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An verwaisten Orten

von VGer

Stabat Pater

"If equal affection cannot be, let the more loving one be me." (W.H.Auden)
Die erste Nacht war immer die längste. Der hilflos besorgte Blick seiner Mutter spiegelte sich in seinen Augen, während er im Türrahmen lehnte, das im Halbdunkel schlafende Kind betrachtend. Ihre Augen waren es, die über ihn wachten, während seine Augen sich auf das Kind richteten. Die Nacht hatte tausend Augen, und er war so dankbar, dass sie bei ihm war um ihm Kraft und Liebe zu spenden, wenn auch nur in Gedanken.



Die Nacht ist lang und voller Schrecken.



Er war der einzige Überlebende des Massakers und alles, was er in seinem jungen Leben bis jetzt gekannt und geliebt hatte, existierte nicht mehr. Er erinnerte sich nur mehr schemenhaft an jene Tage, in denen sein Leben endete und neu begann, doch woran er sich erinnerte war seine Mutter, die damals noch nicht seine Mutter gewesen war. Vor seinem inneren Auge sah er ihr Gesicht, rund und sanft und unverdrossen, ihre riesigen schwarzen Kulleraugen, die stets zu lächeln schienen. Was Sorge und Mitgefühl – zutiefst menschliche Eigenschaften, die Helena Rozhenkos kompromisslos liebevolles Wesen ausmachten – waren wusste er noch nicht zu interpretieren. Sie war nicht von seiner Seite gewichen, trotzig und stur wie sie immer schon gewesen war hatte sie ausgeharrt und auch nicht aufgegeben, als die Trauer in Zorn und die Verzweiflung in Gewalt umschlug. Immer wieder erwachte er, schreiend und schwitzend, mit den Bildern des Grauens, die sich für immer in sein Gedächtnis gebrannt hatten, vor seinen Augen.

Immer und immer wieder fragte er, ob seine Eltern und alle anderen jetzt im Sto’voQor seien. Sie wusste mit dem Begriff nichts anzufangen, verstand kein Wort von dem was er sagte.

Sie sprach unaufhörlich mit ihm, auch wenn er sie nicht verstehen konnte. Sie sprach, auch wenn sie nicht wusste was sie sagen sollte, und wenn sie nicht mehr wusste was sie sagen sollte, sang sie die Lieder, mit denen sie Nikolai in den Schlaf gewiegt hatte als er noch ein Säugling war. Zunächst klang es in seinen Ohren nicht wie eine Sprache, die dunklen runden Vokale und der melodische Singsang der Worte war so anders als das brüske und kehlige Klingonisch mit dem er aufgewachsen war. Was sie sagte klang wie der Wind in den Wäldern, wie der Gesang eines exotischen Vogels am frühen Morgen. Ihr Tonfall war es, der ihn lauschen ließ und der ihn allmählich beruhigte, und schließlich lernte er selbst die Worte, im Laufe der Zeit. Er meisterte ihre Sprache noch bevor er den Föderationsstandard sprechen konnte, und nach Tagen, Wochen und Monaten wehklagendem Schweigens und widerspenstigen Brüllens begann er mit ihr zu sprechen und hörte nie wieder auf.



Die Nacht ist lang und voller Schrecken.



„Warum, Mamuschka? Warum hast du das auf dich genommen, ich war doch ein fürchterliches Kind.“
„Zuneigung ist selten gleichmäßig verteilt, doch wenn man ein Kind hat, dann hat man selten eine Wahl – man muss lieben, man muss mehr lieben, und durchhalten.“ Das Funkeln in Helena Rozhenkos Augen tanzte amüsiert mit dem aromatischen Dampf, der aus ihren Teetassen aufstieg. „Ich hatte auch keine Wahl, aber du hattest niemanden mehr außer uns und ich wusste gleich, dass du ein guter Junge bist, solnyshko. Du wirst das vielleicht erst verstehen, wenn du selbst einmal ein Vater bist.“

Etliche Generationen und Übersiedlungen über aberhunderte Lichtjahre hatten diesen Tassen nichts anhaben können. Sie waren antik und filigran, von transparenter Schönheit, gezeichnet mit einem präzisen, filigranen Muster in Kobaltblau, Rauten und Blumen und vergoldete Schnörkel, Speeren und Schwertern gleich. Einst war es ein ganzes Service gewesen, inzwischen gab es derer nur noch vier – eine für die Mutter, eine für den Vater, eine für den Bruder und eine für ihn selbst. Er setzte die Tasse auf dem kleinen, dunklen Beistelltisch ab, wohl wissend, dass sie genauso sein Erbe war wie ihres und, dass der mütterliche Tee allein hin und wieder das war, was ihn vor dem Wahnsinn bewahrte.

Er sah ihr tief in ihre Augen, sah alles was sie nie gesagt hatte. Inzwischen war er erwachsen und die Tränen in den Augen seiner Mutter spiegelten sich in seinen eigenen.

„Spassiba, Mamuschka.“ Er nahm ihre kleinen Hände in seine, küsste sie. „Spassiba.“



Die Nacht ist lang und voller Schrecken.



Neben seinem Bett stehend streckte er seine große Hand aus, berührte sanft seine Wange, so weich und zart und warm. Seine Augen waren auf das Kind gerichtet, doch als er wieder aufblickte sah er nur seine Gefährtin, die nie seine Gefährtin sein wollte, und die hypothetische Zukunft, die sie nicht erlebt hatten. Er kannte jeden der bösen Träume, die seinen Sohn quälten, er hatte sie gesehen inmitten der Blutlache in der K’Ehleyr ihren letzten Atemzug getan hatte. Er hatte sein Möglichstes getan.

Die erste Nacht war die längste gewesen. Völlig unvermittelt war er Vater geworden -- Vater eines Kindes, das ihm so fremd war und das im kaltschweißigen Schlaf immer und immer wieder nach seiner Mutter schrie ohne aufzuwachen. Völlig unvermittelt war er Witwer geworden, ohne dass es ihm vergönnt gewesen war, sie als Gefährtin zu haben -- sie war in seinen Armen gestorben, ohne in seinen Armen gelebt zu haben; er hatte geliebt und verloren, ohne das, was er verloren hatte, wirklich gekannt zu haben. Die so absurd erscheinende Ungerechtigkeit der gesamten Situation ließ ihn verbittert aufheulen, trauernd um die verlorene Zeit, und sein markerschütterndes Brüllen begleitete Alexanders Heulen, bevor beide in der kalten Leere des Weltraums ungehört verhallten.

„Du hast dem Tod noch nie ins Auge geblickt, Alexander? Sieh hin und vergiss niemals.“

Die erste Nacht war die längste gewesen, aber längst nicht die schwierigste. Während er tagsüber versuchte, seinen Pflichten nachzugehen als sei nichts passiert und gleichzeitig seinem neuen Sohn und ihm selbst ein möglichst normales Leben zu ermöglichen, bestimmten Zorn und Hilflosigkeit seine langen Nächte. Er war ein Fremder in seinem eigenen Leben geworden, und egal was er sagte, er konnte es nicht ändern und zu seinem Sohn konnte er nicht durchdringen, egal was er tat und egal was er auch sagte.

Seit dem Massaker hatte ein Satz nur seinen Verstand belastet und war zur Obsession geworden: mein eigen Fleisch und Blut. Bei allen Meinungsverschiedenheiten und jeder anderen sich bietenden Gelegenheit hatte er es seinen Eltern und seinem Bruder an den Kopf geworfen: ihr seid nicht meine richtige Familie, ihr seid nicht mein eigen Fleisch und Blut, ihr könnt mich nicht verstehen und auch nicht lieben. Und jetzt stand er vor seinem Sohn, seinem eigenen Fleisch und Blut, und er konnte ihm nicht helfen, obwohl er ihn viel zu gut verstand und mit aller Kraft versuchte ihn zu lieben.

„Alexander. Sascha, Sascha...“, raunte er, doch es gab Monster gegen die selbst pflichtbewusstes väterliches Bemühen trotz allem nichts anhaben konnte. Dieses war eins davon, und das beschämte ihn.

Geschlagen schloss er die Tür zum Schlafraum, blind auf das wunderschöne Muster starrend, das die Sterne im Warpflug schlugen, aktivierte sein Kommunikationsterminal und wählte entschlossen eine Verbindung zur Erde. Helena Rozhenko hatte schon einmal ein entwurzeltes Kind mit unendlich viel Geduld dazu gebracht, ein anständiger Erwachsener zu werden, sie würde es auch diesmal tun, mit einem Überschuss an Liebe, Tee und russischen Gedichten, und irgendwann würde Alexander verstehen und verzeihen. Hoffte er.

„Mamuschka.“, sagte er nur und er musste auch nicht mehr sagen, denn sie verstand.



Die Nacht ist lang und voller Schrecken.



Neben ihrem Bett stehend streckte er seine große Hand aus, berührte sanft ihre Wange, so weich und zart und warm, strich eine verirrte Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Auch wenn er sie noch nicht besonders gut kannte, kannte er doch die bösen Träume, die sie plagten. Sie bewegte sich zuckend, wandte und räkelte sich, unwillig die Augen zu öffnen obwohl er sie geweckt hatte. Ihre noch so kindlich helle Stimme war schwer vom Schlaf, sie murmelte desorientiert vor sich hin, erst gedämpft und dann immer panischer. Daddy, Daddy, Daddy... Verwirrung, die im Zwielicht zwischen Nacht und Traum zur Realität wurde.

„Es ist alles in Ordnung, Miral. Ich bin es, Worf. Ich bin hier.“
„Warum bist du hier?“
„Weil du nicht alleine sein sollst im Angesicht von Liebe und Tod. Ich bin immer bei dir.“
„Geh weg!“

Unter den Nordlichtern, die rot und golden und mystisch im Himmel über dem klingonischen Heimatplaneten und der klingonischen Hauptstadt tanzten, stand er im Türrahmen und wachte über den unruhigen Schlaf, der sie allmählich wieder umhüllte und davontrug. Es war schweigsame Solidarität, die er empfand, diese einmalige verständnisvolle Verbundenheit, wie es sie nur zwischen zwei Waisen geben konnte, und allmählich verwandelte sich ein Zufall in Liebe. Jetzt, da er die Zukunft ansah und an die Vergangenheit dachte, erinnerte er sich wieder an die Augen und das Lächeln seiner Mutter, unerschütterlich, und auch wenn er nie ein Mann vieler Worte gewesen war, begann er nun leise zu sprechen, ein sanftes Murmeln nur, und die weichen russischen Konsonanten rollten nur so von seiner Zunge, denn was er zu sagen hatte konnte er in keiner anderen Sprache besser ausdrücken als in der Sprache seiner Mutter, die nicht seine Muttersprache war.

Es war nicht die erste Nacht für sie, ihr Vater war zwar schon seit gut einem halben Jahr tot und doch hatte sie sich noch nicht damit abgefunden und würde es noch länger nicht tun, aber es war die erste Nacht für ihn. Sie war nicht sein Kind, er würde ihr niemals den Vater ersetzen können, und doch waren sie beide nun untrennbar miteinander verbunden. Diesmal war alles anders, diesmal konnte er sich nicht auf den Rückhalt seiner Mutter verlassen, diesmal musste er ganz allein da durch, wenn auch mit B’Elanna an seiner Seite.

Er erkannte das Muster, das ihrer Begegnung und ihrer Beziehung innewohnte, formulierte seine Gedanken an das Kind, das seins und nicht seins war, und an die Mutter, die seine und nicht seine war, gleichermaßen, denn zu ähnlich und zu parallel waren ihrer beider Geschichten. Ihre Trauer war seine. Der Außenposten auf Khitomer explodierte erbarmungslos wie auch der Pioneer-Prototyp, jede Nacht aufs Neue – ihre Albträume waren seine. Er hatte mit dem Massaker auch seine klingonische Heimatwelt verloren, so wie sie Tom Paris und den Mars verloren hatte und sich jetzt auf ein neues Leben in einer völlig fremden Welt einstellen musste – ihre Einsamkeit war seine. Seine leiblichen Eltern waren tot und Fremde hatten ihren Platz eingenommen, er konnte lange nicht akzeptieren, dass er auch von ihnen geliebt wurde, und jetzt nahm er selbst den Platz eines Vaters, den er niemals ersetzen konnte, ein – ihre Wut war seine.

Er wusste, dass eine Zeit kommen würde, in der all das, was sie jetzt quälte, zu einer bloßen Erinnerung verblasst sein würde, in der sie Freunde sein würden und eine Familie. Er würde sie bei der Hand nehmen wie ihre Mutter auch; würde sie mit den tiefempfundenen Worten des uralten klingonischen Rituals ehren und ihnen das Versprechen geben, dass sie für immer ein Teil seines Hauses und seines Herzens sein würden. Doch dieser Tag war noch nicht gekommen, und bis dahin würde er an ihrer Seite ausharren, um der Dunkelheit die Einsamkeit zu nehmen. Er würde dem Rat seiner Mutter folgen, durchhalten und mehr lieben, um ihretwillen.



Die Nacht ist lang und voller Schrecken.



Er stand still an einsamen Orten, Waise unter Waisen und Kind unter Kindern, und wachte über sein Leben und das, was ihm am Wichtigsten war.
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