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Asche 11 - Tag der Wahrheit

von Gabi

Kapitel 2

Wann immer er ein wenig Leerlauf in seiner Schicht hatte, nutzte Bashir die Zeit, um sich mit Jeremiahs Akte zu beschäftigen. Die Entwicklung des Jungen schrie förmlich nach einer Veröffentlichung in einem medizinischen Journal – wovon er Kasidy aber natürlich erst einmal nichts mitteilen würde. Die Zellen zeigten keine Anzeichen von frühzeitigem Verfall, wie es bei dieser Geschwindigkeit zu vermuten wäre. Natürlich war es jetzt noch viel zu früh, irgendetwas Definitives zu sagen, doch Bashir hegte die Hoffnung, dass der Junge an keiner Krankheit litt, die seinen Körper vor seiner Zeit abbauen würde. Die genetischen Analysen ergaben immer wieder nur das eine: dass er vollkommen gesund war.

Bashir unterbrach seine Überlegungen, als der Computer ihm mitteilte, dass die gewünschten Akten von Vulkan nun abrufbar bereit lagen. Der Arzt wollte sich nach und nach durch alle verfügbare Literatur medizinischer Einrichtungen von Ruf arbeiten. Im Zentralarchiv des medizinischen Hauptquartiers auf der Erde waren längst nicht sämtliche Veröffentlichungen der alliierten Welten vorhanden.

Captain Sisko hätte hier sein sollen, dachte Bashir, als er den Computer anwies, die Dateien zu öffnen, er war stets für Geheimnisvolles zu begeistern gewesen.

„Ich hoffe, ich störe nicht.“ Die warme Stimme war äußerst bekannt.

Grinsend drehte der Arzt sich mit seinem Stuhl herum. „Sarius, was führt Sie hierher?“

Der Kai legte den Kopf ein wenig zur Seite. „Dann und wann tut es ganz gut, wenn man sich von all der Aufmerksamkeit fortstehlen kann.“ Er trat in den Raum. „Und ich bin mir nicht sicher, dass ich mich schon gebührend dafür bedankt habe, dass Sie mir das Leben gerettet haben.“

Bashir hob die Handflächen in einer entwaffnenden Geste. „Gehört alles zur Stellenbeschreibung.“ Dann ahmte er Sarius‘ Haltung nach, indem er ebenfalls den Kopf schräg legte. „Ich kenne den Ausdruck. Sie wollen doch irgendetwas.“

Der Kai blickte ihn überrascht an. „Bin ich so leicht zu durchschauen?“

Der Arzt lachte. Er hatte bisher wenige Bajoraner kennengelernt, denen man ihre Absichten nicht an der Spitze der gefurchten Nasen ablesen konnte. „Ich fürchte, ja. Um was geht es denn?“

„Um den Sohn des Abgesandten.“

„A – ha „, Bashir dehnte die Silben. Es schien, dass Jeremiah nicht nur seine Aufmerksamkeit erregt hatte. „Was ist mit ihm?“

Der Kai lächelte hintergründig. „Genau das würde ich gerne von Ihnen erfahren, Julian.“ Bevor Bashir den Mund öffnen konnte, fuhr er fort: „Ich weiß, dass das Arzt-Patient-Verhältnis der Schweigepflicht unterliegt.“ Er setzte sich auf einen freien Stuhl neben dem Arzt. „Aber ich habe das Gefühl, wir stehen hier vor einer Angelegenheit von größerem Ausmaß, was die Prioritäten des Einzelnen verändert.“

„Stehen wir?“ Bashir machte es deutlich, was er von dieser Aussage hielt. „Warum sprechen Sie dann nicht mit seiner Mutter darüber?“

Sarius hob die Augenbrauen und sagte nichts.

Bashir nickte langsam. Es war ihm hinlänglich bekannt, was Kasidy Yates von der Einmischung der bajoranischen Geistlichkeit hielt, ganz besonders, wenn es um ihren Sohn ging.

„Darf ich fragen, warum er so wichtig ist?“

„Das ist natürlich Ihr gutes Recht“, gestand Sarius ein.

„Und?“

Der Kai schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln, das nichts Gutes verhieß. „Ich weiß es nicht.“

„Sie wollen von mir vertrauliche Informationen und sind nicht bereit, mir im Gegenzug zu erklären, weswegen?“

„Nein.“ Sarius hob die Hände entschuldigend. „Nein, Sie haben das falsch verstanden. Es liegt mir fern, Sie ausnutzen zu wollen. ‚Ich weiß es nicht‘ heißt leider genau das: Ich weiß es nicht.“

Auf Bashirs unverständigen Blick hin fragte er: „Können wir irgendwo hingehen, wo wir uns ungestört unterhalten können?“

Der Arzt nickte und stand auf. Nachdem er seine Assistenten davon unterrichtet hatte, dass er eine Pause machen würde, schlenderte er bald darauf Seite an Seite mit dem bajoranischen Kai über die Promenade. Von Zeit zu Zeit blieben sie vor Auslagen stehen, bedacht darauf, dass sich niemand in ihrer Nähe befand, was durch die Person des Kai bedingt nicht immer leicht war.

„Der Junge erscheint mir immer wieder in den Visionen der Propheten. Er hat ihre Beachtung, so viel ist klar. Was mir Sorgen macht, ist, dass Vedek Gawen mehr zu wissen scheint, als er mir anvertraut.“ Er legte Bashir eine Hand auf die Schulter. „Ich kann nicht zulassen, dass er mir stets voraus ist. Das ist gefährlich.“

* * *


Alles erschien so vertraut und doch so anders. Er war nicht mehr hier gewesen, seit er den Schritt über die Schwelle getan hatte. Gleichgültig, wo er in seiner früheren Erscheinungsform gewesen war, gleichgültig welche theoretischen Möglichkeiten ihm nun offenstanden, dies hier blieb Zuhause. Zugleich war es jedoch zu nah am Einflussbereich der falschen Propheten als dass er alleine hier hätte erscheinen können. Er hungerte nach der Stärke, die er für einen kurzen, kostbaren Moment erfahren hatte. Tausende von Jahren in Gefangenschaft hatten die Erinnerung an die einstige Größe verblassen lassen und mit ihnen hatte sich der Schmerz über den Verlust auf ein erträgliches Maß gesenkt. Doch dann war alles zurückgekehrt: Die Glorie, die Macht, die unendlichen Möglichkeiten. Für einen Wimpernschlag hatte er alles besessen, für einen Wimpernschlag hatte alles wieder einen Sinn ergeben. Und dann war die Dunkelheit erneut über ihm zusammengeschlagen, doch nun nicht mit dem gnädigen Vergessen von Millennien, sondern mit der klaren, alles vernichtenden Erkenntnis, was hätte sein können – und mit der Vereinigung eines Geists, der sein Leben lang gewusst hatte, was er wollte.

Der Wille des Sterblichen war so stark gewesen, dass er nicht völlig übernommen worden war. Statt nun ein weiteres Jahrtausend in den kalten Tiefen der Feuerhöhlen zu verharren, war da Sehnsucht, Kraft und ein Antrieb, der ihn nicht ruhen ließ.

Er war genauso schwach wie zuvor, doch nicht mehr länger nur davon abhängig, dass andere den richtigen Weg gingen. Nun konnte er selbst handeln.

Es war eine Erkenntnis so alt wie das Universum selbst, dass man die Sterblichen nur dann verstehen konnte, wenn man einer von ihnen wurde. Die falschen Propheten hatten dies erkannt, als sie Benjamin Sisko zeugen ließen.

Ein Versäumnis seinerseits, das er nun gedachte zu korrigieren.

Mit einem leichten Dehnen seiner Sinne lokalisierte er den Punkt des stärksten Glaubens und drang dort in die Realität der Sterblichen vor.

Vedek Gawen ermöglichte es ihm, auch in Bereichen zu erscheinen, für die seine Kräfte alleine noch nicht ausgereicht hätten: wie die Station am Rande des Wurmlochs – Terok Nor.

Der Bajoraner erhob sich vor dem kleinen Altar, vor dem er eben gebetet hatte.

„Es ist der Junge.“ Der Kost Amojan schritt langsam um den Geistlichen herum, der angespannt in der Mitte des Gästequartiers stand. „Er besitzt die Kräfte, um eine Entscheidung herbeizuführen. Er wird auf unsere Seite kommen oder sterben.“ Kurzzeitig blitzte klares Blau in den roten Augen des pah wraith auf. Es würde eine ganz besondere persönliche Genugtuung werden, den Sohn des Abgesandten zu rekrutieren. Sisko sollte eine Ahnung der Qualen erleben, die er selbst so lange durchgestanden hatte.

Der Bajoraner räusperte sich, doch als er sprach, klang seine Stimme immer noch nicht so fest, wie er sich das wohl erhofft hatte. Furcht war beinahe so stark wie bedingungsloser Glauben, beides genügte für den Kost Amojan.

„Die Mutter wird keine Probleme bereiten. Sie begreift nichts, weil sie sich jeder Möglichkeit versperrt. Sie wird für die Gefahr nicht gewappnet sein, da sie sie nicht erkennt.“

Der Durchtritt in die andere Realität wurde schmaler, als der Kost Amojan begann, sich zurückzuziehen. Es gab auf dieser Station noch eine andere Gegenwart, die er aufsuchen wollte. Es war nicht der pah wraith Anteil in ihm, der das wünschte ...

„Sorg dafür, dass es so bleibt.“

* * *


Die Stimme von Kasidy Yates war im Korridor zu vernehmen: „Aber bleiben Sie nicht zu lang.“

„Keine Sorge, Jeremiah wird rechtzeitig ins Bett kommen.“


Als Vedek Gawen um die Biegung des Korridors trat, sah er, wie der Bajoraner, der ihn das Kai-Amt gekostet hatte, mit dem Jungen an der Hand in der anderen Richtung verschwand. Nach wie vor fragte er sich, was dieser borhya Vedek Bareils hier im Schild führte. Nach allem, was er gehört hatte, war er ein einfacher Taschendieb, der sich in die Gunst von Colonel Kira schmeicheln wollte – ein recht einfach gestrickter Zeitgenosse. Dennoch kreuzte er immer wieder Gawens Weg. Der Geistliche würde ein Auge auf ihn haben. Wie es aussah hatte er sich schon an Jeremiahs Seite herangeschlichen. War das Zufall? Hatte er dieselben Pläne?

Als der Vedek vor der längst wieder geschlossenen Quartiertür anlangte, schüttelte er leicht den Kopf. Was immer der Dieb im Sinn hatte, er stellte es falsch an. Wenn man eine Kette sprengen wollte, musste man das schwächste Glied brechen.

„Herein.“ Die Tür öffnete sich, und Gawen trat in das erstaunte Blickfeld der dunkelhäutigen Terranerin.

„Ich hoffe, ich störe nicht.“

* * *


Quark blickte misstrauisch zu den Neuankömmlingen hinüber, die an einem Tisch an der Wand Platz nahmen. Er umrundete den Tresen und eilte zu ihnen hinüber.

„Mr. Bareil, ich kann Sie gut leiden. Sie haben einen Ehrenkodex, der meinem nicht unähnlich ist ... aber dennoch muss ich Sie bitten, die Bar zu verlassen. Das ist kein Ort für Kinder.“ Ganz von dem Ärger abgesehen, den ich bekomme, wenn meine Gäste durch das Geplärr belästigt werden, fügte er in Gedanken hinzu.

Der Bajoraner sah ihn bittend an. Ein Blick ähnlich demjenigen, den Bashir an den Tag legte, wenn dieser etwas unbedingt haben wollte. „Bitte, Quark, machen Sie eine Ausnahme. Ich habe Jeremiah versprochen, dass er die Künstler sehen darf.“

Passend zu Quarks internationalen Wochen hatte an diesem Abend ein Transporter an der Station angedockt, der unter seinen Passagieren auch eine Gruppe von bolianischen Jongleuren und Gymnastikartisten beherbergte. Sie waren auf der Durchreise, hatten jedoch sofort angenommen, als der Barbesitzer ihnen einen kleinen Verdienst während des Wartungsaufenthalts ihres Schiffs in Aussicht gestellt hatte.

In der Mitte der Bar war eine Fläche von Tischen freigeräumt worden, auf welcher die Artisten sich momentan aufwärmten.

„Bitte.“

Quark lehnte sich auf den Tisch vor und verzog den Mund. „Lassen Sie den Blick sein. Ich bin keine der Frauen, die auf Ihre großen Augen hereinfällt.“

Bareil beugte sich ebenfalls vor, bis seine Nase nur noch wenige Zentimeter von derjenigen des Ferengi entfernt war. Mit leiser, rauchiger Stimme flüsterte er: „Oh, nicht nur Frauen. Sie glauben gar nicht, wie viele Männer ihnen nicht wiederstehen konnten ...“

Unter Bareils Lachen richtete sich Quark blitzartig auf, um einen sicheren Abstand zwischen sich und den Bajoraner zu bringen. „Bleiben Sie mir bloß mit so was weg!“

„Keine Angst“, Bareil lehnte sich mit verschränkten Armen im Stuhl zurück. „Sie wären gar nicht mein Typ. Ich steh auf kleinere Ohren.“

Quark starrte ihn an, dann drehte er sich mit einem indignierten Laut fort. Er war schon zwei Schritte weit gegangen, als er wieder herumwirbelte.

„Das hätten Sie sich wohl so gedacht!“ Bareil fand sich mit einem Ferengifinger vor Augen wieder. „Keine Kinder in der Bar!“

Der Bajoraner hob die Schultern. „Es war immerhin einen Versuch wert. Kommen Sie, wir trinken ja auch etwas, wir sagen keinem was davon.“

„Nein danke, wenn einer der Offiziere hier hereinkommt, habe ich keine Lust mich herausreden zu müssen.“

„Ich übernehme die Verantwortung.“

„Nehmen Sie es mir nicht übel. Aber Sie sind nicht gerade der Typ, den man mit Worten wie Verantwortung in Verbindung bringt. Nein.“

Der Junge hatte die beiden Männer beobachtet. Nun griff er nach dem Jackenärmel des Bajoraners, um auf sich aufmerksam zu machen. „Ich will die Show sehen.“

„Jerry, es sieht so aus, als ob wir hier nicht ...“ Bareil hatte den Kopf gedreht und sah nun die Augen des Jungen. „Nein.“ Die Stimme des Bajoraners war leise und eindringlich, ein wenig Furcht schwang darin mit.

Der Ferengi sah ihn irritiert an. Die nonchalante Haltung des Mannes war verschwunden. Zwischen Bareil und Jeremiah musste ein privates Gespräch ohne Worte ablaufen, das Quark nicht mitbekam. Dann richteten sich die schwarzen Augen des Jungen auf den Ferengi. Mit kindlichem Nachdruck wiederholte er seine Worte. „Ich will die Show sehen.“

Für einen irrationalen Moment hatte Quark das Gefühl, dass sich etwas an der unsichtbaren Brücke des Blickkontakts entlang schlängelte, mühelos in seinen Kopf eindrang, sich den Weg die Kehle hinab schlich und dort zuzudrücken begann.

„Guck mal, sind die Gläser nicht schön?“ Bareil hatte einem überraschten Gast am Nebentisch den Drink fortgenommen und hielt dem Jungen nun den blauen, grinsenden Aufdruck vor.

Ganz Kind, ganz Neugierde, ließ sich Jeremiah sofort davon ablenken, während in Bareils Rücken Protest des mundgeraubten Gasts laut wurde.

„Will auch!“

„Das kriegst du auch.“ Der Bajoraner blickte nun wieder Quark an. Dieses Mal versuchten seine Augen die Dringlichkeit der Situation zu vermitteln. „Bringen Sie dem Jungen einen Saft in so einem Glas.“

Der Ferengi rieb sich den Hals. Er kam sich vor wie bei einem Subraumgespräch, bei welchem er nur die eine Seite der Leitung hörte. Er wollte eben wieder die Barvorschriften zitieren, als ein Mann an den Tisch trat. Seine golden gemusterte Robe verlangte nach Respekt.

„Mr. Quark, ich denke, Ihre Gäste warten auf den Beginn der Vorstellung. Sie wollen sie doch nicht warten lassen?“

„Kai Sarius! Die Show wird sofort anfangen, wenn der Junge gegangen ist.“ Quark lächelte beschwichtigend. „Darf ich Ihnen einen ausgezeichneten Tisch anbieten?“

„Danke, das ist nicht nötig.“ Der Geistliche zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. „Von hier habe ich eine gute Sicht. Und vergessen Sie nicht, Jeremiah ein besonders schönes Glas zu bringen.“

„Aber der Junge ...“

„Das geht in Ordnung, ich übernehme die Verantwortung.“

Quark nickte knapp und verließ den Tisch. Anders als der Taschendieb war der bajoranische Kai jemand, den er guten Gewissens bei einer eventuellen Überprüfung der Bar vorzeigen konnte ...

„Danke, dass Sie das geregelt haben“, bemerkte Bareil, nachdem er mit einem entschuldigenden Lächeln den Drink seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben hatte. „Ihr Wort wiegt bei Quark eindeutig mehr als das meine.“

Sarius lachte leise. Er lehnte sich mit verschränkten Händen auf der Tischplatte vor. „Wo wäre der ganze Spaß, wenn mit all den Pflichten nicht auch ein paar ganz nützliche Privilegien kämen. Genaugenommen bin ich derjenige, der Ihnen danken muss, Antos. Sie haben mir eine einmalige Gelegenheit gegeben. Ich konnte sie nicht verstreichen lassen.“ Er wandte sich an den Jungen, der ihn neugierig musterte. „Guten Abend, Jeremiah. Ich freue mich, dich endlich näher kennenzulernen.“

* * *


Wie Quark vermutet hatte, war Commander Benteen sofort auf den Tisch mit Jeremiah zugesteuert, als sie die Bar betreten hatte. Und wie Quark es sich erhoffte, ließ sich die Terranerin vom geistlichen Oberhaupt Bajors einigermaßen beruhigen. Doch sie vergaß nicht zu erwähnen, dass es eine absolute Ausnahme war, und der Junge nur deswegen in dieser hochoffiziellen Begleitung in der Bar bleiben durfte, weil die Jongleure auftraten. Für den normalen Betrieb würde sie sich auch nicht von Geistlichen einer Religion, mit der sie nichts anfangen konnte, überreden lassen.

Ihrer Autorität genüge getan, suchte Benteen sich einen freien Tisch, was gar nicht so einfach war. Trotz des Umstands, dass Quark seine Bar heute Abend mit Extratischen recht eng bestuhlt hatte, waren die meisten Plätze bereits belegt. Etwas abgelegen, wo die Sicht auf die Artistenvorführung nicht ganz so optimal war, hatte die Terranerin noch Glück.

Sie hatte eben erst ihre Bestellung aufgegeben, als der fahnenflüchtige Sternenflotten-Fähnrich, der sich nach Loslösung von der Flotte zu Benteens komplettem Unverständnis ins bajoranische Militär gestürzt hatte, in der Bar erschien. Sito Jaxa sah sich um. Wie Benteen zuvor auch, suchte sie nacheinem freien Platz. Als sie die Terranerin erblickte, bekam ihre Miene einen entschlossenen Ausdruck. Sie hielt auf den Tisch des Ersten Offiziers zu.

Benteen musterte sie verwundert. Irgendetwas an der jungen Frau irritierte sie aufs Tiefste, ohne dass sie hätte genau sagen können, was das war. Es war auch nicht eben hilfreich, dass die Bajoranerin sich umgezogen hatte. Über einer weiten dunklen Stoffhose trug sie eine geschnürte Tunika in Gold- und Orangetönen. Die Schnürung lag so locker, dass darunter deutlich die wohlgeformten Brustansätze zu erkennen waren.

„Commander, darf ich mich zu Ihnen setzen“, Sito legte eine Hand auf die Lehne eines freien Stuhls. „Hier ist heute Abend wahrlich kein Platz zu finden.“

Benteen kniff die Augen zusammen. Sie vermutete schwer, dass die Bajoranerin mit Absicht ihre Gesellschaft gesucht hatte. Doch im Augenblick konnte sie schlecht ablehnen, denn es war in der Tat kaum noch Platz. „Bitte, setzen Sie sich.“

„Danke“, Sito schenkte ihr ein zauberhaftes Lächeln und zog sich den Stuhl zurecht. „Sind Sie immer in Uniform?“ Die Bajoranerin winkte einem der Mädchen. „Ich glaube, ich habe Sie noch nie in Zivil gesehen.“

„Ich komme gerade von meiner Schicht. Mir blieb keine Zeit zum Umziehen, wenn ich die Vorstellung nicht verpassen wollte.“ Mit einer gewissen Erleichterung bemerkte sie das Dabo-Mädchen, das ihren Drink brachte und die Bestellung von Sito aufnahm. Mit dem Glas in der Hand fühlte sie sich ein wenig wohler. So hatte sie etwas, auf das sie ihre Aufmerksamkeit lenken konnte. Es war für Benteen nach wie vor irritierend, wenn das Personal auf dieser Station ihr mit ungebremster Freundlichkeit begegnete. Sie fühlte sich dann in ihrer Privatsphäre bedroht und unsicher. Ihr fehlte die Gesellschaft ernsthafter Sternenflottenoffiziere. Die strenge, unpersönliche Hierarchie der lückenlosen Kommandokette eines Raumschiffs. Hier auf DS9 war alles so ungewohnt locker und … sie riskierte einen raschen Blick auf Sitos Ausschnitt … frivol.

„Ich würde Sie gerne mal in Zivil sehen. Sie haben sicher tolle Sachen.“

„Wie kommen Sie darauf?“ wollte sie misstrauisch wissen.

Sito öffnete die Handflächen. „Sie wollen mir doch nicht erklären, dass Sie nicht dann und wann einmal Spaß daran haben, sich etwas neues zum Anziehen zuzulegen, was nichts mit einer Sternenflottenuniform zu tun hat.“

„Nein, natürlich nicht“, gab die Terranerin nach. Kleidung, Schmuck und ähnliches waren nun beileibe keinen Themen, mit denen sie sich lange aufhielt. Die wenige Zeit, die sie sich außerhalb des praktischen Sternenflottenoveralls befand, trug sie meist T-Shirts und bequeme Stoffhosen – in der Abgeschiedenheit ihres eigenen Quartiers. Doch dann und wann wanderte auch einmal ein Kleid, das weniger dem praktischen sondern mehr dem ästhetischen Anspruch genüge tat, in ihren Schrank. „Wie jedes andere Crewmitglied auch, besitze ich natürlich Freizeitkleidung.“

„Na prima. Wir könnten uns doch mal treffen und unsere Klamotten vergleichen und austauschen“, schlug Sito vor.

Benteens Brauen schossen in die Höhe. „Und warum sollten wir das tun?“

„Weil es Spaß macht“, erwiderte die blonde Bajoranerin mit einem unverschämten Augenzwinkern.

Benteen war heilfroh, als kurz darauf die Vorführung begann.

* * *


Yates reichte ihrem Gast ein Glas mit dunklem Wein.

„... ja, ich bin sehr dankbar dafür, dass Mr. Bareil sich mit Jeremiah beschäftigt. Das gibt mir ungestörte Zeit, in der ich arbeiten kann.“

Gawen nahm einen Schluck. „Ich werde Ihnen das nächste Mal ein paar Flaschen aus unserem Anbau mitbringen, Mrs. Yates. Die Replikatoren können es einfach nicht mit dem Echten aufnehmen.“

„Sie bauen Wein an?“ Die Terranerin hatte sich zwar vorgenommen, den Geistlichen so rasch wie möglich wieder hinauszubefördern, doch im Gegensatz zu dem Kai wirkte Gawen irgendwie normaler – was immer das auch bei Personen, die an irgendwelche Götter glaubten, bedeuten mochte.

Höflich nahm der Vedek einen weiteren Schluck, obwohl er den Geschmack des replizierten Weins furchtbar fand. „Ich kann mit Stolz sagen, dass mein Orden einen der meist beachteten Weine in Rakantha erzeugt.“

Sie lächelte gedankenverloren. „Benjamin hatte ebenfalls vorgehabt, Wein auf Bajor anzubauen. Er hat sogar schon das Grundstück erstanden.“

„Tatsächlich?“ Gawen nickte interessiert. „Dann werden Sie den Wein ganz besonders zu schätzen wissen.“ Er stellte das Glas ab. „Darf ich fragen, warum Sie nicht das Grundstück Ihres Gatten nutzen?“

Sie rechnete es ihm hoch an, dass er von Sisko in keinerlei religiösem Zusammenhang sprach. „Es war sein Traum“, erklärte sie, „nicht meiner. Ich kommandiere einen Frachter, ich habe nie mit dem Gedanken gespielt, irgendwo sesshaft zu werden.“

„Auch nicht als Sie heirateten?“

„Nein, nicht einmal dann ...“ Yates stellte ihr Glas ebenfalls auf den Tisch. „Ohne unhöflich wirken zu wollen: Sie haben mich doch nicht aufgesucht, um Small Talk zu betreiben?“

„Ich bekenne mich schuldig.“ Gawen lächelte gewinnend. „Auch wenn ich gestehen muss, dass ich Ihre Gesellschaft immer wieder genieße. Natürlich liegt mir etwas wegen Ihres Sohns auf dem Herzen ...“

Sie seufzte. „Natürlich.“

„Sie vertrauen diesem Bareil?“

„Absolut, warum fragen Sie?“

„Vielleicht täusche ich mich auch – aber hat er Ihnen von Jeremiahs außergewöhnlichen Kräften berichtet?“

„Von was?“ Yates starrte den Geistlichen an, dann verengten sich ihre Augen. „Von was reden Sie?“

Gawen nickte, als würde er einer für andere nicht hörbaren Stimme Recht geben. „Er hat es also nicht getan.“

Was hat er nicht getan?“

Der Vedek sah sie mitfühlend an. „Er meinte es sicherlich nur zu gut mit Ihnen ...“

* * *


Er hatte den Stationstempel nicht in bester Erinnerung. Das letzte Mal, als er diese Stätte betreten hatte, hatte er mit beiden Händen seine Zukunft weggeworfen, kein Umstand, an den er unbedingt erinnert werden wollte. Dort vor dem Schrein des Drehkörpers waren sie gestanden. Kira mit ihren großen, verletzten Augen. Alles an ihr hatte ihn angefleht, nicht der Mann zu sein, der er war. Und er war zu feige gewesen ...

Bareil seufzte leise, während er hinter dem Kai und seinem Schützling das Heiligtum betrat. Wo stünde er heute, wenn er sich damals ihrer Gnade ausgeliefert hätte? Ein nicht zum Schweigen zu bringender Teil seines Bewusstseins hämmerte ihm immer und immer wieder ein, dass er glücklich wäre – glücklich und an ihrer Seite. Weder seine Flucht vor der Intendantin und der anschließende Frontenwechsel zu den terranischen Rebellen noch haufenweise Alkohol hatten diese Selbstbeschuldigung jemals verstummen lassen. Sein für Außenstehende pubertär anmutendes Festhalten an der Schwärmerei für die Kommandantin beruhte zu einem guten Teil auf der Tatsache, dass er sich selbst von seiner ‚Schuld‘ reinwaschen wollte.

„Hast du schon einmal von den Tränen der Propheten gehört?“ Der Kai hatte Jeremiah an der Hand und deutete nun auf den Kasten, welcher das Symbol des bajoranischen Glaubens beherbergte.

Der Junge musterte das Behältnis interessiert, dann zogen sich die kleinen Brauen über seinen Augen zusammen.

„Es ist falsch“, bemerkte er.

Sarius sah überrascht auf, doch Bareil konnte lediglich mit den Schultern zucken. „Was ist falsch, Kleiner?“

Jeremiah machte sich von der Hand des Kai los und lief zu Bareil zurück. Aus der Sicherheit des Hosenbeins seines väterlichen Freundes sah er zum Schrein zurück. „Es ist böse.“

„Ich glaube, er hat Angst vor dem Ding“, mutmaßte Bareil. „Wahrscheinlich ist es zu un...“

„Ich habe keine Angst!“ Der Junge stampfte energisch mit dem Fuß auf. „Ich habe vor nichts Angst.“

Mit einem verständnisvollen Lächeln ging Kai Sarius vor dem Jungen in die Hocke. „Natürlich hast du vor nichts ...“

„Vorsicht.“ Bareil berührte den Kai an der Schulter. „Er hat wieder diesen Blick ...“

Die Welt begann sich in einen Winkel zurückzuziehen, in welchem sie nicht störte, und beobachtete. Die schwarzen Augen des Kindes hielten die hellen des höchsten bajoranischen Geistlichen fest. Sarius fand sich nicht fähig, den Kontakt zu brechen. Auf ihm unbekanntem Weg drang dieser Junge, der physisch gesehen nicht älter als ein paar Monate war, in seine Gedanken vor, wühlte, suchte und nahm sich, was er fand. Der Kai spürte keine Bösartigkeit. Da war Neugierde, kombiniert mit einer geistigen Fähigkeit, die Ihresgleichen suchte – und einem vollständigen Fehlen der Konzepte von Gut und Böse. Was möglich war zu tun, war es auch wert getan zu werden: so einfach, so unschuldig – so verheerend.

Mit aller Kraft versuchte der Kai das pagh des Jungen zu erreichen. Er spürte den Abgrund und wusste, dass er ihn mit dem Licht der Erkenntnis füllen musste, wenn er nicht alles verlieren wollte.

* * *


Ein leichter betäubender Geruch erfüllte den Raum. Die schemenhaft aufsteigende Rauchfahne verglimmender Gewürze mischte sich mit dem kräftigeren Schatten brennender Kerzen. In dem ansonsten dunklen Raum erhellten die Flammen von rechts und links das vereinende Zeichen des bajoranischen Glaubens – das einzige Ornament in dem seit Jahren nur spartanisch eingerichteten Schlafzimmer.

Colonel Kira saß mit überkreuzten Beinen auf dem Boden vor dem Symbol und hielt ihre Hände mit nach oben geöffneten Handflächen empor. Sie genoss die Ruhe der Meditation. So oft wie möglich versuchte sie, ihren Abend in diesem Frieden zu beenden. Es half ihr, die Gedanken zu sortieren, die sich über den Tag in ihrem Kopf angesammelt hatten. Sie rekapitulierte Gespräche und Vorkommnisse, ordnete sie ein, setzte sie in Zusammenhang und wenn sie einen besonders erholsamen Abend hatte, dann gelang es ihr, sie alle schließlich zur Ruhe zu bringen und ihren Geist der wunderbaren Leere anzuvertrauen, die Vedek Bareil sie gelehrt hatte.

Heute war keiner dieser Abende. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem Gespräch zurück, das sie mit dem anderen Mann gleichen Namens geführt hatte. Sie wusste, dass er zu Übertreibungen neigte und dass man die Hälfte dessen, was er behauptete, getrost unter ‚nicht relevant‘ ablegen konnte, doch über Jeremiah schien er ehrlich besorgt gewesen zu sein. Sollte es wirklich möglich sein, dass dieser kleine Junge Kräfte besaß, von denen niemand ahnte? Natürlich, er war der Sohn des Abgesandten, aber Sisko hatte außer seiner Möglichkeit, mit den Propheten zu kommunizieren, keine außergewöhnlichen Fähigkeiten besessen – und Kasidy Yates war sicherlich so weit von ‚übernatürlich‘ entfernt, wie es eine Angehörige ihrer Rasse überhaupt nur sein konnte. Es passte außerdem nicht in ihr persönliches Bild des Abgesandten, dass dessen Sohn aus einer quengeligen Laune heraus Teile der Promenade zum Einstürzen brachte. Es ergab keinen Sinn.

Ein leichter, kalter Hauch strich über die bloße Haut ihrer Arme. Diese Überlegungen schienen ihr tiefer zu gehen als sie vermutet hatte. Sie ignorierte die Gänsehaut und blickte das Wandbild an.

„Ihr wacht über ihn. Ihr wisst, was sein Schicksal ist.“

„Daran wage ich zu zweifeln.“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und machte ihr klar, dass auch Hitze gefrieren konnte. „Du betest wie stets die falschen Götter an.“

Kira fuhr herum. Ein Kerzenständer stürzte um, die Flamme flackerte zornig auf, fand auf dem kahlen Boden keine Nahrung und erlosch.

„Meine Königin wird mir nicht mehr länger entkommen.“

* * *


Bareil fand sich völlig hilflos vor den beiden ‚Kontrahenten‘. Er hatte versucht, Jeremiah fort zu ziehen, doch der Junge reagierte auf keine Ablenkungsversuche. Der Bajoraner fand sich unfähig, ihn auf den Arm zu nehmen. Wann immer er sich hinunter beugte, um nach ihm zu greifen, hatte er das Gefühl, den Jungen am Ende eines langen Tunnels zu sehen, und ganz gleich, wie sehr er rannte, er kam ihm nicht näher. Es gab momentan keinerlei Möglichkeit für Bareil auch nur einen der kleinen Arme zu berühren. Er hatte das Gefühl, sich durch einen Traum zu bewegen. Doch wann immer er zu Sarius blickte, der unbeweglich vor dem Jungen kniete, hatte er ein klares Bild vor Augen. Es war als ob Jeremiah ein verzerrender Schutzschild umgab.

Die beiden Gestalten waren völlig still, für einen vorbeikommenden Passanten hätten sie mühelos als Statuen durchgehen können. Welchen Kampf sie auch immer im Inneren ihrer Köpfe ausfechten mochten, er zeigte keinerlei Spuren an ihrer äußeren Erscheinung.

Bareil war sich sicher, dass er den Kai aus dieser Trance schütteln konnte, doch er wagte es nicht. Die Konzentration des Geistlichen mochte im Augenblick das einzige sein, was die Situation im Gleichgewicht hielt.

Nein, wenn er Jeremiah alleine nicht aufwecken konnte, dann musste er wenigstens beide gleichzeitig in die Realität zurückholen. Er begann sich abzuwenden, unsicher, ob er nach einem Prylar rufen sollte. Sein gehetzter Blick fiel dabei auf den Schrein. Alles hier lief auf einer Ebene ab, die er nicht begriff, warum sollte es dann die Lösung nicht auch sein?

„Wer immer ihr seid, ihr habt mich in diese Situation gebracht – jetzt helft mir da auch wieder raus.“ Er rannte hinüber und riss die Türen des Behältnisses auf.

Als das helle Licht den Raum auszustrahlen begann, wandte er das Gesicht ab, um nicht selbst in den Bann gezogen zu werden.

Ein leises Wimmern durchbrach die angespannte Stille. Bareil sah, wie Jeremiah erschrocken die Hände vor das Gesicht schlug und sich zusammenkauerte. Der Bajoraner war mit zwei großen Schritten bei ihm und nahm ihn in die Arme. Kein Schutzschild, keine übermenschlichen Kräfte, nur ein kleiner Junge, der sich nach Geborgenheit sehnte und sich verängstigt in Bareils Jacke drückte.

Der Mann wiegte ihn sanft. „Alles in Ordnung, es war einfach ein langer Tag.“ Er sah zu Sarius hinüber, der nachdenklich auf dem Boden saß. Jetzt, da der Bann gebrochen war, ließ sich deutlich die Anstrengung erkennen, die den Kai die letzten Minuten gekostet hatten. Mit einer Hand stützte er sich auf dem Boden ab, mit der anderen wischte er sich über die Stirn. Auf Bareils fragenden Blick hin schüttelte er nur leicht den Kopf. Bevor er irgendjemandem anderes Erklärungen geben konnte, brauchte er selbst welche.

„Ich bringe Jeremiah jetzt ins Bett“, erklärte Bareil leise, als er mit dem Jungen im Arm aufstand. „Kasidy wird ohnehin nicht allzu begeistert sein, dass ich ihn so lange wachgehalten habe.“

Der Kai nickte schweigend.

„Können wir morgen sprechen?“

Abermals erhielt Bareil ein Nicken.

„Ist alles in Ordnung?“

Sarius schenkte dem anderen ein Lächeln, das diesem bedeutete, dass er alleine zurecht kommen würde und dass er jetzt gerne alleine sein würde.

Nichts war in Ordnung.
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