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Blau das Meer

von Nerys

Kapitel 1

Blau das Meer


„Sing unser Lied, Joss!“ Das vierjährige Mädchen blickte seine Schwester aus großen blauen Augen treuherzig an.

Joss, die aufrecht auf dem Bett saß, bedachte Koreen mit einem liebevollen Lächeln. Bei dem Lied handelte sich um eine Hymne der Seefahrer Musillas, mit welcher diese schon seit vielen hunderten von Jahren das Meer um seine Gunst baten, ehe sie mit ihren Schiffen hinaus fuhren. Früher hatte ihre Mutter Darel mit dieser Melodie Koreen jeden Abend in den Schlaf gesungen und sehr oft vom Meer erzählt. Obwohl Joss für Gutenachtgeschichten längst zu alt gewesen war, hatte sie es ebenfalls geliebt, Darels warmer ruhiger Stimme zu lauschen. Doch ihre Mutter war tot. Das Lagerfieber hatte unter den geschwächten Bajoranern in Ankhet viele Opfer gefordert. Dank dem cardassianischen Soldaten, der Koreens Vater war, lebten die beiden Mädchen seit mittlerweile über einem Jahr in einem Waisenhaus. Mit elf gehörte Joss bereits zu den älteren Bewohnern und sie half dabei, die Kleinen zu versorgen. Es gab Nahrung und Kleidung, aber sie hätte beides gerne eingetauscht, wenn die anderen Kinder Koreen dafür nur in Ruhe ließen. Immer wieder kam ihre Schwester weinend zu ihr gerannt, nachdem die größeren Jungen und Mädchen sie drangsaliert hatten. Sie konnte doch nichts dafür, dass sie eine Halbcardassianerin war.

„Das Lied!“, bettelte Koreen nachdrücklicher.

„Versprichst du mir, dass du dann einschläfst?“, konterte Joss mit gespielter Strenge in der Stimme und fixierte ihre Schwester, die sich daraufhin kichernd die löchrige Decke über den Kopf zog. Nach einem Moment kam sie wieder zum Vorschein und nickte eifrig.

Joss konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Sie räusperte sich und hob die Stimme. In diesem Moment wusste sie genau, dass ihr die anderen Kinder, die in dem großen Schlafsaal in ihren Betten lagen, ebenfalls an den Lippen hingen. Bereits nach der ersten Strophe war Koreen eingeschlafen und das blonde Mädchen gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, ehe es neben ihr unter die Decke schlüpfte. Sofort spürte es, wie sich der kleine warme Körper der Schwester heran kuschelte.

Mit wachsender Verzweiflung lief Joss über den Flur, durch den sich eine schlammige Spur zog, zur Hintertür, die in den Garten hinaus führte. Sie hatte das Haus bereits zweimal von oben bis unten nach Koreen durchkämmt, doch das kleine Mädchen blieb verschwunden. Beinahe rannte sie einen achtjährigen Jungen um, der ihr entgegen kam. Sie versuchte ihn am Hemd zu packen, doch er entwand sich ihrem Griff blitzschnell und verschwand im Aufenthaltsraum. Rekhor war eines der Kinder, die keine Gelegenheit ausließen, ihre Schwester zu drangsalieren. Sie hatte ihm deshalb vor ein paar Wochen sogar eine geknallt und prompt drei Tage Stubenarrest dafür ausgefasst. Eilig durchquerte sie den leeren Gang und schlüpfte durch die Tür ins Freie. Weil es lange geregnet hatte, war die Wiese völlig aufgeweicht und alle sollten sich deshalb drinnen aufhalten. Die Abdrücke, die sie auf dem Boden bemerkt hatte, sprachen jedoch dafür, dass sich manche nicht daran gehalten hatten.

„Koreen!“, rief sie laut. „Wo steckst du?“

Ihre Schwester antwortete nicht. Joss stapfte weiter über schlammigen Untergrund und passierte die Ecke des unscheinbar grauen Bauwerks. Vor ihr erstreckte sich nun der kleine Garten, in dem ein paar Obstbäume wuchsen, auf die zu klettern einen Heidenspaß machte. Ihr fiel ein dunkler Haufen im Gras auf und sie marschierte darauf zu. Als sie nur noch ein paar Schritte entfernt war, wurden ihre dunkelsten Ahnungen jäh zur erschreckenden Wirklichkeit. Es war Koreen, die reglos in der nassen Wiese lag. Verzweifelt sank Joss neben ihre Schwester und barg den kleinen zarten Körper in ihren Armen. Schmutz haftete im mitternachtsschwarzen Haar des Mädchens und seine helle Haut war farblos und kalt. Ein Rinnsal aus hellrotem Blut rann über Koreens Stirn herab und Joss bemerkte durch den Tränenschleier einen scharfkantigen Stein im Gras, auf dem noch Reste der roten Flüssigkeit klebten. Ihre süße kleine Schwester, die alles auf der Welt für sie war, war zu den Propheten gegangen. Später wusste sie nicht mehr, wie lange sie, Koreen in den Armen haltend, hier draußen gesessen war, bis jemand sie fand. All ihre Tränen waren längst aufgebraucht.

Die Sonne schien vom Himmel, während Joss das Grab ihrer Schwester mit frischer dunkler Erde zuschüttete, aus der bald das erste frische Grün sprießen würde. Sie hatte darauf bestanden, es selbst zu tun und jegliche Hilfe verweigert. Als sie endlich einen länglichen Hügel aufgehäuft hatte, war sie vollkommen erschöpft und ihre Glieder brannten. Die Schaufel entglitt ihren Händen und sie bemerkte, dass die weiche Haut an den Innenseiten rissig und blutig war. Sie nahm den Schmerz tief in sich auf, denn er war alles, was ihr nun noch geblieben war. Die Augen auf den schmalen Bogen gerichtet, der Koreens Namen trug, ließ sie sich auf die Knie fallen. Ihre Stimme zitterte, als sie noch ein letztes Mal für ihre Schwester das Lied sang, das diese so geliebt hatte. Danach würde sie nie wieder auch nur einen Ton singen, schwor sie sich selbst.

Blau das Meer, wild und stürmisch
wie ein junges Mädchen schön.
Die Burschen entflammt von ihr
ringen um die Gunst ihres Herzens
mit lieben Worten, reichen Gaben.
Weite See, liebreizende Dame
unser Leben legen wir in deine Hände.
Wir bitten dich, führe unsere Schiffe
abends sicher in den trauten Hafen.


Bald nachdem Koreens Körper der Erde übergeben worden war, verließ Joss das Waisenhaus. Sie wollte nichts mehr mit den Kindern zu tun haben, die ihre unschuldige kleine Schwester so sehr verabscheut hatten. Wenn die Propheten von ihr verlangten, allein durchs Leben zu gehen, würde sie sich ihnen nicht widersetzen. Auf ihrem Weg nahm sie nichts mit sich, als das Kleid an ihrem Leib und Koreens Puppe Ilti, die nur ein alter Kochlöffel aus Holz mit aufgemaltem Lächeln und einem zerschlissenen Geschirrtuch als Kleid war. Die Kleine hatte oft davon gesprochen, wie sehr sie sich wünschte, eines Tages das Meer mit eigenen Augen zu sehen, so wollte Joss zumindest versuchen, Ilti dorthin zu bringen. Der Hunger wurde ihr ständiger Begleiter, doch Essen zu stehlen war gefährlich, solange cardassianische Patrouillen wachsam durch die Straßen zogen. Ab und zu überließ ein mitfühlender Bajoraner ihr etwas Brot oder Obst. Noch quälender als der leere schmerzende Magen war die Einsamkeit. Das Kind, das sie immer noch war, sehnte sich mehr denn je nach der Stimme der Mutter und nach den schönen tröstenden Geschichten.

Am Ende gruben sich Joss‘ wund gelaufene bloßen Füße in den feinen weichen Sand, der sich wunderbar kühl anfühlte. Vor ihr lag das Meer. Sie roch die frische salzige Luft und hörte die Wellen und die Seevögel. Zögernd trat sie näher an das Wasser heran, bis die schaumige weiße Brandung ihre Zehenspitzen umspielte. Für eine Weile genoss sie dieses herrliche neue Gefühl in vollen Zügen. Der Wind, der die Wellen an Land rollen ließ, zupfte an ihrem wirren blonden Haar. Ihre magere Hand tastete nach der Puppe, die sie die ganze Zeit über in einem zerfetzten Stück Stoff aufbewahrte. Aufgemalte Kulleraugen blickten sie an.

„Schau wo wir sind, Ilti“, stieß sie ehrfürchtig hervor. „Koreen hätte das gefallen. Sie liebte das Meer ohne es je gesehen zu haben. Sie fehlt mir so.“

Langsam watete das Mädchen weiter ins kühle Wasser, das den Saum ihres verschlissenen schmutzigen Kleides durchnässte. Sie sah einen weißen Vogel, der ein Stück weit von ihr im feuchten Sand landete, ein Stück am Strand entlang lief und sich dann auf langen Schwingen wieder in die Luft erhob. Der Wind trug seine schrillen Rufe weiter. Das Meer weckte etwas in ihr, das sie schon fast vergessen hatte. Zuversicht. Das seltsame Gefühl, dass es sich lohnte, weiter zu leben. Zögernd legte sie die Puppe ins Wasser und sah zu wie das leichte Holz mit dem schiefen Lächeln aus Fingerfarben davon getragen wurde.

„Mach’s gut, Ilti“, flüsterte sie kaum hörbar. „Leb wohl, Koreen.“

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