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Sherlock Holmes

von Oriane

Kapitel 1

Kapitel 1


Es war ruhig im Büro von Mikaels Team. Beinahe verdächtig ruhig und das, obwohl sie alle ein paar entspannte Tage hinter sich hatten. Lynna zh'Thels mochte die Stille nicht. Es war ihr unangenehm, wenn sie jede ihrer Bewegungen und beinahe das Atmen ihrer Kollegen hören konnte. Von Zeit zu Zeit gab der Computer ein paar Geräusche von sich, da Samak an irgendetwas arbeitete und etwa alle 25 Sekunden wischte das Geräusch einer umgeblätterten Buchseite durch den Raum. Die Andorianerin hatte all ihren verhassten Papierkram erledigt, saß nun still auf ihrem Stuhl, die Knie an den Körper gezogen und die Arme darum geschlungen und warf dem Mann neben ihr hin und wieder misstrauische Blicke zu. Maurizio Casado hatte die Füße auf den Tisch gelegt und las in einem Buch, was prinzipiell nichts Ungewöhnliches war, allerdings war er heute schon mit der Nase im Buch im Hauptquartier angekommen und hatte sie seitdem nur aus den Seiten befreit, wenn ihn jemand direkt angesprochen hatte. Das Buch war alt, in einen Stoffumschlag gehüllt und sah gebraucht aus. Die Seiten abgegriffen, Eselsohren säuberlich geglättet, als würde jemand dieses Buch wie einen Schatz hegen und pflegen.
Seltsamerweise hatte niemand Maurizio danach gefragt, was ihn so fesselte, dass er jedes Gespräch schnellstmöglich beendete und langsam platze Lynna vor Neugierde. Entschlossen stand sie auf, ging um ihren Schreibtisch und den ihres Kollegen herum, legte von hinten das Kinn auf Maurizios Schulter und die Arme um seinen Oberkörper, um mitlesen zu können. Eine Weile noch war es still, dann war er anscheinend am Ende des Absatzes angekommen und sah sich in der Lage, auf Lynnas plötzliche Nähe zu reagieren. Der junge Mann drehte leicht den Kopf und berührte mit einer Hand leicht und freundschaftlich Lynnas Antenne.
„Stimmt irgendetwas nicht?“, fragte er scheinheilig und versuchte, sie über seine Schulter hinweg anzugrinsen.
„Das ist völlig unrealistisch“, entfuhr es der Andorianerin, ohne von seiner Frage Notiz zu nehmen. „Dieser Mann steht einer Kette von Zufällen entgegen und bastelt sich daraus seinen Fall. Reine Spekulation!“
Sie klaute ihm kurzerhand das Buch und richtete sich auf, um Maurizios Hand zu entgehen, die danach schnappte. Dann begann sie, den letzten Absatz vorzulesen.

„Ich vermag nichts zu sehen“, sagte ich, indem ich den Hut meinem Freund zurückgab.
„Im Gegenteil, Watson, Sie können alles Mögliche sehen. Sie versäumen nur, Ihre Schlüsse aus dem zu ziehen, was Sie sehen. Sie gehen zu schüchtern dabei zu Werke.“
„Dann bitte, sprechen Sie, was Sie diesem Hut zu entnehmen vermögen.“
Er nahm denselben vor sich und betrachtete ihn in der ihm eigenen prüfenden Weise.
„Er gibt vielleicht nicht so viel Aufschluss, als er wohl geben könnte“, bemerkte er. „Und doch lassen sich aus dem Hut ein paar Schlüsse mit aller Bestimmtheit, und wieder ein paar andere wenigstens mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit ableiten. Dass der Mann ein bedeutendes Denkvermögen besitzt, drängt sich einem auf den ersten Blick auf, ebenso, dass derselbe im Laufe der letzten drei Jahre sich in ziemlich ordentlichen Verhältnissen befand, obwohl jetzt schlimme Tage über ihn gekommen sind. Er hielt vordem auch etwas auf sich, doch ist dies jetzt nicht mehr in demselben Grad wie früher der Fall; offenbar befindet er sich in einem moralischen Rückgang, der, zusammengenommen mit der Verschlechterung seiner Vermögensumstände auf irgendeinen schlimmen Einfluss, wahrscheinlich Trunksucht, hinweist. Dies mag auch die Schuld an dem offenbaren Umstand tragen, dass seine Frau ihm nicht mehr besonders zugetan ist.“



Lynna hielt inne und begegnete mit prüfenden Augen Maurizios Blick, der sich samt Stuhl umgedreht und sie fast vorwurfsvoll dabei beobachtet hatte, wie sie Sherlock Holmes zitiert hatte.
„Dieser Mann will aus einem alten Filzhut all diese Dinge ablesen?“, fragte sie und er nickte bestimmt.
„Sag bloß, du hast noch nie von Sherlock Holmes gehört?“
„Nur vage“, gab Lynna zu, klappte das Buch zu und klemmte es sich unter den Arm. „Dieser Kerl fasziniert dich also schon den ganzen Tag so, dass du alles andere ausblendest. Kannst du mir verraten, wie er das macht?“
„Er ist einfach genial!“, schwärmte Maurizio und lehnte stützte die Hände auf den Knien ab, als er sich nach vorne lehnte. „Überlasse ihm einen Tatort, er wird jedes noch so kleine Detail finden und unter Garantie den Fall schneller lösen, als du seinen Gedankengängen folgen kannst.“
Skeptisch zog Lynna eine Augenbraue hoch. „Das, was ich gelesen habe, klang mehr als unrealistisch.“
Aber der junge Mann schüttelte so heftig den Kopf, dass seine blonden Locken flogen. „Lies es ganz und sag das noch einmal! Du wirst genauso begeistert sein!“
„Niemand hat eine solche Auffassungsgabe“, entgegnete sie. „Schon gar nicht zu der Zeit, als dieser Holmes gelebt haben soll. Und die Wahrscheinlichkeit, dass er mit seinen Schlüssen richtig liegt, ist doch fast Null, wenn man einmal genauer darüber nachdenkt. Ein alter Hut kann alles bedeuten. Vielleicht war der Mann überhaupt nicht verheiratet, weshalb ihn seine Frau auch nie geliebt haben kann. Vielleicht war er sein Leben lang arm und hatte nur einmal so viel Geld, dass er sich einen feinen Hut kaufen konnte, damit er mehr Ansehen erlangte...“
Es war Samak, der Lynna in ihrer Anti-Holmes-Tirade stoppte. „Wenn ich mich kurz einklinken darf – die große Auffassungs- und Interpretationsgabe, die Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle angedichtet wurde, beruht durchaus auf einem realen Vorbild.“
Triumphierend lehnte Maurizio sich wieder in seinem Schreibtischstuhl zurück, als er Lynnas ungläubigen Gesichtsausdruck sah.
„Dr. Joseph Bell“, begann der Vulkanier, legte ein altes Bild auf den großen Bildschirm über seinem Schreibtisch und fing an, in seiner typischen Art Fakten über die Person vorzutragen, die er normalerweise bei Verdächtigen gebrauchte. „Geboren am 2. Dezember 1837. Er praktizierte als Arzt und Chirurg und unterrichtete an der Universität von Edinburgh. Einer seiner Schüler dort war Arthur Conan Doyle, der später nach seinem Vorbild die Romanfigur Sherlock Holmes erschuf. Er beschäftigte sich außerdem als einer der ersten ausgiebig mit der Verbindung von Wissenschaft und Verbrechensbekämpfung auseinandersetzte, ein Pionier auf dem Gebiet der Kriminaltechnik.“
Er machte eine kurze Pause, damit die beiden anderen die Informationen verarbeiten konnten. Dann fügte er hinzu: „Schon seit Sie dieses Buch mitbrachten interessierte es mich, wie diese Romanfigur solche Begeisterung bei Ihnen hervorrufen konnte.“
Lynna hätte Maurizio am liebsten das triumphierende Grinsen aus dem Gesicht gewischt, jedoch wurden sie von Baqh unterbrochen, der, gefolgt von Mikael, das Büro betrat. Der Bolianer bemerkte das Buch, das immer noch unter Lynnas Arm klemmte und warf einen Blick auf den Bildschirm. „Sind Sie schon durch mit Holmes, Maurizio?“
„Noch nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber wir mussten unsere sture Andorianerin davon überzeugen, dass ein solcher Intellekt nicht unrealistisch ist.“ Er zwinkerte seinem Kollegen zu.
„Er ist genial, nicht wahr?“, fragte Baqh und in seiner Stimme schwang eine ähnliche Begeisterung mit, wie vorhin bei Maurizios.
„Unfassbar! Danke nochmal, dass Sie es mir ausgeliehen haben.“
„Gerne.“ Baqhs Blick wanderte zu Lynnas ungläubiger Miene.
„Sie gehören also auch dazu?“, fragte sie resigniert. „Ist ja fast wie eine Krankheit.“ Dann gab sie Maurizio sein Buch zurück.
„Ich will euch ja nur ungern unterbrechen“, begann Mikael schließlich, „aber wir haben eine Leiche. Lynna, Baqh, Samak, ihr kommt mit mir. Luzia ist bereits auf dem Weg.“
Sofort kam Leben in das Team. Die drei genannten verließen das Büro, um die Ausrüstung zu holen, Mikael blieb noch kurz bei Maurizio stehen. „Legen Sie das Buch weg, Casado, wir haben zu arbeiten“, befahl er. Der junge Mann nickte und verstaute das Buch in einer Schublade seines Schreibtisches, doch kaum, dass sein Chef aus dem Raum war, zog er sie leise und vorsichtig wieder auf und vertiefte sich genüsslich weiter in die Geschichte des blauen Karfunkels.

Die Frau lag in einer kleinen Seitengasse einer Einkaufsstraße, neben ihr ein kleiner Handphaser, die Gliedmaßen in unbequemem, aber nicht unmöglichem Winkel verdreht. Zwei junge Frauen hatten sie auf dem Weg zur Arbeit entdeckt und die Polizei gerufen. Baqh hatte die beiden übernommen und befragte sie gerade, etwas abseits von Tatort. Diesmal musste Lynna die holografischen Absperrbänder aufstellen und Samak und Mikael untersuchten die Seitenstraße. Es war eine ganz gewöhnliche Gasse, etwas schmaler, als die anderen Straßen in der Umgebung, aber sauber und hell. Sie führte an der Seite eines großen Bekleidungsgeschäfts vorbei, auf der anderen Seite befand sich eine Imbissbude, die jedoch schon seit längerem geschlossen war, wie die beiden Frauen ihnen versichert hatten. Niemand wohnte hier in der Gegend.
„Kein Blut, kein Dreck – ein schöner, sauberer Tatort“, murmelte Mikael vor sich hin, während er sich zu dem kleinen Phaser hinunterbeugte.
„Der Winkel und die Entfernung der Waffe zur Leiche lassen vermuten, dass es ein Selbstmord war“, überlegte Samak und Mikael stimmte ihm zu. Wer suchte sich schon eine belebte Einkaufsgegend voller Zeugen aus, um jemanden zu töten?
„Versuchen Sie, den Besitzer dieser Filiale zu finden und zu befragen, Samak, vielleicht hat er auch eine versteckte Überwachungskamera in der Gasse, die uns weiterhelfen kann. Schon Informationen darüber, wer sie ist?“, fragte er in Richtung Luzia und sie streckte ihm, ohne ihren Blick von der Leiche abzuwenden den Ausweis entgegen, den sie gefunden hatte. Mikael zog Handschuhe an und nahm ihn entgegen.
„Julia Warren“, las er vor. „Sie wohnte nicht weit von hier, war anscheinend verheiratet.“ Er gab Maurizio den Namen und sonstige Daten durch, dann beugte er sich zur Leiche und zu Luzia Pawlow hinunter. Die Gerichtsmedizinerin untersuchte gerade die Wunde, die der Phaser hinterlassen hatte. „Sie mag zwar einen sehr irdischen Namen haben, ist jedoch mindestens zu einem viertel Vulkanierin. Genauer kann ich das erst sagen, wenn ich sie auf dem Tisch habe. Die Größe und der Winkel der Wunde deuten darauf hin, dass sie aus nächster Nähe erschossen wurde. Sehen Sie die ausgefransten, verkohlten Ränder? Ihr Phaser scheint entweder nicht mehr das neuste Modell zu sein, oder sie hat vergessen ihn aufzuladen. Das muss wirklich schmerzhaft gewesen sein.“
„Todeszeitpunkt?“
„Vor etwa viereinhalb Stunden.“
Mikael nickte und stand wieder auf. Er wollte der Leiche nur so lange wie nötig nahe sein. Der Bolianer kam gerade von den beiden Frauen zurück und schüttelte den Kopf. „Die zwei haben sie nur gefunden. Sie haben nichts gesehen oder gehört. Ich habe ihnen trotzdem gesagt, sie sollen sich die nächsten Tage bereit halten.“
„Gut. Ich fürchte allerdings, wir haben es hier mit einem Selbstmord zu tun.“
„Selbstmord beim morgentlichen Einkaufsbummel“, überlegte Baqh. „Ich kann mir gemütlichere Orte vorstellen, um mein Leben zu beenden.“
Als Samak zurück kam, sank Mikaels Hoffnung auf mehr Tiefe in dem Fall noch ein Stück weiter in den Keller. Der Besitzer des Geschäfts hatte natürlich keine Kamera in der Seitengasse angebracht und weder er, noch seine Angestellten hatten am Morgen irgendetwas bemerkt. Anwohner existierten nicht, zumindest nicht in der näheren Umgebung des Tatorts. Mikael hasste es, wenn ein Fall sich auf Anhieb so klar vor seinem inneren Auge in seine Einzelteile auffächerte, denn meistens war an diesen Fällen irgendetwas faul. Nun gesellte sich auch Lynna zu der kleinen Gruppe und stellte fest, was sie alle schon wussten. Keine Anzeichen für Mord, sehr viele Anzeichen für Selbstmord. Als sie sich gerade alle einig waren, zurück ins Hauptquartier zu beamen, betrat ungefragt ein Mann den Tatort, von dem Lynna sich sicher war, ihn dort die ganze Zeit nicht gesehen zu haben. Er war blond, hatte ein markantes Gesicht und eine schmale Nase. Seine stechenden grauen Augen zuckten wild hin und her, unentschlossen blieb er stehen. Er trug eine altmodische Anzughose, weißes Hemd mit sehr weiten Ärmeln und darüber eine dunkle Weste. In die Westentasche führte eine Uhrenkette.
„Wie zum Teufel ist er durch die Absperrung gekommen?“, flüsterte Lynna dem Bolianer neben sich zu, aber Baqh schien sie nicht zu hören.“
Mikael dagegen ging auf den desorientierten Mann zu. „Federation Security, dies ist ein Tatort, Zutritt für Unbefugte verboten. Wie kommen Sie hier her?“
Die Augen des Mannes hörten auf, hin und her zu huschen und auf seinem Gesicht breitete sich ein verwirrter, ungläubiger Ausdruck aus. Dann sah es so aus, als würde er sich mit seinem Blick an Mikael festhalten und seine Umgebung so gut wie möglich ausblenden. „Ich weiß es nicht. Was haben Sie mit mir gemacht?“, krächzte er.
„Ganz ruhig“, sagte Mikael, ging auf ihn zu und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Sehen Sie mich an. Wer sind Sie?“
Ein Stück weiter hinten bekam Baqh den Mund nicht mehr zu. Er zupfte Samak am Ärmel, ignorierend, dass der Vukanier davon alles andere als begeistert war. „Das ist Joseph Bell!“
Der Text, den Lynna zitiert stammt aus Sherlock Holmes: Die Geschichte des blauen Karfunkels.
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