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Die Hölle, das sind wir selbst

von Gabi

Kapitel 1

Die Hölle, das sind wir selbst
(Thomas Stearns Eliot)




Turon lachte humorlos, während er den Phaser unter dem Gebüsch hervor angelte.

„Da musst du schon früher aufstehen.“ Er versetzte dem leblosen Körper des cardassianischen Soldaten einen verächtlichen Tritt. Die Waffe sah im Sonnenlicht betrachtet noch sehr gut aus. Eines musste man den Echsenköpfen lassen, sie hielten ihre Instrumente in Schuss. Dann blickte er wieder den Hohlweg hinunter, welchen die Patrouille vor wenigen Minuten entlanggekommen war. Er verspürte nicht mehr viel dabei, einen Cardassianer zu töten. Es war eine schmerzliche Erkenntnis, dass auch das Töten irgendwann zur Routine werden konnte. Er hätte es niemals für möglich gehalten. Es waren nicht allzu viele Jahre vergangen seit er zum ersten Mal ein Leben mit Absicht genommen hatte. Er erinnerte sich lebhaft an die Heulkrämpfe, die er ausgestanden hatte, die verkrampften Finger, die es nicht mehr schafften, die Mordwaffe wegzuwerfen, was er am liebsten getan hätte. Diese Handlung hatte von einer Sekunde zur anderen seine Unschuld geraubt, mit eiskalter Brutalität und unwiederbringlich. Töten war keiner der Fehler, den man in seinem Leben nun einmal beging, um später daraus zu lernen und ihn vielleicht sogar zu belächeln. Wenn man auch nur einmal getötet hatte, blieb ein Mal zurück, welches alles Wasser Bajors nicht mehr fortwaschen konnte. Er hatte sich selbst damals gehasst, hatte diejenigen gehasst, die ihm zu seinem ersten toten Cardassianer gratuliert hatten. Hatte seine Mutter gehasst, dafür, dass sie nicht strenger darauf bestanden hatte, dass er nicht ging.

Doch das alles schien ein Leben zurückzuliegen. Mehr noch, es schien nicht einmal aus seinem eigenen Leben zu stammen, sondern vom Hörensagen eines anderen Bajoraners. Das Mal war größer geworden und hatte einen Teil seiner Seele gefressen. Er wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis es ihn gänzlich ausfüllte. Aber es war ihm auch gleichgültig. Es gab ihm die Kraft, die Sache für Bajor ohne Gnade und Gewissensbisse zu verfechten. Das war ihm seine Seele wert. Was bedeutete es da schon, dass er aus dem Hinterhalt angriff und offene Flächen mied? Solange es den Widerstand stärkte waren Ruhm und Ehre leere Begriffe. Begriffe, die von Siegern geprägt wurden, nicht von Verlierern.

Sie waren geschickt und beharrlich genug gewesen, dass die Cardassianer ihre Präsenz hier im Tal verstärkt hatten. Es war deutlich, dass sie mit aller Gewalt die Gruppe, der er angehörte, aufbringen wollten. Doch das würde ihnen nicht gelingen. Die Bewohner der Dörfer schützten und verbargen sie, es waren Tausende und sie hielten alle zu ihnen.

Turon blickte wieder zu dem Cardassianer hinunter. Was hatte sich der Soldat aber auch dabei gedacht, sich hier alleine in die Büsche zu schlagen - hier in Kendra.

* * *


Angst. Eine innere Unruhe hatte ihn ergriffen. Er konnte sie nicht deuten, noch ihren Ursprung erfassen. Alarmiert blickte Vedek Bareil von seiner Arbeit auf zum Himmel. Er hatte einmal einen Luftangriff miterlebt, jeder Muskel in seinem Körper zitterte bei dieser Erinnerung. Es war für ihn nicht leicht zu begreifen, was in einem Volk vor sich gehen musste, das imstande war, Klöster anzugreifen. In kalten Nächten schmerzten noch heute die Narben, die er von diesem Angriff davongetragen hatte.

Doch der Himmel war klar, es war kein Geräusch zu hören, nicht das leise Donnern, das Gefahr verhieß. Woher kam dann diese unerklärliche Unruhe? Bareil war kein Mann, der zu irrationalen Angstzuständen neigte. Er hatte dieses Gefühl, das oft so bajoranisch schien, von frühester Jugend an bekämpft. Jahrelanges Training und die Unterweisung durch seine Mentorin, Kai Opaka, hatten ihm die Fähigkeit verliehen, fast immer in sein inneres Gleichgewicht zu finden. Er hatte gelernt, die Angst zu bekämpfen. Das grenzenlose Vertrauen, welches er in die Kai legte, half ihm sehr dabei. Sie war der immerwährende Fels im aufschäumenden Bajor. Sie war die eine Person, die Bajors Schicksal lenkte - auf eine sehr unauffällige und ruhige Art, doch sie tat es. Es gab niemanden anderes, dem sowohl die Geistlichen als auch die Widerstandskämpfer nichts als Respekt zollten.

Er wandte sich um, dort stand sie, neben einem Pfeiler des Säulengangs. Die kleine Person mit ihren stets gefalteten Händen betrachtete ihn mit einem leichten Lächeln.

Schwache Falten zeigten sich auf Bareils Stirn, als er begriff: Kai Opaka war der Grund für seine Unruhe. Nach außen wirkte sie wie immer, ruhig und verstehend. Doch unter dieser Hülle lag etwas, das Bareil verstörte, für das er aber keinen Namen finden konnte. Irgendetwas war absolut nicht in Ordnung. Die Worte, die sie nun an ihn richtete, verstärkten diesen Eindruck nur noch mehr.

„Antos, du hast in diesen letzten Wochen so viel getan. Ich möchte, dass du Zeit für dich und dein pagh nimmst.“

Mit zwei großen Schritten war er bei ihr. „Opaka? Was ist geschehen?“

Sie blickte zu ihm auf. Ein gutmütiges Lächeln schien zu ihm zu sprechen und ihm zu sagen, dass er sich zu viele Sorgen machte. Der Augenblick war vorbei. Wo er eben noch geglaubt hatte, einen Bruch durch ihr pagh ausmachen zu können, war nun wieder eine ebene, glatte Fläche. Opaka war eine Meisterin darin, soviel Sicherheit und Hilfe auszustrahlen, dass nur ganz selten in ihrem Leben irgendjemand auf die Idee gekommen war, dass sich auch hinter ihrer Aura eine verletzbare Seele befinden könnte. Angestrengt versuchte der Vedek, nach dem Gefühl von vorher zu forschen, ohne jedoch seinerseits diese Bemühung allzu deutlich werden zu lassen.

„Ich habe eine sehr großzügige Einladung unserer Schwestern und Brüder in Dakeen erhalten. Sie verliehen ihrer Freude darüber Ausdruck, uns einen Rückzugsort gewähren zu können, wann immer wir es wünschen.“ Sie deutete eine Bewegung ihrer Hände lediglich an, brachte damit aber sofort Bareils Einwand zum erliegen. „Es ist mein Wunsch, dass du dir ein paar Tage Zeit für dich nimmst - eine Woche, so lange wie es für dich richtig erscheint.“ Sie sah, wie er zögerte, wie er Fragen stellen wollte, die ihm auf der Seele lagen, doch nicht wusste, ob sie das zuließe. Und sie wollte diese Fragen nicht hören, wollte nicht, dass er hier blieb. Nicht im Augenblick. Es war mehr als genug, wenn sie den Sohn ihres Körpers opferte, sie wollte es nicht ebenfalls mit dem Sohn ihres Geistes tun.

„Geh für mich, Antos. Es ist mir sehr wichtig, dass du Dakeen aufsuchst. Tu es für mich.“

Der Vedek verneigte sich vor ihr in Gehorsam. Die Angst, die in der Luft lag, war beinahe unerträglich geworden. Natürlich würde er ihr gehorchen, er hatte es immer getan. Doch das Gefühl in ihm, welches ihm zuschrie, dass Opaka ihn von hier forthaben wollte, ließ sich nicht zum verstummen bringen. Sein Instinkt sagte ihm, dass sein Platz gerade jetzt an ihrer Seite war, und genau dies ließ die Frau nicht zu.

„Ich werde tun, wie Ihr es wünscht, Kai.“ Nicht in seiner Haltung, jedoch in seinem Tonfall lag Rebellion. Opaka musste darüber lächeln. Sie löste die Hände von ihrer Robe und strich dem Vedek über die Wange. Ihr lag so viel an ihm, dass es unwichtig war, wenn er sich im Moment verstoßen vorkam, später würde er es verstehen.

„Danke, Antos. Das bedeutet mir viel.“

* * *


Die kleine Gruppe hatte ihren Weg ins Dorf fortgesetzt. Der Zwischenfall mit der Nachhut der Patrouille war nur eine weitere Routineaktion mehr gewesen. Das eigentliche Ziel von Turon und den anderen war dasjenige Dorf, welches am weitesten flussaufwärts lag. Dort hatten die Dorfbewohner stets ein unauffälliges Lager für sie bereitgestellt, in welchem sie Nahrung und manchmal sogar Waffen lagerten. Es war nicht ungefährlich durch die verstärkte cardassianische Präsenz im Tal. Daher versuchte die Widerstandsgruppe ihre Waffen auf anderem Weg zu organisieren, doch Nahrungsmittel holten sie sich immer noch im Dorf. Turon hätte ohnehin nicht darauf verzichten wollen, der Zivilisation von Zeit zu Zeit einen Besuch abzustatten.

Die junge Frau rannte ihnen schon entgegen als sie die verstreut liegenden äußeren Häuser passierten. Mit einem lauten Lachen warf sie sich Turon an den Hals. „Ich hatte gehofft, dass ihr heute kommt.“ Sie küsste ihn überschwänglich. „Doch als vorhin die Patrouille hier durchkam war ich mir nicht mehr sicher. Haben Sie euch nicht gesehen?“

Turon winkte ab, so gut das mit Händen ging, die einen anderen Körper umfangen hielten. „Uns doch nicht, Neela! Wir haben neue Dämmfeldgeneratoren. Die müssten schon auf uns treten, um uns zu finden.“ Er lächelte dabei das Lächeln, welches in seltenen, entspannten Momenten seine Herkunft als Opakas Sohn verriet.

Sie nickte, nun allerdings ein wenig nachdenklich. „Ich bete zu den Propheten, dass es so ist. Die Soldaten haben so spöttisch dahergeredet, dass ich schon ein wenig Angst bekommen habe.“

„Was haben sie gesagt?“

„Ach, es waren nur Andeutungen, um uns zu erschrecken“, meinte sie ausweichend. „Einer fragte grinsend, wie wir denn die Idee fänden, wenn sie schlicht und ergreifend das gesamte Kendra-Tal in Trümmer legten. Dann wärt ihr auf jeden Fall unter den Opfern.“ Sie schüttelte sich bei dem Gedanken.

„Du sollst nicht auf diese Typen hören“, mahnte Turon ärgerlich. „Hier im Tal leben über 1000 Bajoraner - dazu sind nicht einmal die Cardassianer imstande, glaub mir.“

Sie nickte tapfer, dann machten sich beide auf, um den anderen Mitgliedern der Widerstandsguppe zu folgen, die mit dem kleinen Transporter schon beim Vorratskeller angelangt waren.

* * *


Bareils Abreise war ordnungsgemäß in den Dateien der Vedekversammlung vermerkt worden. Kai Opaka ließ einen halben Tag verstreichen, bis sie sich sicher sein konnte, dass der Vedek im Einsiedlerkloster angekommen und seine Ankunft erfasst worden war. Was sie nun vorhatte zu tun, sollte keine Zeugen haben, und wichtiger: Es sollte später keine Möglichkeit geben, Bareils Gewissen damit belasten zu können. Bisher hatte er diese entbehrungsreiche Zeit nur mit äußeren Narben durchstanden. Solange sie noch die Macht dazu hatte, wollte sie dafür sorgen, dass er von den inneren verschont blieb.

Die Propheten waren vage in ihren Visionen gewesen, doch Opaka glaubte, erkannt zu haben, dass sich ein Ende der Besatzung abzeichnete. Sie wusste nicht, wie lange es bis dahin noch sein mochte, doch die Visionen ließen erahnen, dass sie und Bareil zu diesem Zeitpunkt noch leben würden. Es war ihr doppelt wichtig, dass einer von ihnen unversehrt aus der Asche Bajors aufstehen konnte, um in die neue Zukunft zu führen.

Den letzten halben Tag hatte sie sich besonders geschäftig um ihre Aufgaben gekümmert, sie hatte versucht, keine Zeit aufkommen zu lassen, in der sie mit sich und ihren Gedanken allein gewesen wäre. Denn sie war sich nicht sicher, ob sie dann die Aufgabe ausführen konnte, die für so viele Bajoraner wichtig war, und die ihr eigenes Herz zerreißen würde.

Als sie schließlich die Verbindung nach Terok Nor aktivierte, war ihr als ob sie einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben zog. Ein weiterer Moment des Zögerns setzte ein, als der cardassianische Kommunikationsoffizier sie fragte, mit wem sie sprechen wolle. Ihre Finger tanzten über der Sensortaste, mit einer raschen Bewegung würde sie die Verbindung unterbrechen können und das Schicksal seinem eigenen Lauf übergeben. Jemand anderes an ihrer Stelle würde dann über Leben und Tod entscheiden. Doch sie hatte kein Recht dazu, die Propheten hatten ihr die Nachricht zukommen lassen, damit sie handelte. Es war eine Prüfung, dessen war sie sich sicher. Eine Prüfung, wie gefestigt sie war, wie sehr sie fähig war, ihre Person zurückzustellen.

„Prylar Bek.“ Ihre Stimme war ruhig und verständnisvoll wie immer. Und wenn sie an ihrem inneren Feuer verbrennen sollte, niemandem war damit genutzt, wenn sie es nach außen trug.

Kurze Zeit später wurde das cardassianische Zeichen auf dem Schirm vom Gesicht des jungen Geistlichen ersetzt, welcher im Stationstempel seinen Dienst tat und in dieser Position auch ein wenig als Bindeglied zwischen der cardassianischen Präfektur und der bajoranischen Geistlichkeit vermittelte.

„Eure Eminenz!“ In Überraschung über diese persönliche Kontaktaufnahme senkte er seinen Kopf. „Welche Ehre.“

Opaka lächelte ihm neutral zu. „Prylar Bek, ich wünsche, dass du den Befehlshabern der Station eine kurze Nachricht überbringst - ohne ihnen zu sagen, von wem sie stammt. Wirst du das für mich tun?“

Das Gesicht des Mannes blickte ein wenig verständnislos, dennoch versicherte er ohne Zögern: „Was immer Ihr von mir verlangt, Eminenz.“

Die Kai nickte. „Sag ihnen, dass das, was sie suchen, auf folgenden Koordinaten liegt...“ sie übermittelte ihm eine Reihe von Zahlen. „Das ist alles.“

Die Verwunderung war nicht aus den Zügen des Mannes gewichen. Doch es kam ihm nicht in den Sinn, weitere Fragen zu stellen. Was immer die Kai von ihm erbat, war gleichzusetzen mit dem Willen der Propheten. Er würde es in Demut ausführen.

„Die Propheten mögen an deiner Seite wandeln, Bek, und dich segnen.“

„So wie sie es mit Euch tun.“ Er verneigte sich noch einmal vor dem Bild seiner Kai.

Opaka beendete die Verbindung. Sie konnte nur hoffen, dass Prylar Bek nie realisieren würde, was sie ihm hiermit aufgetragen hatte. Sie selbst hatte nicht mit der cardassianischen Präfektur in Kontakt treten können, noch war sie selbst für Bajor zu wichtig, noch gab es niemanden, der ihren Platz würde einnehmen können, und ohne geistige Führung konnte ihr Volk nicht gegen die Ungläubigen bestehen. Sie würde für Bek beten.

Als der Bildschirm wieder dunkel wurde, stand die kleine Frau auf, verriegelte die Tür und sank auf die Knie. Tränen strömten über ihre Wangen, mit zitternden Händen versuchte sie, diese fortzuwischen, doch es waren zu viele.

„Vergebt mir“, flüsterte sie. „Vergebt mir... vergebt mir...“ bis ihr Kopf zu ihren Knien hinunter gesunken war und sie sich der Angst und Verzweiflung vollständig hingab, in der Hoffnung, sich danach wieder aufrichten und vor sich selbst bestehen zu können.

* * *


Turon wandte sich zu einem seiner Kampfgefährten um, der hinter ihn getreten war.

„Was ist los, Turon? Du siehst aus, als hättest du irgendwas auf dem Herzen.“

Der Angesprochenen zuckte mit den Schultern, dann blickte er wieder den Fluss entlang, neben welchem er auf einem Felsbrocken saß. „Ich weiß auch nicht“, gestand er. „Aber hast du nicht auch den Eindruck, dass die Cardassianer sich in diesen letzten beiden Tagen zurückgezogen haben? Ich meine... wir sind auf keine einzige Patrouille mehr gestoßen...“

„Und das macht dich nervös?“ Der andere lachte leise. „Für mich wäre das eigentlich eher ein gutes Zeichen. Sie haben es sicherlich aufgegeben, weil sie uns nicht finden können. So unendlich viele Leute haben sie jetzt auch wieder nicht, dass sie ein so großes Kontingent über eine längere Zeit in einem relativ kleinen Tal stationieren können. Ich schätze, es hat irgendwo anders wieder einen Aufruhr gegeben, der die Anwesenheit der Typen erfordert.“ Er klopfte Turon auf die Schulter. „Du solltest dir Sorgen machen, wenn du die Echsenköpfe siehst - nicht anders rum. Okay, Kleiner?“

Turon stand mit einem lauten Atemzug auf. „Ich hoffe, du hast recht. Ich hoffe es bei den Propheten!“ Doch auch im Zurückgehen wandte er sich immer wieder um. Die unerklärliche Angst, die von ihm Besitz genommen hatte, konnte er nicht abschütteln. Sein Blick glitt flussabwärts, wo die Dörfer lagen, wo so viele Leben gelebt wurden - und die Worte von Neela spukten unangenehm in seinem Bewusstsein.

* * *


Es war ihm nicht möglich, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Bareil befand sich nun schon zwei Tage in Dakeen und mit jedem Tag wuchs seine Angst. Er hatte geglaubt, hier in dieser Einsamkeit Antworten zu finden. Doch die Propheten verwehrten ihm ihre Einsicht. Lange Stunden saß er nur bewegungslos vor den Kerzen, das Gefühl seiner Beine fest auf den Boden konzentriert, die Handflächen offen zum Himmel gerichtet - ein Bindeglied der Einheit zwischen fester Materie und dem geistigen Element. Doch es war ihm nicht gelungen, seine Gedanken vollständig zu leeren, um an deren Grund die Antworten zu finden. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er darüber nachdachte, was in Opaka wohl vorgegangen sein mochte. Sein Instinkt sagte ihm, dass er hier falsch war, dass er bei ihr sein sollte, dass er sich dieses eine Mal ihrem Wunsch hätte widersetzen sollen. Doch er hatte es nicht getan - hätte es gar nicht tun können. Kai Opaka befahl so gut wie nie, sie bat nur - doch ihre Bitten waren bindender als es jedes Wort der Autorität hätte jemals sein können. Es hatte ihr viel daran gelegen, dass er jetzt nicht bei ihr war. Und Bareil ahnte, dass es zu seinem eigenen Schutz geschehen war. Doch diese Erkenntnis ließ ihn nur noch hilfloser zurück.

* * *


Zwei Tage waren vergangen. Zwei Tage, seitdem sie mit Terok Nor Kontakt aufgenommen hatte. Und jede Minute wartete sie auf eine Nachricht. Irgendetwas, das ihr sagte, dass es vorüber war. Mittlerweile war sie sich sicher, dass nicht einmal die Gewissheit so schlimm sein konnte, wie das lange Warten. Jede Minute, in der sie nichts hörte, regte sich wieder Hoffnung in ihr, dass der Kelch an ihr vorübergezogen war. Dass die Cardassianer den Stützpunkt nicht hatten finden können - oder dass er verlassen war. Sie hätte alles dafür gegeben, Turon eine Warnung zukommen zu lassen, damit genau dieser Fall eintrat. Doch sie hatte keine Möglichkeit, mit ihrem Sohn Kontakt aufzunehmen. Wenn er etwas von ihr wollte, dann meldete er sich bei ihr. Anders herum war es nicht möglich. Sie hatten es so gehalten, weil es ihnen als sicherer erschienen war - sicherer! Wie hohl klang dieses Wort nun in ihren eigenen Ohren. Diese Sicherheit würde ihm den Tod bringen. Den Tod durch den schwersten Verrat, den es überhaupt nur geben konnte, den Verrat einer Mutter an ihrem Kind.

Opaka hatte diese Tage betend zugebracht. In stundenlangen Monologen mit den Propheten hatte sie versucht, deren Vergebung zu erlangen - und dennoch war sie sich nicht sicher, ob sie diese überhaupt verdiente. An Schlaf war nicht zu denken. Jede Bewegung, jeder Schritt eines sich nähernden Ordensmitglieds ließen sie zusammenzucken. Sie hatte Angst vor möglichen neuen Nachrichten und sie hatte Angst davor, nichts zu hören. Immer und immer wieder drängte sich die unliebsame Frage in den Vordergrund „Hat es keinen anderen Weg gegeben?“ Hatte es das wirklich nicht? Sie hatte rasch handeln müssen, um die Leben im Tal zu schützen... doch war diese Schnelligkeit nicht an einem Trugschluss schuld? Hatte es wirklich keine andere Möglichkeit gegeben? Sie hatte bisher keine Antworten darauf gefunden - und sie fürchtete nichts so sehr wie den Tag, an dem sie eine Antwort erhalten sollte - und diese eine andere Möglichkeit aufzeigen würde.

* * *


Die Sterne verdunkelten sich. Das leichte Erzittern der Luft, das wie ein fernes Donnergrollen anmutete, verhieß nichts Gutes.

Neela schrak aus dem Bett hoch und war mit zwei Sätzen am Fenster. Mit Entsetzen starrte sie in den Nachthimmel hinauf, an welchem die cardassianische Gleiterflotte aufzog. Es war kein Scherz gewesen, Turon hatte unrecht gehabt. Sie waren wirklich dazu fähig! Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, ihre Stimmbänder versagten für den Moment. Sie musste alle aufwecken! Sie mussten rennen! Nur wohin? Die Reichweite der Bordwaffen war viel zu groß, als dass auch nur einer von ihnen eine Chance gehabt hätte.

Doch noch ehe ihre vor Angst gelähmten Glieder wieder ihren Befehlen gehorchten, erkannte sie, dass die Flotte ruhig weiterzog. Kein einziges Geschützfeuer erhellte die Nacht über dem Dorf. Sie rannte die Treppe hinunter und stürzte auf die Straße hinaus. Ein neues Entsetzen nahm von ihr Besitz, als ihr klar wurde, wohin die Gleiter flogen.

* * *


Bareil riss die Hände herunter und stieß dabei eine der Kerzen um. Die Flamme leckte nach einem Stoffstück, welches als Verzierung der Leuchter gedient hatte, und züngelte für kurze Zeit mit neuer Nahrung empor, bevor sie in einem langsamen Sterben auf dem kahlen Steinboden endete.

Mit einem Satz war der Vedek auf den Beinen, doch er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Das Gefühl, rennen zu müssen, war beinahe nicht zu unterdrücken. Etwas war geschehen, was die Grundfesten seines Glaubens erschüttert hatte, er spürte es wie einen physischen Schlag gegen den Körper. Mit weitaufgerissenen Augen starrte er die verbliebenen Flammen an. „Propheten, nein!“

* * *


Sie brach zusammen. Das Gefühl, das sie aus ihrem ohnehin unruhigen Schlaf aufgeweckt hatte, war so deutlich gewesen, dass es keinen Platz für Zweifel ließ. Sie hatte es aus dem Bett geschafft, nur um dann auf dem Boden daneben in die Knie zu gehen. Jetzt würde sie bezahlen müssen. Es war so einfach, sein eigenes Leben für das Wohl Bajors zu geben - so einfach! Warum hatte nie jemand darüber gesprochen gehabt, um wie viel schwerer es war, das Leben von jemandem zu geben, den man liebte, und dann selbst weiterleben zu müssen?

Opaka hoffte, dass niemand ihren leisen Schrei hörte, als sie sich auf dem Boden zusammenkauerte und mit den Händen an ihren Haaren zu reißen begann.

* * *


Ein Teil von ihnen war aus dem Schlaf gerissen worden. Es war so rasch geschehen, so vollkommen unerwartet, dass sie keine Chance gehabt hatten. Der Wachposten hatte die Cardassianer auf seinen Sensoren registriert und war zur Höhle zurückgekehrt, die ihnen als Unterschlupf diente. Des Öfteren patrouillierten Gleiter über dem Kendra-Tal, meist jedoch völlig ergebnislos. Die Dämmfelder verbargen die Widerstandskämpfer vor jeder Art von cardassianischen Sensoren. Dennoch waren die Bajoraner immer alarmiert, wenn sich eine Flotte über dem Tal befand, allzu leichtsinnig wollten sie nicht werden. Und so gedachte der Posten seine Kampfgefährten zu wecken, und sie über die Sensordaten zu informieren. Niemand hätte damit gerechnet, dass die Cardassianer dieses Mal sehr genau wussten, welches Ziel sie ansteuerten. Es vergingen nur wenige Sekunden zwischen der Sensorsichtung und dem Auftreffen des ersten gezielten Phaserbeschusses.

Mit verzweifelten Schreien versuchten die Bajoraner an ihre Waffen zu kommen, oft noch orientierungslos vom Schlaf. Es war nicht möglich, dass die Cardassianer Bescheid wussten - es durfte einfach nicht möglich sein!

Der zweite Treffer ließ an der Realität keine Zweifel mehr. Mit nie gekannter Verzweiflung musste Turon mitansehen, wie Körper seiner Freunde zerfetzt wurden, wie trotzig emporgereckte Waffen vom Gelächter der starken Bordgeschütze zermalmt wurden. Die Höhle um ihn herum brach zusammen, Feuer und Staub war alles, was er noch bemerkte, als ein schmerzender Schlag einen Teil seines Körpers mit sich zu reißen schien. Der andere Teil registrierte noch das Blut, dann starb er in einem wortlosen Schrei.

* * *


Der Verrat an der Widerstandsgruppe war wie ein Aufschrei durch die Straßen der Städte und die Klostermauern gehallt. Vedek Bareil hatte seine Mediation im Einsiedlerkloster Dakeen abgebrochen und war so schnell er konnte hierher zurückgekehrt, denn der einzige Sohn der Kai hatte sich unter den Opfern befunden. Er hätte bei ihr sein müssen in diesem Moment.

Er hatte es nicht verstanden - bis vor wenigen Minuten.

Bareil konnte nicht glauben, was ihm ein äußerst erregter Prylar Bek eben mitgeteilt hatte. Der Vedek erhob sich langsam von dem Platz vor dem Kommunikationsterminal. Einen Moment blieb er einfach reglos stehen, bis sich sein Puls wieder beruhigt hatte, dann trat er auf die Tür zu und begann den Weg zu dem Zimmer hin, in welchem er seit seiner Jugend Trost und Zuspruch gefunden hatte. Auf gewisse Weise erhoffte er sich das auch dieses Mal.

Kai Opaka sah von Papieren auf, mit denen sie beschäftigt war, als der Vedek vor ihren Tisch trat. Ihre Miene schien frei von Sorge, von Verlust - von jedem weltlichen Schmerz zu sein. Doch Bareil konnte in ihren Augen lesen, wie es sie innerlich beinahe zerriss. Als die Nachricht der regelrechten Abschlachtung der Rebellen im Kendra-Tal das Kloster erreicht hatte, hatte die Kai um ihren Sohn gelitten. Bareil wusste das, er war bei ihr aufgewachsen, kannte sie gut genug, um ein wenig hinter ihre gefasste Fassade sehen zu können. Doch jetzt konnte er keinen Schatten dieses Leids in ihrem Verhalten erkennen. Opaka hatte den Tod akzeptiert, er war geschehen, er war unabänderlich, er war der Wille der Propheten gewesen. Doch wenn Prylar Bek recht hatte, dann gab es einen anderen Grund für die Schicksalsergebenheit der Kai.

„Warum?“ war daher alles, was er über die Lippen brachte.

„Es musste sein, mein Sohn.“

Fast gegen seinen Willen schüttelte Bareil den Kopf. „Musste es wirklich sein?“ Als die Kai nicht sofort reagierte, setzte er erregt hinzu: „Euer Sohn, Eminenz. Er war Euer eigener Sohn.“

Sie schüttelte nur den Kopf. Sie hatte Angst, dass Bareil nicht verstehen würde.

Der Vedek drückte die Hände der Kai, um aus dieser Berührung Trost zu erhalten. „Warum?“ wiederholte er leise.

„Sie wollten das gesamte Tal unter Beschuss nehmen.“

„In Kendra leben über 1000 Bajoraner“, Bareil schüttelte den Kopf. „Die Cardassianer hätten nie so viele Unschuldige...“

„Oh doch, sie hätten. Das weißt du so gut wie ich. Die einzige Chance, ihre Leben zu retten, war es gewesen, den Cardassianern die genaue Lage mitzuteilen...“

„Ihr hättet sie warnen können!“

Mit traurigem Blick betrachtete die Kai ihre Hände, die nun wieder in denen Bareils ruhten. „Es war zu spät. Ich habe keine direkte Verbindung zu Turon - aber ich hatte eine direkte Verbindung zu Terok Nor.“

Als sie den Kopf hob, konnte sie in Bareils Augen lesen, dass dieser nicht verstand. Wenn ihr Verrat bekannt werden sollte, würde sie sich vielen dieser Blicke gegenübersehen, das war ihr bewusst. Aber ganz gleich, was der Rest der Bevölkerung von ihr dachte, es war ihr wichtig, dass dieser eine Mann verstand. Sie löste ihre Hand aus der seinen und berührte sein schmuckloses Ohr. Bei jeder anderen Person hätte der Vedek den Kopf beiseite gezogen, aber die Kai ließ er gewähren.

„Bareil, sie waren weniger als 50 Personen. Für jeden von ihnen hätten über 200 Unschuldige sterben müssen - begreifst du nicht, dass ich das nicht zulassen konnte?“

„Es muss einen anderen Weg gegeben haben“, sagte der Vedek leise, aber noch während er die Worte aussprach, war ihm klar, dass Opaka ihn eingeschlagen hätte, hätte er existiert.

Er stand fast ruckartig auf. „Ihr habt Prylar Bek befohlen, den Aufenthaltsort zu verraten?“

Sie nickte.

„Die Übertragung muss vernichtet werden!“ Mit zwei großen Schritten war er an der Tür. „Ich werde dafür sorgen, dass niemand davon erfährt - niemals!“

„Antos“, rief sie ihm nach. „ich habe Angst, dass du da hineingezogen wirst ... du sollst damit nichts zu tun haben. Das ist nicht dein Problem!“

Er schüttelte den Kopf, zum ersten Mal mit einem Gefühl der offenen Widerrede. „Oh doch, das ist es. Es ist soeben zu meinem Problem geworden.“


Ende

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