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Vor der Dämmerung

von Gabi

Kapitel 3

Am Abend saßen Picard und Crusher zusammen. Sie hatten sich eine der Essensrationen aufgewärmt, die von der Enterprise zur Versorgung herunter gebeamt worden waren.

Etwas lustlos stocherte Crusher auf ihrem Teller herum. "Ich vermisse so allmählich die Atmosphäre auf der Enterprise“, gestand sie. "Ich glaube, wenn ich ein paar Monate in diesen Höhlen leben müsste, hätte ich auch keinen Grund mehr zum Lachen."

Picard lächelte schräg. "Es tut mir leid, Bev, dass ich dich hier unten behalte, aber ich möchte, dass ein fähiger Arzt jederzeit erreichbar ist... und du bist bei weitem die Fähigste..."

Crusher lächelte kopfschüttelnd zurück. "Nein, ich wollte mich nicht beschweren - und es ist mir vollkommen klar, dass es die Moral der Kolonisten wesentlich hebt, wenn wir nicht jede Nacht auf unser komfortables Schiff zurückbeamen... und vor allem ihr Vertrauen in die Flotte, was wohl im Augenblick ebenso wichtig ist."

Picard nickte. "Das Gespräch mit dem Hauptquartier ist auch eines, auf das ich mich überhaupt nicht freue..."

"Darf ich mich zu Ihnen setzen?"

Die beiden Enterpriseoffiziere blickten auf und sahen Tijut neben sich stehen.

"Aber natürlich“, Picard bemerkte, wie er unwillkürlich eine kurze Verbeugung andeutete. Rasch setzte er sich wieder auf und hoffte, dass Tijut diese Geste nicht als Verhöhnung aufgefasst hatte. Es hatte die gegenteilige Wirkung auf die junge Frau. Kurz erhellte sich ihr Gesicht, als sie sich ebenfalls setzte.

"Ich wollte mich teilweise bei Ihnen entschuldigen, Picard..."

Crusher starrte sie verständnislos an. "...teilweise..?"

"Nun ja“, Tijut zuckte mit den Schultern. "Ich hätte Sie nicht so anfahren dürfen. Aber auf der anderen Seite müssen Sie versuchen, unsere Lage zu verstehen. Wir können uns den Luxus großzügig zu sein, einfach nicht leisten."

Picard streckte versuchsweise seine gesunde Hand aus. "Waffenstillstand?"

Mit dem ersten Lächeln, seit Ankunft der Enterprise griff Tijut zu. "Frieden!"

Picard, Tijut und Crusher ertappten sich dabei, dass sie einander für ein paar Sekunden einfach nur wortlos angrinsten. Jeder unbeteiligte Zuschauer hätte unweigerlich den Eindruck bekommen, dass die Drei nicht mehr ganz nüchtern wären.

"Ich muss Ihnen noch ein Kompliment für Ihre Leute machen," sprach Tijut schließlich. "Commander Riker und Lieutenant Worf haben sich besser benommen, als ich es gedacht hätte."

"Lieutenant Worf hat Ihr Gespräch mir gegenüber erwähnt... Was Sie auch immer genau gesagt haben, Sie haben ihn auf Ihrer Seite."

"Ich mag nicht viel in den letzten Monaten gelernt haben, aber auf jeden Fall, wie man sich unauffällig anschleicht, wie man mit einem Dutzend Waffen umgeht - und wie man Leute auf seine Seite ziehen kann", gab sie schulterzuckend zu.

"Sie können stolz auf sich sein, Tijut“, bestätigte Crusher, "das meine ich im Ernst."

"Danke, Doc. Von Zeit zu Zeit ist so eine Aufmunterung...", sie sprang auf.

Aus dem Gang, der zu Abteilung 3 führte, waren Geräusche zu hören. Nicht laut - Picard hätte sie als Hintergrundgeräusche abgetan, aber durch Tijuts Verhalten alarmiert, achtete er intensiver darauf.

"Zu den Waffen!" ihr Schrei durchschnitt jeden Winkel der umliegenden Kammern.

"Abteilung 3! Löscht die Lichter!"

Augenblicklich war die Hauptkammer mit Leben erfüllt. Die meisten Lampen wurden verdunkelt und nur noch ein paar Taschenlampen beleuchteten das Geschehen. Kolonisten und Enterprise-Sicherheitspersonal trafen mit schussbereiten Phasern ein.

"Verdammt, was ist mit Benaii?" fluchte Tijut leise, als sich Picard und Crusher neben sie stellten, "er sollte Abteilung 3 überwachen..." an ihrer Seite tauchten Rogmur und die anderen Gruppenleiter auf.

"Verteilt Euch auf beiden Seiten des Eingangs, räumt die gegenüberliegende Seite. Wer auch immer durch den Gang schleicht, soll nicht gleich ein leichtes Ziel finden“, wies sie zwei von ihnen an. "Ihr anderen verteilt euch in den Nebenkammern, aber so, dass sie euch nicht einschließen können."

Dann ging alles ganz rasch. In den von den Taschenlampen erhellten Bereich der Höhle wurde eine Gestalt geworfen. Ein entsetztes "Oh nein!" entfuhr Tijuts Lippen, als sie den verunstalteten Körper Benaiis erkannte. Für einen Augenblick herrschte betroffenes Schweigen unter den Kolonisten, was die Nariner ausnutzten, um aus dem Gang in die Kammer zu stürmen. Das gleißende Licht der Phaser mischte sich mit den Taschenlampenstrahlen.

"In Deckung!" schrie Tijut auf. "Feuert!" Ihre Stimme war kaum über das Getümmel zu hören, aber es war auch nicht nötig. Die Kolonisten und die Leute von der Enterprise legten den gesamten Eingangsbereich unter Beschuss. Im hellen Licht der Phaser waren einzelne Gestalten fast ebenso unmöglich auszumachen, wie am Morgen in der völligen Dunkelheit der Höhle. Tijut stand aufrecht im Raum, ihr Finger ließ den Auslöser des Phasers nicht für eines Sekunde los. Ihr gesamter Zorn über den Tod Benaiis entlud sich in blauem Dauerfeuer.

Picard und Crusher waren an die Wand dahinter zurückgewichen. Sie hatten ihre Phaser ebenfalls gezogen, aber sie schossen nur, wenn sie das Gefühl hatten, sie könnten ein Ziel erkennen - oder den Schatten eines Zieles.

Ein paar Narinern war es mittlerweile gelungen durch die Reihen der Kolonisten zu brechen. Crusher konnte erkennen, wie sie auf Tijut zielten. Niemand sonst schien es im allgemeinen Durcheinander zu bemerken.

"Tijut!" Die Ärztin schrie auf und stürzte sich auf die junge Frau. Knapp über ihnen fegten die Schüsse hinweg. Picard und andere in der Nähe wurden durch den Schrei alarmiert.

"Weg da“, rief der Captain. Er sah, wie einer der Nariner erneut auf die beiden Frauen zielte. Der Strahl seines Phasers mischte sich mit denjenigen der anderen. Die Ablenkung reichte aus, dass sich Crusher und Tijut in Sicherheit bringen konnten. Kaum war Tijut aus der Schussbahn, eröffnete sie ihr Feuer wieder. Crusher benötigte einen Augenblick, um sich zu sammeln, bevor auch sie wieder den Phaser erhob.

Am Eingang zu Abteilung 3 wurden die Schüsse vereinzelter. Man konnte erkennen, dass sich die Nariner langsam wieder in den Gang zurückzogen. Tijut schrie zu einer der Nebenkammern hinüber: "Kulam, verfolgt sie!"

Eine Gruppe der Kolonisten löste sich aus den Schatten und folgte den Narinern. Diejenigen Eindringlinge, die in die Höhle gelangt waren, erkannten, dass sie vom Hauptteil ihrer Gruppe abgeschnitten waren und begannen wie wild um sich zu feuern.

Picard versuchte eine friedliche Aufgabe durchzusetzen, aber es war zwecklos. Seine Stimme reichte nicht aus, um die wütenden Rufe der Kolonisten zu übertönen, als diese ihre Gegner niederschossen.

Crusher lehnte sich neben ihn an die Wand. In ihren Augen konnte er sein eigenes Unverständnis verstärkt sehen.

"Ich kann es nicht begreifen“, flüsterte sie frustriert. "Sie haben ihre Waffen auf hohe Leistung gestellt..."

Ein Nariner stürzte zu ihren Füßen nieder, auf seinem Gesicht spiegelte sich noch der Todeskampf wieder. Unwillkürlich wandte Crusher ihren Kopf ab.

Allmählich erstarben die Schreie und Schüsse in der Höhle. Geschäftige Ruhe kehrte ein. Die Ärztin drehte ihr Gesicht wieder der Mitte des Raumes zu. Tijut stand wie eine fleischgewordene Rachegöttin aufrecht inmitten gefallener Körper. Beide Hände umfassten noch den Phaser und die Anspannung begann erst langsam von ihr abzufallen.

Crusher berührte ihren Communicator: "Enterprise, die Krankenstation und die Traumateams sollen sich bereit machen. Wir haben hier...", sie schwieg kurz und ihre Augen überflogen den Raum, "... zu viele Verletzte!" Dann stieß sie sich von der Wand ab, klappte ihren medizinischen Tricorder auf und keine Macht der Welt hätte sie jetzt noch von den Opfern fernhalten können. Medizinisches Enterprisepersonal und einige der Kolonisten kamen ihr zu Hilfe. Aber andere gingen den Kampfplatz ab, um überlebende Nariner zu finden, und diese zu erschießen. Crusher bemerkte einen dieser Kolonisten aus den Augenwinkeln, wie er gerade seinen Phaser anlegte.

"Aufhören!" ihre Stimme überschlug sich fast vor Zorn. "Hier wird niemand mehr getötet!"

Der Kolonist fuhr verärgert zu ihr herum. Als er den steinernen Blick der Ärztin bemerkte, sah er sich jedoch fragend nach Tijut um. Diese stand immer noch bewegungslos in der Mitte des Raumes. Sie holte tief Luft und nickte dann in Dr. Crushers Richtung. Der Kolonist steckte den Phaser mit einem Schulterzucken weg. Erleichtert wandte sich Crusher wieder den Medizinern zu, die sich um sie versammelt hatten.

"Wir müssen uns beeilen. Jeder, dessen Lebensfunktionen nicht unwiderruflich auf null stehen, wird sofort auf die Enterprise gebeamt“, sie sah den Leuten in die Augen, "und ich meine jeden! Verstanden?!"

Die anderen nickten und begannen ihre traurige Suche nach Überlebenden in einem Knäuel von Körpern.

Picard lehnte an der Wand. Er war erschöpft, nicht so sehr körperlich wie seelisch. Er hatte nicht einen offiziellen Schwur abgelegt, alles Leben zu schützen, wie Beverly Crusher das getan hatte - aber er fühlte sich deswegen nicht weniger verantwortlich dafür. Sein Blick löste sich von der rothaarigen Ärztin und wandte sich Tijut zu. Die junge Frau hatte sich immer noch nicht von der Stelle bewegt. Ihr Atem ging schwer. Picard beneidete sie nicht, er wollte nicht mit ihr tauschen, aber er glaubte auch nicht, dass er sie jemals begreifen konnte. 'Mitleid' war eine Vokabel, die er in ihrem Wortschatz nicht vermutete. Flüchtig überlegte er sich, ob er zu ihr hinübergehen sollte, aber er fühlte sich im Augenblick einfach nicht stark genug, einen weiteren Disput auszufechten, ein weiteres Mal ihre anklagenden Augen zu sehen. Seine Aufmerksamkeit wurde wieder von Beverly Crusher eingefangen und Tijuts Worte schossen ihm durch den Kopf: "Doctor, Sie haben den einzigen vernünftigen Beruf in dieser ganzen verdammten Welt."

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Die Ärztin war mit den Verletzten, Kolonisten und Narinern, auf die Enterprise gebeamt worden. Tijut konnte ihren Blick nicht mehr abschütteln, als einer ihrer Leute den Nariner erschießen wollte. Dr. Crusher kannte keine Loyalität gegenüber einer bestimmten Partei. Tijut war sich nicht sicher, ob das positiv war, aber auf jeden Fall hatte es einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen. Zu ihrer aller Erleichterung hatten mehr Leute den Angriff überlebt, als es anfangs den Anschein hatte. Dennoch, auf Seiten der Kolonisten waren gut zwanzig Leute umgekommen – bei den anderen mehr, aber das war ein Fakt, der Tijut nicht interessierte. Sie hatte das Gefühl versagt zu haben, wie so oft zuvor schon. Die Kolonisten hatten sich ihr anvertraut, mit ihrem Leben, und sie war unachtsam genug, damit nicht sorgfältig umzugehen. Sie hätte die Bewachung in Abteilung 3 verstärken müssen. Das Bild des misshandelten Benaii schoss durch ihre Erinnerung. Jeder einzelne Tote ging auf ihr Konto. Tränen lösten sich aus ihren Augen. Hier in der Abgeschiedenheit dieses blinden Ganges konnte sie ihnen freien Lauf lassen. Draußen in den Haupthöhlen waren ihre Leute und die Leute von der Enterprise damit beschäftigt das Nötigste zusammenzupacken. Zu Tijuts Erleichterung, arbeiteten die beiden Gruppen mittlerweile gut zusammen.

Sie mussten ihr Quartier hier verlassen und in andere Bereiche der Höhlen vordringen. Es war zu unsicher. Die Nariner wussten nun genau, wo sie sich befanden und das nächste Mal würden sie sich sicher nicht so schnell in die Flucht treiben lassen. Wenn nur die Flotte bald käme...

Im Gang bewegte sich jemand.

"Wer...?" wollte Tijut aufgeschreckt wissen.

"Ich habe Sie gesucht“, erklang die sanfte Stimme des Captains, "störe ich?"

Tijut wollte die Frage gerade bejahen, als sie es sich anders überlegte.

"Nein“, meinte sie leise. Sie hatte den Blick bemerkt, mit dem Picard sie auf dem Kampfplatz gemustert hatte. Er verstand sie nicht - und dennoch hatte seine Nähe etwas Beruhigendes an sich, dass sie jetzt benötigte.

Er setzte sich ihr gegenüber an die Wand. Das schwache Licht im Gang genügte, um zu erkennen, dass sich in seinen Augen keine Anklage befand. Tijut entspannte sich etwas.

"Wie geht es?"

"Gut“, log sie. "Und bei Ihnen, Picard?"

Er schüttelte sanft den Kopf. "Nein, ich kann nicht glauben, dass es Ihnen gut geht. Was machen Sie dann in diesem abgelegenen Gang?"

"Er war ja wohl nicht so abgelegen, dass Sie mich nicht noch finden konnten“, konterte sie unmutig.

"Nein“, Picard hob die Hände leicht. "Ich will nicht wieder mit Ihnen zu streiten anfangen. Nicht dieses Mal."

Sie senkte den Kopf auf die Knie und schwieg. Picard unterbrach die Stille nicht. Er saß einfach da und betrachtete sie. Schließlich begann Tijut: "Am Anfang war es eher ein Abenteuer für mich. Ich denke kaum einer von uns hat den Ernst der Lage richtig erkannt. Als mein Vater diese Leute um sich versammelte, half ich ihm, wo es nur ging. Als er dann bei einem der ersten Überfälle ums Leben kam, habe ich einfach nicht mehr richtig gedacht. Ich war so zornig und verzweifelt, dass ich nur noch Rache wollte. Ich habe ganz automatisch die Führung meines Vaters übernommen. Als ich endlich aus meinem Rausch wieder aufgewacht bin, war es zu spät. Die anderen hatten mich als ihre Anführerin akzeptiert - und mir war klar geworden, dass das alles kein Spiel mehr ist, und ich mich der Verantwortung nicht entziehen konnte. Es ist so verdammt schwer. Ich muss stark sein, ich muss gefühllos sein, denn meine Leute sollen nicht sehen, was in mir vorgeht. Das würde ihnen nicht helfen. Sie schöpfen ihre Kraft aus mir..."

"Ich bin keiner Ihrer Leute, Tijut...", setzte Picard leise an.

"... aber ICH habe niemanden, aus dem ich Kraft schöpfen kann. Manches Mal würde ich am liebsten alles hinwerfen und fortlaufen - wie ein erbärmlicher Feigling fortlaufen..."

Picard beugte sich leicht zu ihr vor und legte eine Hand auf ihre Schulter. Trotzig schüttelte sie seinen Arm ab. "Wissen Sie überhaupt, wie es ist, seine Freunde sterben zu sehen? Täglich mehr Menschen beerdigen zu müssen und nichts - gar nichts - dagegen tun zu können? Wissen Sie das überhaupt, Sie auf Ihren keimfreien Luxusschiffen?"

Picard schloss kurz die Augen. Bilder ausgebrannter Schiffe, der Flotte bei Wolf 359, zogen in seiner Erinnerung vorbei. Bilder, die er niemals wieder aus seinem Bewusstsein würde verbannen können...

Leise meinte er: "Ja, ich weiß, wie es ist..."

Tijut hob ihren Kopf. Da war etwas in Picards Stimme, dass sie hatte aufhorchen lassen. Dieser kaum merkliche Unterton, der den Unterschied zwischen Mitgefühl und wirklichem Verstehen ausmachte. Dieses Mal zog sie sich nicht zurück, als Picard ihre Schulter berührte. Ohne Widerspruch ließ sie zu, dass er sie wie ein Kind in den Arm nahm.

"Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr“, murmelte sie tonlos in seine Uniform.

Picard begann sie vorsichtig zu wiegen. "Sie haben schon so viel getan. In zwei Tagen ist die Flotte hier, dann ist es vorbei."

"Aber heißt es nicht, die Stunde vor der Dämmerung ist die dunkelste?"

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Am nächsten Morgen brachen die Kolonisten auf. Ein Teil von Rogmurs Gruppe bildete die Vorhut. Sie sorgten dafür, dass die anderen nicht unvorbereitet in mögliche Fallen hinein liefen. Tijut und Picard führten den Hauptteil der Kolonisten an. Beide hatten ihre Phaser bereit. Die junge Frau war froh, dass Picard bei ihr geblieben war und nicht dem Drängen seines Ersten Offiziers nachgegeben hatte, der nach dem letzten Überfall ganz vehement darauf bestanden hatte, dass der Captain wieder an Bord der Enterprise zurückkehren sollte. Riker und Worf waren zwar sehr fähige Strategen, aber Tijut hatte bei keinem der beiden das Gefühl, ihnen völlig vertrauen zu können. Mit Picard war das anders. Auf eine gewisse Weise sah sie ihren Vater in ihm. Gestern Nacht war das erste Mal seit dem Tod ihres Vaters gewesen, dass sie jemand gehalten hatte und sie davon überzeugt hatte, dass nicht die Last des gesamten Universums auf ihren Schultern ruhte. Sie war schließlich in Picards Armen eingeschlafen und heute Morgen beinahe gutgelaunt aufgewacht.

Sie mussten noch einen Tag durchhalten, dann würde es in diesen Höhlen von Sternenflottensoldaten wimmeln, und dann würde es niemand mehr wagen, sie anzugreifen.

Vor ihnen waren Stimmen zu hören. Jemand rief etwas, und es war keine Sprache, die Tijut verstand. Sofort blieb sie stehen. Mit einer Handbewegung brachte sie den gesamten Zug zum Stillstand. Eine Biegung trennte sie von der Vorhut. Sie sah Picard an und an seiner Reaktion konnte sie erkennen, dass er die Panik in ihren Augen bemerkte. Sie war einfach nicht bereit, noch mehr zu opfern. Sie war ausgelaugt, sie war am Ende. Und jetzt, wo sie wusste, dass sie dem Captain ihre Verantwortung anvertrauen konnte, war sie nur noch mehr bereit, die Flucht zu ergreifen. Sie spürte den warmen Druck seiner Hand und atmete tief durch. Mit einem kurzen Kopfnicken signalisierte sie ihm, dass sie sich wieder unter Kontrolle hatte.

Die Stimmen waren abermals zu hören, und diesmal auch der Schrei eines Menschen. Es war kein Todesschrei, aber es genügte, um Tijut aus ihrer Hilflosigkeit aufzurütteln.

"Keiner meiner Leute soll mehr sterben. Keiner!" murmelte sie, als sie sich mit erhobenem Phaser an der Wand entlang zur Biegung vorschlich. Ein Kolonist und ein Sicherheitsoffizier von der Enterprise befanden sich vor ihr. Die beiden wandten sich um und berichteten im Flüsterton: "Eine Nariner-Gruppe befindet sich im nächsten Seitengang. Sie haben unsere Vorhut eingekesselt."

Tijut wandte sich zur Hauptgruppe um. "Geht zurück", befahl sie den Leuten. "sucht euch einen sicheren Verteidigungsposten."

"Wir sollten alle umkehren und einen anderen Weg einschlagen. Die Vorhut können wir nicht mehr retten. Wenn wir jetzt angreifen, dann werden mehr von uns sterben als nur die zwölf da draußen, „ meinte einer der Kolonisten.

"Er hat recht“, flüsterte Picard Tijut zu.

Sie sah ihn an. Sie wusste, dass Tränen in ihren Augen standen, aber es störte sie nicht mehr. "Ich KANN sie nicht im Stich lassen, Picard. Es sind meine Leute! Bringt ihr euch in Sicherheit."

Bevor sie irgendjemand zurückhalten konnte, wandte sie sich um, und trat um die Biegung. An die zwanzig Nariner hatten Rogmurs Gruppe gegen die Wand gedrängt und entwaffnet. Soweit Tijut das sehen konnte, war noch niemandem ihrer Leute etwas geschehen.

"Lasst Sie gehen!" rief sie mit einer Stimme, die so frei von Zittern war, dass es sie selbst erstaunte. Den Phaser vor sich ausgestreckt ging sie langsam auf die Gruppe zu. Die Nariner waren von ihrem Auftauchen vollkommen überrascht und sich sichtlich nicht im Klaren darüber, ob es sich um einen Scherz handelte, dass sie alleine gegen eine Übermacht antrat.

Als Tijut zu schießen begann, bemerkte sie im Augenwinkel, dass Picard und ein paar andere ebenfalls um die Biegung getreten waren.

"Los, raus hier!" schrie sie Rogmurs Gruppe zu.

Immer weiter ging sie vorwärts. Alles erschien ihr wie ein Traum. Sie nahm die entsetzten Gesichter ihrer Vorhut nur am Rande wahr, ebenso die entgeisterten Blicke der Nariner, als die ersten von ihnen unter ihren Schüssen fielen. Wie in Zeitlupe rannte Rogmurs Gruppe an ihr vorbei, während die Soldaten vor ihr sich wieder fingen und begannen auf sie zu schießen. Alles, was zählte, war stehen zu bleiben, so lange wie möglich und so unbeeindruckt wie möglich. Als sie schließlich getroffen wurde, war der Schmerz größer, als sie es für möglich gehalten hatte, aber sie schrie nicht. Sie zwang sich weiterzugehen und weiter zu schießen, bis endlich ihre Gliedmaßen nicht mehr den Befehlen ihres Gehirnes folgten und die Schwärze nach jedem Teil ihres Körpers griff. Das letzte, was sie hörte, war der tränenerfüllte Schrei Picards.

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Er kniete neben ihr. Seine Finger strichen geistesabwesend blonde Strähnen aus ihrer Stirn, seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern: "Verdammt, Tijut. Warum hast du das getan? Warum?"

Vorsichtig - vorsichtig weshalb? - hob er ihren leblosen Körper auf. Das Geräusch des fallenden Phasers schreckte Picard auf. Sie hatte ihn bis zuletzt krampfhaft festgehalten.

Riker und die anderen kamen aus dem Gang zurück. Nachdem sich die eingekesselte Vorhut hatte in Sicherheit bringen können, war es ein leichtes gewesen, die Nariner zu verfolgen.

"Sir?" Riker blickte seinen Captain besorgt an. "Alles in Ordnung?"

Picard hob den Kopf. In diesem Augenblick wirkte er sehr alt. "Wir hätten sie aufhalten müssen. Es war so sinnlos von ihr..."

Der Commander schüttelte mitfühlend den Kopf. "Nein Sir, es war nicht sinnlos. Hätten wir uns zurückgezogen, dann wäre die Vorhut umgekommen, hätten wir angegriffen, wäre wahrscheinlich das Gleiche passiert - aber dadurch, dass sie sich alleine hingestellt hat, hat sie eine wertvolle Verwirrung gestiftet, die ihren Leuten das Leben gerettet hat."

Picard erwiderte nichts. Der Gang hatte sich mit Kolonisten gefüllt. Sie alle umringten so gut es ging den Körper ihrer Anführerin. Rogmur nahm sie dem Captain ab und machte sich, gefolgt von seinen Leuten, in einen Teil der Höhlen auf, in dem sie alle Platz hatten, um gebührend Abschied von Tijut zu nehmen.

Riker und Picard blieben zurück.

"Nummer Eins“, der Blick des Captain folgte dem schweigenden Menschenzug. “Ist es nicht seltsam? Tijut hat ein gutes Dutzend Menschen gerettet, dadurch, dass sie sich geopfert hat. Ist das nicht ein fairer Tausch? Ein Leben gegen viele? Ist es das nicht?" Er wandte sich ab. Riker blieb unbeweglich stehen. Schweigend wartete er darauf, dass der Captain fortfuhr.

Ein undefinierbares Glitzern spiegelte sich in Picards Augen, als er seinen Ersten Offizier wieder anblickte. "Wissen Sie was, Will? Manchmal frage ich mich, ob es nicht doch Menschen gibt, die zwölf andere wert sind."

ENDE

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