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Licht

von Gabi

Kapitel 1

Die Sonne erhob sich über den Misthraal-Bergen, welche die östliche Grenze der Provinz Dahkur bildeten. Ihr Licht tastete sich behutsam über Gipfel und Pässe. Die Strahlen waren noch zu flach, um den Boden des Tals zu erreichen. Sie ließen den gegenüberliegenden Bergkamm des Kola-Gebirges in rötlichem Licht erstrahlen. Wie ein kleines Leuchtfeuer, welches den Morgen begrüßte.

Die Singha-Ebene und das darauf befindliche Arbeitslager würden noch lange nicht vom Licht erhellt werden. Es gab dort auch nicht wirklich etwas, das es wert gewesen wäre, an den Tag gezerrt zu werden. Nur die Hoffnung von vielen Hunderten Bajoranern, dass mit der vergangenen Nacht auch endlich ein wenig Dunkelheit aus ihren Herzen entschwände.

Kira Nerys war dreizehn Jahre alt, zumindest was die verstrichene Zeit seit ihrer Geburt anging. An Erfahrung und Entbehrung sprachen ihre dürre Gestalt und ihre ausdrucksvollen schwarzbraunen Augen von wesentlich mehr als es ihrem Alter zugestanden hätte.

In ihren Händen hielt sie eine hölzerne Schale mit dem geschmacklosen Getreidebrei, der hier in Singha als Frühstück ausgegeben wurde. Schale und Holzlöffel hatte sie sich selbst geschnitzt, das einzige Zugeständnis an die künstlerische Ader ihrer Mutter, von der sie so gar nichts geerbt hatte. Mehr als am kreativen Umgang mit Holz lag ihr an dem kleinen Messer, welches sie zum Schnitzen verwendet hatte, und das wohlversteckt in ihrem rechten Stiefelschaft ruhte. Wenn die Wachen sie damit erwischten, würde sie unter Garantie Ärger bekommen.

Mit ein paar anderen Mädchen und Jungen hatte sie sich mit ihrem Frühstück an die Wand einer Hütte zurückgezogen. Von hier konnten sie die aufgehende Sonne beobachten, wie diese ihre Strahlen an die gegenüberliegenden Berge sandte. Jeden Morgen warteten die Kinder unbewusst auf den Moment, da das Licht endlich ihre schmutzigen Gesichter traf. Es schien, als ob das Singha-Lager das Allerletzte war, was Bajors Sonne auf ihrem Morgenspaziergang beachtete. Nerys konnte es ihr nicht verdenken.

„Habt ihr es schon gehört?“ eröffnete Caera das Gespräch nicht weiter verwunderlich. Das Mädchen war ein halbes Jahr älter als Nerys und schien immer zu wissen, was vor sich ging. Sie war die stete Quelle an Information für die Kinder; wie viel davon der Wahrheit entsprach tat nichts zu Sache. „Gestern Mittag haben sie einen Transporter nach Ganarain abgefangen. Die Cardies mussten ihren Weg wohl in Unterhosen fortsetzen.“

Die Kinder versteckten ihr Kichern hinter den Händen und vergewisserten sich mit raschen Blicken, dass keine Wachen in der Nähe waren. So früh am Morgen war es meist noch ungefährlich zusammenzusitzen und zu quatschen. Die Erwachsenen beider Rassen saßen an ihrem Frühstück.

„Wer sind sie?“ wagte ein kleinerer Junge leise zu fragen.

Das kollektive Stöhnen der Älteren antwortete ihm. „Die Shakaar natürlich“, flüsterte Caera hinter vorgehaltener Hand. Die anderen nickten ernsthaft. Berichte von Aktivitäten dieser Widerstandszelle mehrten sich in letzter Zeit, sie durchdrangen selbst die energiegesicherten Zäune des Arbeitslagers. Nerys war sich sicher, dass vieles von dem, was sich die Kinder – vor allem Caera – morgens erzählten, maßlos übertrieben war. Doch es tat gut, an der Vorstellung festzuhalten, dass es außerhalb ihrer Mauern eine andere Welt gab, Bajoraner, die nicht nur frei waren, sondern mutig genug, den Kopf und die Waffen zu heben. Sie hielt sich in ihren dunkelsten Nächten an dieser Vorstellung fest, wenn sie wieder zu viel Gewalt und Demütigung gesehen und erlebt hatte. Was störte es da, wenn die anderen – vor allem die älteren Mädchen – die Gruppe manches Mal ins Heldenhafte erhoben.

„Ich wünschte mir, Shakaar würde hier her kommen und die Wachen für das bestrafen, was sie uns immer antun“, sinnierte ein 12-jähriges Mädchen schwärmerisch, das noch dünner wirkte als Nerys.

Die beiden Jungen Helor und Prun knufften sich gegenseitig die Ellbogen in die Seiten und kicherten albern. „Der würde dich doch sowieso nicht beachten, Nense.“

Die Angesprochene bekam rote Ohren und drehte ihren Kopf mit einem leisen „Ihr seid doof“ fort.

„Wahrscheinlich ist der eh ein kleiner Dicker mit krummen Zähnen“, machten sich die Jungen weiter über die Heldenverehrung der Mädchen lustig.

„Solange er euch in die Tasche steckt …“, konterte Nense, was ihr ein „Uh“ und „Ah“ von den beiden Jungen einbrachte.

„Wo ist eigentlich Raya heute morgen?“ unterbrach Nerys die Stichelei der anderen. Ihr waren diese pubertären Albernheiten lästig. Ihr Freunde verhielten sich manchmal immer noch wie die Kinder, die sich überhaupt nicht mehr leisten konnten zu sein. Statt sich auszumalen, was die Shakaar alles tun oder nicht tun konnte, ertappte sie sich des Öfteren beim Tagträumen, was sie, Nerys, alles tun würde, wenn sie Mitglied dieser Gruppe wäre.

Caeras Blick verfinsterte sich. Es war natürlich wieder sie, welche die Information hatte. „Habt ihr es noch nicht gehört?“

Die anderen schüttelten pflichtschuldig ihre Köpfe.

„Die Wachen haben sie aufgebrochen.“ Dieses hässliche Wort benutzten die Kinder, wenn sie das Hässliche beschreiben wollten, was manche Wachen manchen Mädchen ab einem bestimmten Alter antaten. Raya war die Älteste in ihrer kleinen Gruppe, und mit Abstand die Hübscheste.

„Was?“ fragte Nense verwirrt.

Helor, nicht bekannt für seine Feinfühligkeit, stupste mit seinem Finger in den Bereich zwischen Nenses Beinen. „Sie schieben ihre Schwänze da rein.“

Das Mädchen zog sofort ihre Beine an und starrte ihn aus großen Augen an.

„Und sie haben keine so weichen Pimmel wie die Typen da“, Caera deutete mit ihrem Finger auf die beiden größeren Jungs, die nun ihrerseits rote Ohren bekamen. „Sondern da sollen so richtig fiese Schuppen dran sein, damit das höllisch weh tut und blutet.“

„Muss das sein?“ Nerys legte einen Arm um das jüngere Mädchen, das nun angefangen hatte zu zittern. „Müsst ihr über sowas reden?“

„Ist nun mal so“, konterte Caera. „Kann doch jeden von uns treffen, wenn wir denen krumm kommen.“

„Mich werden sie so nie kriegen“, behauptete Nerys trotzig.

„Ach!? Und wie willst du das verhindern?“ wollte Prun wissen. „willst du sie abmurksen, oder …“ er feixte hämisch, „… dich der sagenhaften Shakaar anschließen?“

„Und wenn es so wäre?“ Sie erhob sich. Sie hatte keine Lust, sich weiter dem zwecklosen Gespräch mit diesen Kindern zu widmen. Wenn sie doch nur einen Weg aus diesem Lager hinaus finden könnte. Irgendwie würde sie dann sicherlich die Widerstandszelle finden. Dessen war sie sich ganz sicher.

Aus den Hütten kam ein kleiner Junge auf ihre Gruppe zugerannt. „Nerys! Dein Vater sucht dich.“

Froh über die Ausrede, die anderen zu verlassen, folgte sie ihm. Die ersten Strahlen der Sonne hatten mittlerweile den Talboden und damit das Arbeitslager erreicht.

Als sie den Verschlag betrat, in dem sie mit ihrer Familie lebte, sah sie, dass ein fremder Bajoraner bei ihrem Vater saß. Misstrauisch beäugte sie den Fremden. Er wirkte nicht wie einer der Arbeiter hier aus dem Lager, seine Haltung war aufrechter, und das machte ihn für Nerys augenblicklich zu einem möglichen Kollaborateur.

„Du wolltest mich sprechen, Papa?“

Der Fremde betrachtete seinerseits das Mädchen. Auch in seinen Augen lag ein gewisses Misstrauen, was Nerys irritierte.

„Sie ist noch ganz schön klein, Taban“, bemerkte er nachdenklich.

„Nicht mehr klein genug“, hörte Nerys ihren Vater mit einem wehmütigen Tonfall sagen. „Ich habe Angst um sie. Wenn den Wachen langweilig ist, dann holen sie sich die Mädchen auch schon vor ihrem Ih’tanu.“

„Taban, so schlimm ich das finde, wir sind kein Auffanglager für kleine Mädchen.“

„Akrem, du schuldest mir etwas!“ Die Stimme von Kiras Vater war ungewohnt hart.

Nerys blickte zwischen den beiden Männern hin und her, sie verstand nicht, was vor sich ging, doch sie begriff, dass es wichtig war – wichtig für ihr weiteres Leben.

Der Fremde nickte bedächtig. „Du hast mir mein Leben gerettet, dafür stehe ich in deiner Schuld.“

„Dann begleiche sie jetzt“, forderte ihr Vater. „Nerys ist ihrem Alter voraus. Sie wird euch nicht hinderlich sein, sondern hilfreich.“

Nerys war der Ansicht, dass sie nun lange genug daneben gestanden hatte. Sie kniete sich zu ihrem Vater. „Was ist hier los, Papa?“

Kira Taban legte ihr die Hand auf das strubbelige Haar und streichelte traurig darüber. „Es ist hier nicht mehr sicher für dich, meine Kleine. Du wirst bald eine Frau sein und du weißt …“

„… ich weiß, was mit Raya passiert ist“, erklärte sie ernst. „Mich werden sie nicht kriegen.“

Er nickte. „Und genau deswegen musst du weg.“

„Weg wohin? Papa, ich gehe nirgendwo hin ohne dich …“

„Shakaar wird nicht begeistert sein“, gab der Fremde zu bedenken. „Nicht von ihr und nicht von mir.“

„Shakaar!?“ Nerys hielt sich rasch die Hand vor den Mund, als ihr klar wurde, dass sie zu laut gesprochen hatte. Alle drei hielten den Atem an, doch von draußen war nichts weiter zu hören als das morgendliche Erwachen der gewohnten Aktivitäten.

Kira Taban betrachtete seine Tochter nachdenklich. Ihm war nicht die Veränderung in ihrem Gesicht entgangen, als der Name des Rebellenführers gefallen war. Er wollte, dass sie fortging, doch diese aufflammende Begeisterung hatte er nicht sehen wollen.

„Du kannst mich zur Shakaar bringen?“ flüsterte sie nun dem Fremden zu, alle Beteuerungen vergessen.

„Das ist Lorit Akrem“, stellte ihr Vater den anderen vor. „Er ist hier im Lager, um neue Leute für den Widerstand zu rekrutieren – und er schuldet mir einen Gefallen“, fügte er noch einmal betont hinzu.

„Papa, ich will zum Widerstand“, flüsterte sie. „Ich will etwas tun können.“

Kira Taban nickte. Er blickte erneut den anderen Mann an.

„Wie alt bist du?“ fragte Lorit sie.

„Ich bin bereits dreizehn!“ erklärte Nerys stolz und richtete sich zu ihrer vollen – nicht wirklich beeindruckenden – Größe auf.

Abermals verzog der Fremde die Miene.

„Und ich kann kämpfen“, beteuerte sie.

Der Mann begutachtete sie nachdenklich. Seine Finger strichen bedächtig über sein Kinn. Lange Zeit war kein Laut in dem Verschlag zu vernehmen.

„Du hast das Herz auf dem richtigen Fleck“, erklärte Lorit schließlich. „Das kann ich sehen. Und du hast Mut, was vielen deiner älteren Mitgefangenen hier fehlt.“ Er streckte seine Hand zu Kira Taban aus. Nerys‘ Vater schlug ein. „Also gut, ich nehm sie mit. Kein Wort zu niemandem. Du verabschiedest dich von niemandem außer deinem Vater und du nimmst nichts mit außer dem, was du am Körper trägst. Pünktlich zum Abendessenappell bist du hinter der Hütte des Heilers. Alleine. Verstanden?“

Nerys nickte. Sprechen hätte sie ohnehin nicht können. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie konnte noch nicht fassen, was sich gerade eben abgespielt hatte. Sie bekam tatsächlich eine Chance, ihr Leben zu ändern.

Nachdem Lorit gegangen war, wandte sie sich an ihren Vater. „Kommst du auch mit, Papa?“ wollte sie leise wissen.

Kira Taban schüttelte den Kopf und blickte sie traurig an. „Ich kann nicht. Ich muss für Reon und Pohl da sein.“

„Ich werde euch hier rausholen, wenn ich erst in der Shakaar bin“, erklärte sie feierlich.

Ihr Vater lächelte wehmütig und strich ihr über den Kopf. „Das wirst du, meine Große, das wirst du.“

Wie sie den Rest des Tages hinter sich gebracht hatte, war ihr am Abend nicht mehr recht in Erinnerung. Wie alle anderen Lagerinsassen im arbeitsfähigen Alter war sie in die Minen losgezogen und hatte verbissen auf das Gestein eingeschlagen, immer in dem Wissen, dass es das letzte Mal war. Es fiel ihr verdammt schwer, keinem ihrer Freunde etwas zu sagen. Wenn sie wüssten! Besonders wegen Nense tat es ihr leid. Was hätte sie wohl dazu gesagt, dass Nerys tatsächlich bald Shakaar treffen würde?

Bei jedem Soldat, der in ihre Richtung blickte oder ging, wurde ihr ängstlicher als sonst zumute. Was, wenn sie sie ausgerechnet heute holten? Was, wenn irgendetwas passierte, das es ihr unmöglich machte, heute Abend am vereinbarten Treffpunkt zu sein?

Doch als sie abends mit knurrendem Magen ins Lager zurückschlurfte, hatte niemand ihren Plan vereitelt. Etwas unangenehm wurde ihr jedoch bewusst, dass sie mit leerem Magen fliehen musste.

So rasch sie es sich getraute, lief sie nach Hause. Ihr Vater war bereits von der Arbeit zurückgekehrt. Ihre jüngeren Brüder Reon und Pohl saßen bei ihm. Sie alle blickten Nerys an. In ihren Augen mischten sich Trauer und eine gewisse Erregung. Nerys schluckte. Sie hätte nicht mehr nach Hause gehen sollen, sondern gleich zum Sammelplatz. Alle hehren Vorstellungen und Ziele schmolzen dahin im Angesicht der vertrauten Gesichter, die sie zurücklassen musste.

Ihr Vater verstand, was in ihr vorging. Er spürte, dass sie zu wanken begann. „Nerys, komm her.“ Er trat zu ihr und zog sie in seine starke Umarmung. Reon und Pohl erhoben sich ebenfalls und kuschelten sich eng an ihre große Schwester. „Wir sind so stolz auf dich“, flüsterte ihr Vater in ihr strubbliges Haar. „Du packst das. Und du wirst zurückkehren, um uns alle zu retten. Die Propheten gehen mit dir.“

Nerys nickte stumm. Im Moment versagten Tränen ihr jede Worte.

„Du musst los!“

Sie umarmte ihre Brüder. „Passt mir auf Papa auf“, flüsterte sie. Dann klammerte sie sich noch ein letztes Mal an den Mann, der ihr immer ein Fels in der Brandung gewesen war. „Ich liebe dich, Papa!“

„Ich liebe dich, Nerys. Und jetzt los! Wir müssen zur Essensausgabe.“ Seine Stimme klang ungewohnt rau und ihr wurde bewusst, dass auch er weinte.

Während Kira Taban mit seinen beiden Jungs sich zur langen Schlange vor der Essensausgabe aufmachte, schlich Nerys sich in die entgegengesetzte Richtung. Noch einmal wandte sie sich zu allem um, was bisher ihr Leben gewesen war. Dann zwang sie ihre Augen nach vorne und nahm sich vor, nie mehr zurückzublicken.

Sie konnte Lorit Akrem und weitere Bajoraner im Schatten der Hütte sehen. Es waren noch drei Männer und zwei Frauen bei ihm. Als sie sich ihnen näherte, nickte der Rebell. „Wir sind vollzählig. Ich möchte, dass ihr jetzt schnell und leise seid. Das hier ist der kritischste Punkt. Wenn die Wachen uns bemerken, dann rennt los. Seht ihr da draußen die Felsformation?“

Die Angesprochenen nickten. „Das ist unser Ziel. Dahinter sind wir vor dem Phaserfeuer in Sicherheit.“

Aus dem Rucksack, den er trug, holte er ein kleines Gerät heraus. Nachdem er sich versichert hatte, dass keiner der Perimeterwachen in ihre Richtung blickte, platzierte er es neben einem umgeworfenen Fass, welches direkt am Zaun lag. Er aktivierte das Instrument, woraufhin ein schwaches energetisches Zittern über die Metallgitter lief. „Los jetzt!“ zischte er. Mit dem Fuß rollte er das Fass beiseite. Dahinter war ein schmaler Schlitz im Zaun zu erkennen.

Nerys ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie duckte sich hindurch. Die Kanten des Metallzauns streiften schmerzhaft über ihren Rücken, doch der erwartete elektrische Schlag blieb aus. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so lebendig gefühlt. Sobald sie die andere Seite erreicht hatte, begann sie zu rennen. Sie hatte das Gefühl, dass sich die Luft auf dieser Seite des Zaunes besser anfühlte.

Sie hatte die halbe Strecke zur angegeben Felsformation zurückgelegt, als sie den Aufruhr im Lager hörte. Ihr erster Impuls war stehen zu bleiben und sich umzudrehen, doch sie kämpfte ihn nieder und rannte nur noch rascher. Sie hörte Rufe, dann das Zischen eines Phasers. Panik griff nach ihrem Herz und setzte Adrenalinreserven frei, die ihr im normalen Zustand nicht zur Verfügung gestanden hätten. Mit einem Hechtsprung rollte sie sich hinter die Felsen. Erst dann wagte sie es, Atem zu holen und sich umzusehen. Die Dämmerung machte es schwer zu erkennen, was vor sich ging. Sie konnte rennende Gestalten sehen, Blitze von Phaserfeuer und schließlich das gleißende Licht eines Suchscheinwerfers. Schatten warfen sich in ihre Deckung. Sie zuckte zurück, doch dann erkannte sie Lorit Akrem. Bereits im Abrollen griff er ein weiteres Gerät aus seinem Rucksack. Er rammte es in den Boden hinter den Felsen und schlug auf den Aktivierungsknopf. „Kopf runter“, zischte er. „Bleibt auf dem Bauch, bis ich was anderes sage. Dort rüber.“

Nerys fand sich auf dem Boden mit anderen schlängelnden Schatten wieder. Das Gerät, welches Lorit hinter den Felsen aufgepflanzt hatte, hatte offensichtlich den Zweck ihre Lebenssignale in die entgegengesetzte Richtung zu projizieren, denn das Geschützfeuer verfolgte nun eine andere Spur.

Die Steine und Dornen, welche ihre Finger ritzten nahm Nerys nicht richtig wahr. Sie war voller Leben, voller Adrenalin. Beinahe hätte sie trotz der bedrohlichen Situation angefangen zu lachen. Seite an Seite mit dem Widerstandskämpfer robbte sie über den Boden. Sie hielt den Trupp nicht auf, sie konnte gut mithalten, besser als manche der Älteren, wie sie aus den Augenwinkeln bemerkte.

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie gerobbt waren. Als sie merkte, dass sie allmählich doch müde würde, hob Lorit einen Arm. „Auf die Füße“, zischte er. „Wir müssen dort hoch.“

Nerys erhob sich in die Hocke und blickte hinauf. Durch das dichte Buschwerk, das bisher ihre Deckung gewesen war, konnte sie die ersten Felsformationen erkennen. Sie waren am Fuß des Kola-Gebirges angekommen. Karges Geröll türmte sich vor ihnen in den Himmel hinauf, dann und wann durchbrochen von einer kleinen grünen Oase, wo sich genügend Erdreich in windgeschützten Mulden hatte sammeln können.

Für einen Schluck Wasser wäre sie dankbar gewesen, doch niemand von ihnen trug etwas bei sich. Und Lorit Akrem schien in seinem Rucksack lediglich technisches Gerät zu haben, was ihnen auf der Flucht half. Zum ersten Mal sah sie sich unter den anderen Flüchtlingen um. Eine Frau fehlte, die mit ihnen aufgebrochen war. Sie wollte Lorit nach ihr fragen, doch der Rebell schüttelte lediglich den Kopf und begann mit dem Aufstieg.

Nerys schluckte. Sie folgte ihm.

Nach ein paar Stunden brannten ihre Füße und Hände. Sie wollte nicht diejenige sein, die nach einer Pause rief, doch ein Blick auf die anderen teilte ihr mit, dass es von den Erwachsenen auch niemand wollte, obwohl einer der Männer bereits gefährlich wankte.

Lorit Akrem erlöste sie schließlich. „Stopp!“ rief er mit erhobenem Arm. „Wir machen hier eine kurze Rast.“

Die Flüchtlinge ließen sich fallen, wo sie standen.

„Hier vorne ist ein kleines Rinnsal … falls jemand Durst haben sollte“, fügte er mit schwachem Grinsen hinzu, bevor er sich über das kostbare Nass beugte.

Nerys und einer der Männer schoben sich zu ihm vor, um ebenfalls in den Genuss der klaren Flüssigkeit zu kommen. Die anderen drei blieben erst einmal liegen und versuchten wieder zu Atem zu kommen.

Nerys hatte das Gefühl, noch nie etwas so Wohlschmeckendes getrunken zu haben. Erst als ihr Bauch begann zu schmerzen, ließ sie vom Wasser ab und rollte sich auf den Rücken. Sie sah, dass Lorit sie betrachtete. Als ihre Blicke sich trafen, nickte der Mann. „Hast dich gut gehalten“, erklärte er anerkennend.

Ein müdes, stolzes Grinsen breitete sich auf Nerys‘ Gesicht aus.

Lorit Akrem blickte hinunter auf die Ebene, die nun so weit entfernt schien. Nacht hatte sich darüber ausgebreitet, die Lichter von Singha waren nur noch schwach zu erkennen. „Ruht euch ein bisschen aus. Ich bin gleich wieder da.“ Er verließ die kleine Gruppe, um weiter den Berg hinauf zu steigen.

Die Zurückgebliebenen sprachen nicht miteinander. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach oder war einfach nur damit beschäftigt, wieder zu Kräften zu kommen. Nerys hoffte, dass ihr Vater keine Probleme bekommen würde, weil sie geflohen war. Sie war sich nicht sicher, wie genau die Wachen darauf achteten, wer zu welcher Familie gehörte. Vielleicht merkten es die Cardassianer nicht einmal, wo jemand fehlte? Immerhin waren die bajoranischen Arbeiter für sie nicht viel mehr als Vieh…

Das Geräusch fallender Steine, welches die Stiefel des zurückkehrenden Widerstandskämpfers verursachten, holte sie aus ihren Überlegungen.

„Okay, ihr könnt jetzt kommen“, erklärte er.

Die Flüchtlinge rafften sich auf und folgten ihm weiter den Berg hinauf. Es war nicht weit, bis sie die ersten Wachposten der Rebellen passierten. Nerys beobachtete die bewaffneten Männer neugierig. Sie wirkten ganz anders als die Bajoraner, die sie aus dem Lager kannte. Nerys kamen sie mutiger, kraftvoller und stolzer vor. Sie liebte sie augenblicklich.

Vorbei an ein paar Felsformationen, welche einen Höhleneingang erfolgreich kaschierten, betraten sie schließlich das Basislager der Shakaar. Ein Feuer brannte im Vorraum der Höhle und trotz der fortgeschrittenen Nachtstunde saßen und standen noch einige Rebellen darum herum. Die Blicke der Flüchtlinge wurden vor allem von zwei Gestalten angezogen, die auf der anderen Seite des Feuers standen. Ein großer Mann mit blondem Haar, das ihm auf die Schulter fiel, und dessen Augen mit dem Metall seines Ohrrings im Feuerschein um die Wette funkelten. Neben ihm stand eine hochgewachsene Frau mit einer unglaublichen Flut von roten Locken. Beide waren etwa zehn Jahre älter als Nerys selbst.

Nerys konnte ihren Blick nicht abwenden. In diesem Augenblick hatte sie nur einen einzigen Wunsch: sie wollte dort stehen, mit diesem Blick in den Augen. Sie wollte diejenige sein, die bestimmen konnte.

„Wer ist das?“ unterbrach die eisige Stimme des Mannes den ruhigen Moment. Sein Blick glitt von Nerys zu Lorit hinüber.

„Kira Nerys“, erklärte der ältere Mann. „Ich schuldete ihrem Vater etwas …“

„Sie ist zu jung!“ erklärte der Blonde bestimmt. „und das weißt …“

„Ich bin nicht zu jung!“ Nerys musste auf jeden Fall verhindern, dass ihr Traum hier ein abruptes Ende fand. „Ich bin ausdauernd und ich kann kämpfen.“

„Sie hat sich auf der Flucht hierher sehr gut geschlagen“, kam Lorit ihr zur Hilfe. „Wir mussten sie nicht mitziehen, eher anders herum.“

Die rothaarige Frau neigte sich zu dem Mann hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dieser nickte. Er fixierte Nerys mit stechendem Blick. „Ich kann hier niemanden mit romantischen Vorstellungen gebrauchen. Ich benötige keine Heldenverehrung. Ich hatte das alles schon und es bringt nur Scherereien.“

Nerys richtete ihren schmalen Körper auf, reckte ihr Kinn trotzig vor und erklärte mit lauter Stimme: „Du interessierst mich als Mann nicht, ich will für Bajor kämpfen!“

Das brüllende Gelächter, das ihre Erklärung bei der Rothaarigen hervorrief, hätte Tote wiedererweckt. Die Frau schlug dem Blonden auf die Schulter. „Da hast du’s Edon.“ Der Mann lachte ebenfalls. Die eisige Stimmung war gebrochen. Nerys atmete erleichtert auf. So tapfer wie sie sich gegeben hatte, hatte sie sich bei weitem nicht gefühlt.

„Du scheinst in Ordnung zu sein, Nerys. Setzt euch“, wandte er sich jetzt an die gesamte Gruppe. „Lupaza, sei so gut und hol etwas zu essen und zu trinken für die Neuen.“ Die Rothaarige nickte, er wandte sich wieder den Flüchtlingen zu.

„Mein Name ist Shakaar Edon, ich führe diese Gruppe an. Ihr habt euer Leben in Gefangenschaft gegen ein Leben in Freiheit getauscht. Das heißt nicht, dass ihr hier sicherer seid, eher das Gegenteil. Aber wenn ihr im Einsatz für die Shakaar sterbt, dann werdet ihr das als freie Bajoraner tun mit der Waffe in der Hand und ihr werden wissen, dass ihr für eine gerechte Sache gestorben seid.“ Er sah die Neuankömmlinge der Reihe nach an, bei Nerys konnte er ein schwaches Schmunzeln nicht unterdrücken. „Vor allem aber haben wir uns vorgenommen unsere Einsätze zu überleben. Wir hier sind füreinander da und wir müssen uns vollständig vertrauen können. Ihr müsst euch unser Vertrauen erst noch erarbeiten. Und ich warne euch“, sein Blick wurde nun wieder ernst, „wenn sich einer unter euch hier als Kollaborateur eingeschlichen hat, um seinen Stand bei den Löffelköpfen zu verbessern, dann werde ich das herausfinden und ihn oder sie eigenhändig erschießen. Das ist ein Versprechen. Genauso wie ich euch verspreche, dass ich mich für jeden von euch ins Phaserfeuer werfen werde, wenn ihr für unsere Sache kämpft.“ Er sah zur Seite, wo Lupaza mit einem Tablett ankam. „Doch jetzt esst erst einmal und legt euch dann schlafen. Morgen früh sehen wir weiter, ob ihr fünf den Projektor wert seid, den Lorit für eure Flucht hat drauf gehen lassen.“

Magen und Geist voll an Nahrung schlief Nerys fast augenblicklich auf einer Decke zusammengerollt ein. Als sie wieder erwachte, war es früh am Morgen. Die Sonne machte sich gerade daran ihre ersten Strahlen über den Rand des Misthraal-Gebirges zu schicken. Nerys stand auf. Sie sah sich etwas benommen im Lager um, als ihr erst allmählich wieder klar wurde, wo sie war, und dass sich ihr Leben radikal geändert hatte.

„Na, schon wach, Kleine?“ Sie fuhr zusammen, als die laute Stimme neben ihr erscholl. Die rothaarige Lupaza stand mit wohlwollendem Grinsen neben ihr. Nerys grinste zurück. Die Frau war ihr sympathisch.

„Komm mit. Der Sonnenaufgang ist immer am schönsten hier oben.“ Lupaza kletterte neben dem Höhleneingang in die Felsen hinauf. Nerys machte, dass sie hinter der anderen her kam. Nach ein paar Minuten half Lupaza ihr auf ein Plateau hinauf, von welchem sie einen atemberaubenden Blick auf die Ebene und die fernen Misthraal-Berge hatten. In der Dunkelheit des Talkessels konnte Nerys das Singha-Lager erahnen. Wie jeden Morgen würde die Sonne noch lange brauchen, bis sie es berührte. Weiter hinten in der Ebene glaubte sie die Lichter der Stadt Ganarain ausmachen zu können.

„Das alles hier ist die Dahkur-Provinz“, Lupaza machte eine weite Armbewegung über die Ebene und die umgebenden Berge. „Das alles hier ist unser Gebiet. Hier herrscht die Shakaar“, erklärte sie stolz. „Ganz dahinten kannst du Ashalla erahnen. Dort beginnt der Bereich der Ishta-Gruppe…“

Doch Nerys hörte ihr nicht wirklich zu. Sie blickte der aufgehenden Sonne entgegen. Die ersten Strahlen hatten die Gipfel der Misthraal-Berge überwunden und schienen ihr direkt ins Gesicht. Sie schloss die Augen, öffnete die Arme und spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Während Singha noch in Dunkelheit harrte, stand sie im Licht.



ENDE



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