Schreie hatten aufgehört, doch manchmal, wenn Shakaar an dem Zimmer vorbeischlich, glaubte er Weinen zu hören. Er fand sich nun wieder öfters in dem kleinen Tempel, den er zu Beginn entdeckt hatte. Und er betete zu den Propheten, dass sie es endlich aufhören lassen mochten. Fast fürchtete er sich vor der erneuten Begegnung mit dem Prylaren, davor, was er nun in dessen Augen würde lesen können.

Am vierten Tag nach Bareils geistigem Erwachen begegnete er ihm unverhofft im Korridor vor dessen Quartier. Der Prylar befand sich in der Begleitung von zwei Mönchen, die ihn ein wenig zu stützen schienen, als Shakaar wie jeden Tag in den Gang einbog. Bareil sah entsetzlich aus. Seine Augen lagen tiefer als sonst in ihren Höhlen, er wirkte eingefallen und unendlich müde. Der junge Geistliche musste Anfang 20 sein, aber er erschien im Augenblick doppelt so alt. All die Schrecken, die er in den letzten Tagen noch einmal durchleben musste, hatten sich in seine Züge eingegraben. Es würde noch lange dauern, bis er seine äußere Ruhe wiedergewonnen hatte.

Shakaar überlegte nicht lange, sondern lief auf die Dreiergruppe zu.

“Prylar, ich bin so froh, dass Ihr wieder... dass Ihr wieder...“, er wusste nicht, was er genau sagen sollte. Alles klang zu harmlos für das, was er empfand. „Ich habe für Euch gebetet und gehofft. Ich weiß nicht, wie wir jemals die Schuld gutmachen können, die wir uns an Euch aufgeladen haben. Ich schäme mich für mich und die anderen. Ich will, dass Ihr wisst, dass wir niemals jemanden erlebt haben, der Euren Mut besessen hat. Wir und ganz Bajor stehen in Eurer Schuld. Ich...“ Er hielt inne, weil Bareil nicht reagierte. Der Prylar war stehengeblieben und betrachtete den Mann vor sich mit einer jedes Gefühl verbergenden Neutralität. Er zeigte keinen Zorn, er lächelte nicht, er ließ Shakaar mit keiner Geste wissen, was er fühlte. Der Widerstandskämpfer wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. So griff er schließlich in seine Jackentasche und hielt Bareils Ohrschmuck in der Hand. Er neigte seinen Kopf und sprach den Satz aus, der ihm wichtiger war als alles andere: „Bitte sagt, dass Ihr uns vergeben könnt.“

Warme Finger berührten seine Hand, als Bareil den Schmuck an sich nahm. Shakaar blickte wieder auf, und kurz bevor sich der Geistliche wortlos abwandte, glaubte er in den dunklen Augen ein „nein“ gelesen zu haben.

Shakaar verließ am selben Tag das Kloster ohne noch einmal mit Bareil gesprochen zu haben.


* * *


Der Erste Minister Bajors schwieg. Es war ihm nicht leicht gefallen, diese längst vergangenen Erlebnisse wieder an die Oberfläche zu holen. Auch heute verspürte er noch die gleiche Scham, die damals in ihm gebrannt hatte. Kira bewegte sich leicht an seiner Brust, um ihm ins Gesicht zu sehen. Eine Ahnung der Tränen, die auch hinter seinen Augen brannten, schimmerte in ihrem Blick.

„Davon hat er niemals gesprochen“, bemerkte sie leise.

Shakaar streichelte ihre Schulter. „Das glaube ich. Es ist nichts, woran man sich gerne erinnert“, er atmete tief durch, um die Enge zu sprengen, die sich über sein Herz gelegt hatte. „Er wirkte so schwach, und dabei war er auf seine ganz besondere Art stärker als wir alle.“

Sie nickte. „Es gibt so viel, was ich nicht über ihn weiß und niemals erfahren werde.“

„Und das Schlimmste daran ist“, fuhr Shakaar fort. Er schien Kira für den Moment nicht wahrgenommen zu haben. „Ich werde niemals erfahren, ob er mir jemals vergeben konnte.“ Er versuchte ein belangloses Lächeln, um Kira davon zu überzeugen, dass er den Satz halb im Spaß gemeint hatte. Doch es war deutlich, wie sehr diese Tatsache in ihm nagte.

Aus einem Affekt heraus legte sie ihm die Hände auf die Brust. Als sie die Worte sprach, hatte sie das Gefühl, es in tiefem Ernst und mit Gewissheit tun zu können. Und Shakaar spürte ihre Autorität in diesem kurzen Augenblick. Er nahm in Dankbarkeit die Worte an, die er niemals zu hören gehofft hatte.

„Ich vergebe dir in seinem Namen.“



Ende

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