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Erwachen

von Sphere

Kapitel 2

KAPITEL 2

KAPITEL 2

 

Uruk tobte. Er hatte keine Worte für Zorn und Hass, Schmerz und Verzweiflung, dennoch kannte er diese Regungen, fühlte er sie alle auf einmal. Die Vorsicht hatte er längst hinter sich gelassen, den Respekt sowieso. In unbändiger Wut fegte er durch die Höhle, die lebenden Gegenstände wirbelten beiseite, hinfortgewischt von seinen nach allen Richtungen ausschlagenden Gliedmaßen. Gegenstände prallten von den Wänden und schlugen auf ihn zurück, wagten es, auf ihn zurückzuschlagen und versetzten ihn nur noch mehr in Raserei. Und was das schlimmste war: Sie schwiegen! Sie schwiegen immer noch.

Uruk hielt es nicht mehr aus. Die Wut fegte alles Denken fort, welches ihn sonst so auszeichnete. Er brüllte. Es waren keine Worte, es war ein Schrei. Ein einziger, langgezogener Schrei voller hilfloser Wut. Wie zum Hohn war das Echo das einzige, was zu ihm zurückschallte und diese Erkenntnis ließ ihn nur noch lauter und lauter brüllen.

Als ihm die Luft ausging, begann er wieder um sich zu schlagen, sich durch die Haufen von Gegenständen zu wühlen. Er wühlte und schlug, schlug und wühlte, bis er gegen eine der Wände stieß, sich in seinen eigenen Gliedmaßen verfing und klatschend zu Boden fiel.

Seine Lunge pumpte. Der Druck in seinem Kreislaufsystem war so hoch, dass brennender Schmerz durch seinen ganzen Körper flutete. Nur langsam beruhigte er sich, wich die Wut der unerträglichen Leere und Verlorenheit der vergangenen Tage.

Er war auf einer ganzen Reihe von lebenden Gegenständen zu liegen gekommen und noch immer geschah nichts.

Weder er noch seinesgleichen wusste, was es mit diesen Gegenständen auf sich hatte. LEHRER hatte sich zu ihnen nie geäußert, dennoch hatten Uruk und seinesgleichen sie immer mit LEHRER in Verbindung gebracht, denn sie waren etwas Besonderes. Wo immer man sie fand, brachte man sie an Orte wie diesen, wo sie gut aufgehoben waren, aber gleichzeitig weit genug weg von den Wohnhöhlen waren.

Was genau sie konnten, was genau sie waren, war schwer zu übermitteln, wenn Sprache etwas war, das ein Volk erst erlernte. Daher wusste Uruk nur wenig Genaues. Alle brachten den lebenden Gegenständen Ehrfurcht und Furcht entgegen. Mutige benutzten ihre Stöcke, um sie zu berühren, manchmal sogar vorsichtig in den Haufen herumzustochern. Was sie aber erlebten, was manchmal dabei geschah, war Uruk nicht völlig klar. Es fielen Worte von Stimmen und Lichtern, die Einzelne bemerkt haben sollten. Dies waren die Worte, die ihn einst mit Neugier erfüllt hatten. Dann wurden aber auch die Worte Leben und Tod genannt und diese waren es, die ihm Angst eingejagt hatte.

Heute jedoch war er jenseits der Angst. Heute war nichts mehr wichtig. Vor drei Tagen hatte ihrer aller Leben geendet. Sie mochten noch atmen und handeln können. Uneingeschränkt. Aber ohne Ziel und Sinn.

Uruk erhob sich. Ließ träge die Augen kreisen auf der Suche nach seinem Stock. Irgendwann fand er ihn inmitten des Chaos, das er angerichtet hatte. Eines Chaos, das nichts bewirkt hatte. Auch die lebenden Gegenstände schwiegen. Auch sie hatten sich von ihnen abgewandt.

Und er wusste nicht einmal, weshalb.

Er ergriff den Stock und verließ die Höhle, folgte einem der endlosen, geradlinigen Gänge, welche sich durch den Berg zogen. Langsam und schwerfällig schleppte er sich dahin, ohne zu wissen, wohin und weshalb. Die Gegenstände waren seine letzte Hoffnung gewesen und die war nun zerstört.

Das Jammern und Winseln wurde deutlicher und er bemerkte, dass er sich den Wohnhöhlen näherte. Familien kauerten in ihren Höhlen, apathisch, mit leeren Blicken. Ausgewachsene Männer und Frauen schmiegten sich in Ecken, als würden sie dort eine Geborgenheit finden, die sie in Wahrheit nirgends mehr finden würden. Kinder quiekten hin und wieder auf, wenn das Leid für sie unerträglich wurde. Überall klebte Schleim, der von seelischer Not zeugte. Es waren schreiende Hilfsgesuche, denen sich keiner unter normalen Umständen hätte entziehen können.

Doch dies waren keine normalen Umstände mehr. Uruk selbst zog vermutlich einen Film hinter sich her, der greller als alle anderen war.

Beinahe hätte er Lonk übersehen. Früher einmal hatte er ihn als guten Freund bezeichnet. Für seinen Scharfsinn hatte er ihn respektiert. Er wusste nicht, was Lonk heute für ihn war und er bezweifelte, dass er es irgendwann herausfinden würde.

Lonk richtete den Kopfkörper auf und schüttelte ihn fragend. Für Uruk war völlig klar, dass er wissen wollte, was bei seinem Versuch herausgekommen war, doch er ignorierte die Frage und schob sich weiter.

„Waßß?“, rief Lonk hinter ihm her.

Uruk schleuderte den Stab von sich und schlug mit aller Kraft gegen die Wand. Die falsche Aussprache Lonks machte ihn wütend. Seine Hilflosigkeit machte ihn wütend!

„Nichts!“, donnerte er zurück, schnappte den Stab und marschierte weiter.

 

Vor ihm öffnete sich der Ausgang des Höhlensystems. Die Luft hier draußen war kühler. Die funkelnden Sterne am Himmel erzeugten nur wenig Taglicht, aber das von der Umgebung selbst ausgehende Nachtlicht war grell genug, um ihn für einen Moment zu blenden.

Der Berg, den er und der Stamm bewohnten, fiel vor ihm allmählich ab. Er ging über in eine Ebene, die schon bald von der Waldpflanze begrenzt wurde, welche sich weit erstreckte und schließlich in den Himmel überging. Links und rechts von Uruk konnte er vierzehn andere Berge erkennen. Sie beherbergten die anderen Stämme. Dort gab es den gleichen Schutz und die gleichen guten Bedingungen, wie sie auch in ihrem Wohnberg herrschten.

Unabhängig davon, ob es nun Tag oder Nacht war hatte Uruk es immer als erhebend empfunden, hier zu stehen und die Welt zu überblicken. Eine Welt, die groß und die schön war.

Noch immer empfand er derart. Die Welt war noch immer schön. Sie sah noch immer so aus.

Doch all diese Schönheit konnte den Schmerz in seinem Inneren nicht lindern. Sie war wie ein weiches Polster aus Pflanzen, das einen Körper umschmiegte und umschmeichelte, ihn einlud sich zu entspannen und die Illusion von Sicherheit schenkte – und doch keine Krankheit oder tödliche Verletzung zu heilen vermochte. So war es doch mit allem. Was auch geschah, nichts und niemand konnte in seinen Kopf hineingreifen und dort auch nur irgendetwas bewirken, das nicht von Uruk selbst kam.

In alter Gewohnheit wandte er seinen Blick nach hinten. Dort ragte die verbotene Stadt hinter der Waldpflanze auf. Noch schöner und noch erhabener als die sie umgebende Landschaft. Sie strebte dem Himmel entgegen, wie nichts anderes, das Uruk je gesehen hatte. Sie strahlte hell in Stadt-Nachtfarben und sah überhaupt außergewöhnlich städtisch aus.

Doch selbst dies, was sonst für ihn ein Quell der Stärke und Zuversicht gewesen war, half ihm nicht weiter und schien ihn im Gegenteil zu verhöhnen, ein Symbol für die Niederlage selbst zu sein.

Um dem unerträglich gewordenen Anblick zu entfliehen, setzte er sich in Bewegung. Er stieg bergab. Weder Uruk noch Seinesgleichen analysierten mit Absicht ihr Tun und ihre Gefühle. Dennoch wurde ihm unwillkürlich klar, warum er das tat. Uruk hätte es nicht in Worte fassen können und daher war sein Verständnis nur sehr vage und verschwommen. Er erlebte seine Gefühle nicht so bewusst wie es jemand tat, der in einer Sprache denken konnte. Was er aber erkannte war, dass es schlichte Gewohnheit war, die ihn trieb.

Er griff den Stock fester. Der dünnen und geschickten Tentakelspitze schob er das kräftige, dicke Ende der Extremität hinterher, als wolle er das Holz zerdrücken. Trotzig ging er weiter. Denn nichts anderes blieb ihm.

 

*  *  *

 

Ein Schlag erschütterte das Schiff, zeitgleich mit dem Ausfall der Beleuchtung. Automatisch begann der Rote Alarm aufzuheulen.

Picard fing sich schnell. „Bericht“, forderte er, während die Beleuchtung bereits wieder ansprang und der Alarm automatisch auf still schaltete.

„Der Warpantrieb hat eine Notabschaltung durchgeführt.“ Der Stress war Gates anzuhören, dennoch kam die Meldung schnell und präzise.

Picard konnte sich bildlich vorstellen, was das bedeutete. Bei einer Notabschaltung wurde das Warpfeld so schnell es kontrolliert möglich war, heruntergefahren. Dies geschah weit schneller, als zeitgleich der Warpkern abgeschaltet werden konnte. Dieser produzierte weiterhin Energie – hochenergetisches, ultraheißes Plasma, welches nach seiner Erzeugung irgendwohin musste und daher einfach entlüftet wurde. Während die Enterprise also von vielfacher Lichtgeschwindigkeit herunterbremste und schließlich die normale Raumzeit erreichte, zog sie einen Schweif aus grellweißem Plasma hinter sich her, der aus den Pylonen der Warpgondeln herausbrach.

„Wir befinden uns 8 Lichtstunden von unserem Zielstern entfernt, Geschwindigkeit zweidrittel Impuls.“

„LaForge an Brücke“, meldete sich Geordi unaufgefordert. „Die Abschaltung des Antriebs muss eine externe Ursache gehabt haben. Alle Systeme haben bis eben einwandfrei funktioniert!“ Dort unten war sicher die Hölle los. Geordi war die Anspannung anzuhören und er klang beim letzten Satz, wie wohl die meisten Ingenieure in dieser Situation, als müsse er sich verteidigen.

Ein instabiles Warpfeld war etwas höchst Gefährliches. Bei einer zu großen Störung konnten Kräfte auftreten, die sich nur noch in unvorstellbar großen Zahlen angeben ließen. Ein Schiff konnte dadurch auseinander gerissen und über mehrere Lichtjahre verteilt werden. Dies war ein so großes Volumen, dass man die Überreste nur fand, wenn man sehr genau wusste, wonach man suchte.

Um dem vorzubeugen war jeder Warpantrieb mit einer Reihe von Sicherheitsschaltungen ausgestattet, welche das Warpfeld abschalteten, wenn es zu signifikanten Fluktuationen kam. Woher diese kamen spielte für diesen Automatismus keine Rolle. Neben Fehlern in der Hardware kam auch der umgebende Raum in Frage, der sich in der Umgebung von Anomalien oder Objekten wie schwarzen Löchern nicht zum Betreiben eines Warpantriebs eignete.

„Wann wird der Antrieb wieder zur Verfügung stehen?“, wollte Picard wissen.

Geordi dachte einen Moment nach. „So wie es aussieht, hat die Abschaltung sehr gut funktioniert, ich glaube nicht, dass irgendwelche Schäden entstanden sind. Wir überprüfen das gerade. Wenn wir nichts finden, sind wir in etwa vier Minuten wieder einsatzbereit.“

„Verstanden. Picard Ende.“

„Captain“, meldete sich nun Data zu Wort, den Blick auf seine Konsole geheftet, an welcher er noch immer arbeitete. „Ich glaube, ich weiß, was den Stopp verursacht hat.“ Dramatisch schwenkte er seine Konsole weg und drehte den Sessel in Richtung der anderen Offiziere. „Das vor uns liegende Sonnensystem ist von einem Antigravitonenfeld umgeben. Dieses hat unser Warpfeld gestört. Zurzeit sorgt es dafür, dass die Enterprise allmählich vom Stern fortgedrückt wird.“

„Die Geschwindigkeit beträgt nur noch etwa eindrittel Impuls“, ergänzte Gates. „Tendenz fallend.“

Picard bedachte die Fakten einen Moment. Dass ein derartiges Feld natürlich entstehen konnte, war ihm nicht bekannt. Einer Zivilisation, die Sternen Energie abzapfen konnte, traute er so etwas allerdings zu. Für das Schiff schien in der Zwischenzeit keine unmittelbare Gefahr zu bestehen, daher fragte er Data: „Was können Sie über das Sonnensystem sagen?“

Data bediente wieder seine Konsole. „Bei dem Stern handelt es sich um einen gelben G4-Stern. Offenbar fließt ihm die Energie der Trealor-Sonne zu. Dort vereinigt sie sich mit fünf weiteren, vergleichbaren Energiestrahlen. Abgesehen davon zeigt er aber keine ungewöhnlichen Eigenschaften.“ Datas Finger flogen über die Tasten. „Das Antigravitonenfeld hat eine höchst interessante Wirkung auf den Sonnenwind des Sterns. Außerdem hat es eine immense Anzahl an Körpern des lokalen Kuiper-Gürtels eingefangen. Das System selbst weist zwei Planeten auf. Der äußere ist ein Gasriese mit 37 zumeist vereisten Monden. Der innere ist ein Planet der Klasse L und weist eine Sauerstoff-Argon Atmosphäre auf. Es ist mir aufgrund des Antigravitonenfeldes nicht möglich, nähere Angaben über Leben und Technologie...“

„Captain!“, unterbrach Worf. „Wir werden gerufen. Nur Audio.“

Damit beantwortete sich bereits die Frage, ob das System wirklich bewohnt war. „Auf die Lautsprecher.“

„Das System steht derzeit unter Quarantäne“, erklang eine Stimme, von der Picard nicht zu sagen vermocht hätte, ob sie von einem Mann oder einer Frau stammte. Dies an sich war für den Angehörigen eines anderen Volkes nichts Ungewöhnliches. Was ihn aber in diesem Zusammenhang wunderte, war der Fakt, dass die Stimme dennoch vertraut klang. „Ziehen Sie sich bitte zurück. Wir entschuldigen uns für jedwede Unannehmlichkeit, die sich daraus für Sie ergeben könnte.“

Picard sah zu Riker hinüber. „Hört sich nach einem Vorwand an“, kommentierte sein erster Offizier. „Vielleicht sogar um gerade uns fernzuhalten.“

Picard brummte Zustimmung und nickte dabei. Es war durchaus möglich, dass man sich dort einfach nur vor denjenigen schützen wollte, denen die Sonne gehörte, die man anzapfte. „Einen Kanal öffnen.“

„Offen“, knurrte Worf.

„Hier ist Captain Picard“, begann er und ließ dabei bewusst ihre Zugehörigkeit zur Föderation erst einmal weg. „Wir bieten unsere Hilfe bei Ihren aktuellen Problemen an.“ Er wartete, lauschte auf eine Antwort. Als diese ausblieb, fuhr er fort: „Unsere Mission ist es, friedlichen Kontakt zu neuen Zivilisationen herzustellen. Unser Schiff ist bestens ausgerüstet. Daher ist die Chance groß, dass wir Ihnen helfen können, was auch immer der Grund für die von Ihnen verhängte Quarantäne ist.“

Schweigen.

Ein Wink in Richtung Worf und ein dezentes Tonsignal bestätigte, dass die Verbindung geschlossen war. Im Grunde hatten ihm bereits sein Instinkt und seine langjährige Erfahrung gesagt, dass er nicht mit einer Antwort zu rechnen hatte. Versuchen hatte er es dennoch müssen. Insbesondere in Hinblick auf die Frage, die er nun stellen würde. „Mr. Data, gibt es eine Möglichkeit, das Feld zu durchdringen?“

„Ja, es gibt eventuell eine Möglichkeit“, bestätigte der Androide, während er sich zu Picard hin umwandte. Selbstverständlich hatte er darüber bereits nachgedacht. „Mit einem Gravitonenstrahl müssten wir in der Lage sein, das Feld teilweise auszulöschen. Das dazu notwendige Auffinden der Eigenfrequenz des Feldes wird mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Dies setzt allerdings voraus, dass die Frequenz sich nicht ändert. In diesem Fall wäre es nicht möglich, den Änderungen schnell genug zu folgen.“

Für Picard klang dies gut genug. Er war entschlossen, in das System einzudringen und Datas Vorschlag war plausibel.

„Dieses Vorgehen birgt jedoch ein Risiko, Sir“, fügte Data sanft hinzu, ehe Picard sich äußern konnte. Sachlich und korrekt wie stets fuhr er fort: „Stärke und Gradient des Feldes nehmen in Richtung des Sterns zu. Da wir uns lediglich mit Impulskraft durch den von uns geschaffenen Korridor werden hindurchbewegen können, wird es 22 Minuten und 43 Sekunden dauern, bis wir diesen passiert haben. Wenn sich in diesem Zeitraum die Frequenz des Feldes ändert oder sie bewusst geändert wird, dann wird der entstehende mechanische Stress das strukturelle Integritätsfeld überlasten und das Schiff zerstören.“

„Was ist, wenn es kein Vorwand ist?“, warf Troi ein. „Wenn dort wirklich etwas nicht stimmt?“

Dann können wir vielleicht die versprochene Hilfe leisten, dachte Picard. Fragen tat er: „Spüren Sie etwas, Counselor?“

Troi bewegte die Schultern so, als ob sie frieren würde. „Ja, da ist etwas.“ Für einen Moment wanderte ihr Blick in die Ferne, doch schnell kehrten ihre dunklen Augen wieder zu ihm zurück. „Es ist nicht ganz das, was ich erwartet hatte“, erklärte sie dumpf.

Als sie sich nicht weiter äußerte, hakte er nach. „Wie meinen Sie das?“

„Wir sind noch zu weit weg, als dass ich etwas Klares empfangen würde, aber dieses System löst ein starkes Unwohlsein bei mir aus.“ Sie zögerte etwas, dann erläuterte sie, nun mit nüchterner Distanz: „Sie wissen, dass Betazoiden sich in der Anwesenheit von Tieren unwohl fühlen. Ihre ungezügelten Emotionen sind für uns nur schwer zu verarbeiten.“

„Wollen Sie damit sagen, dass es in dem System kein intelligentes Leben mehr gibt?“

„Nein.“ Ihr Blick glitt wieder in die Ferne. „Es sind keine Tiere. Tiere spüre ich nicht auf diese Entfernung. Ich weiß nicht, was es ist“, schloss sie dieses Thema von ihrer Seite ab. „Aber unabhängig davon“, fuhr sie mit Bestimmtheit fort, „wenn in diesem System etwas nicht in Ordnung, wenn es dort zum Beispiel eine Epidemie gibt, dann können wir uns der Möglichkeit nicht verschließen, dass wir das System möglicherweise nicht mehr werden verlassen können, selbst wenn sich uns die technischen Möglichkeiten dazu bieten.“

Trois Einwand war genauso wenig von der Hand zu weisen, wie das Risiko, welches das von Data beschriebene Vorgehen in sich barg. Dennoch war er nicht hier her gekommen, um unverrichteter Dinge wieder abzureisen. Daher machte es auch keinen Sinn, eine weitere Konferenz einzuberufen. Seine Entscheidung war getroffen.

 

*  *  *

 

Der Lehrer war wie immer aus dem Nichts erschienen. Er war ein wenig größer als Uruk und seinesgleichen. Außerdem hatte er graue Haut und änderte nie die Farbe. Seine Augen blickten tiefgründig und weise. Der Lehrer erschien immer, wenn Uruk die Lichtung betrat. So wie ein Lehrer jedem anderen erschien, der jede andere Lichtung des Waldes aufsuchte.

Die Lehrer sahen alle gleich aus und verhielten sich alle gleich. Sie konnten gleichzeitig an mehreren Orten sein. Aber dennoch schienen sie alle ein und dasselbe Wesen zu sein. Dieses Wesen nannten sie LEHRER.

LEHRER wusste alles und sah alles. Er beschützte sie und er lehrte sie. Uruk kam jeden Tag her. Dann erzählte er dem Lehrer alles, was auch immer ihn beschäftigte. Er tat dies mit Gesten, aber auch zunehmend mit den Worten, die der Lehrer ihm beibrachte. Der Lehrer hörte alles, was er ihm sagte. Wenn er ihn etwas fragte, dann antwortete er. Es tat gut, sein Leben mit dem Lehrer zu teilen und zu wissen, dass er ihn unterstützte. Dies gab ihm Sicherheit und Geborgenheit. Wenn er dem Lehrer von seinem Tag erzählte, dann wurde sein Tun auf einmal bedeutsam, schien alles einen Sinn zu haben.

Heute jedoch waren es nicht seine persönlichen Sorgen, die ihn beschäftigten. Vor vielen, vielen Tagen hatte LEHRER ihnen beigebracht, wie man sehr einfach in die Tunnel der Erdwühler gelangen konnte. Dort gab es viele Esspflanzen. Seitdem hatte es Nahrung im Überfluss gegeben. Doch Uruk sah die ganzen Kinder und gestern war ihm ein Gedanke gekommen. Die Nahrung würde nicht mehr reichen, wenn diese Kinder groß wurden. Uruk empfand dies nicht als bedrohlich. Schließlich wachte ja LEHRER über sie. Trotzdem dachte er seitdem oft an diesen Umstand.

„Hunger“, erklärte er daher dem Lehrer. „Hilfe?“

Der Lehrer äußerte sich selten durch Gesten. Das tat er auch jetzt auch nicht. Stattdessen sprach er. „Ihr habt euch in den letzten Monaten zu schnell vermehrt.“ Seine Stimme klang klar und deutlich. Uruk kannte die meisten der Wörter nicht, welche der Lehrer benutzte. Dennoch bekam er den Sinn der Aussage mit und bemühte sich wie stets, mehr von der Sprache zu lernen. Schuldig fühlte er sich aufgrund LEHRERs Aussage nicht. Warum auch? LEHRER machte ihnen nie Vorwürfe.

„Hilfe?“, wiederholte Uruk daher ratlos.

Der Lehrer streckte einen Tentakel aus. Darin erschien ein Stück Esspflanze.

„Dies ist ein Samen“, erklärte der Lehrer und machte eine Pause, um Uruk Zeit zu geben, sich den Begriff einzuprägen. Dann begann er mit drei weiteren Gliedmaßen ein Loch in den Boden zu graben. Er ließ das Stück Pflanze – den Samen – darin verschwinden und bedeckte ihn wieder mit Boden.

„Sammelt diese Samen und tut dasselbe mit ihnen.“

Vor drei Tagen hatte Uruk erneut auf der Lichtung gestanden, so wie er es auch jetzt wieder tat. Er hatte dem Lehrer berichten wollen, dass sie getan hatten, was er sie gelehrt hatte – doch das nichts geschehen war, was an der Situation etwas geändert hätte.

Doch der Lehrer war nicht erschienen.

Uruk hatte es nicht verstanden. Es war wie als ob morgens das Taglicht immer heller und heller wurde – und die Sonne dennoch nicht aufging. So etwas geschah einfach nicht. Schließlich war dies eine Lichtung. Das war nicht einfach ein Ort ohne Pflanzen. Es war auch stets ein Ort, an dem Lehrer erschienen!

Uruk hatte gewartet. Geduldig und ruhig. Erst als es Nacht geworden war, hatte seine Gelassenheit begonnen zu bröckeln. Dann hatte er erfahren, dass niemandem ein Lehrer mehr erschienen war.

Dass LEHRER sie verlassen hatte.

 

Uruk stand auf der Lichtung und stellte fest, dass sein Körper langsam nach unten sackte. Seine Gliedmaßen wollten ihn auf einmal nicht mehr tragen. Mit dem Anblick der Lichtung lösten sich Trotz und Wut in Luft auf, gab die harte Schale den gequälten Kern frei.

„Lehrer?“, hörte er eine Stimme und musste feststellen, dass es die eigene war.

Stille.

Er spürte, wie der Schleim ihm aus den Poren quoll.

„Hilfe??“

Doch das bebende, kaum verständliche Wort erhielt keine Antwort.

Uruks Kopf erreichte den Boden.

 

*  *  *

 

Natürlich hatte es funktioniert. Es hatte gedauert, die notwendige Frequenz zu finden und es hatte gedauert, das Antigravitonenfeld zu passieren. Zerstört war die Enterprise dabei nicht worden. Counselor Troi mochte Picards Erleichterung spüren, doch anzusehen war sie ihm so wenig wie seine zurückliegende Anspannung.

Stets konnte eine Entscheidung noch so begründet sein und noch so sehr die Zustimmung der Crew finden – letztlich war er es, der die Verantwortung trug. Als Captain war er für Leben und Unversehrtheit von über tausend Personen verantwortlich. Er hatte schon Crewmitglieder verloren und einst die komplette Stargazer aufgeben müssen. Letzteres hatte ihn damals dazu veranlasst über viele Jahre hinweg kein Kommando zu führen. Heute war er an diesen Erfahrungen gewachsen und sah er die Sorge und die Zweifel, die ihn jedes Mal von neuem überfielen, als notwendiges Übel an. Sie belasteten ihn, bewiesen ihm aber auch stets, dass sein Verstand noch immer kritisch arbeitete.

Übergangslos wurde das Bild des Sonnensystems auf dem Hauptschirm durch das eines Humanoiden ersetzt. Picard kannte die akustischen Signale des Schiffes gut genug, um zu bemerken, dass dies keine reguläre Funknachricht war, die Worf ohne Rückfrage auf den Schirm geschaltet hatte. Wer immer es war, den er gerade zu sehen bekam, er demonstrierte ihnen gerade dezent seine technischen Möglichkeiten, unautorisiert auf die Systeme der Enterprise zugreifen zu können.

Der Fremde hatte eine hellbraune, leicht ins graue gehende Hautfarbe, die Picard nicht fremd, sondern unnatürlich vorkam. Sein Schädel war weitgehend kahl, erst am Hinterkopf entwuchs ihm langes, tiefbraunes Haar. Der Anzug, den er trug, schien ähnlich wie eine Sternenflottenuniform geschnitten, war allerdings völlig schwarz. Er stand in einem großen, hell erleuchteten Raum, dessen Details Picard allerdings nicht gut erkennen konnte.

Die goldenen Augen des Unbekannten wanderten umher, ohne dass Picard zu sagen vermocht hätte, was es war, das das Interesse seines Gegenübers weckte. Schließlich sprach er. Seine alarmierte Stimme stand nicht nur im krassen Gegensatz zu seinem zutiefst nachdenklichen Gesichtsausdruck, sondern auch zu dem, was er sagte: „Willkommen im Neu-Tkon-System.“

Bei der Nennung dieses Namens setzte bei Picard einen Moment der Herzschlag aus. Die Tkon!

Dies war der Name eines Volkes, welches ihres – seines – Wissens seit 600.000 Jahren ausgestorben war. Ihre erste Begegnung mit den Ferengi hatte im Orbit um einen ihrer letzten verblieben Außenposten stattgefunden. Seit bald zwei Jahren verbrachte Picard seine freie Zeit damit, neuen Hinweisen über dieses mysteriöse Volk nachzujagen und bestehende archäologische Thesen zusammenzufassen – und nun das!

„Während der Quarantäne ist es Schiffen nicht gestattet, sich im interplanetaren Raum aufzuhalten.“ Die eben noch alarmierte Stimme war in ein gefühlloses Herunterleiern übergangen, schlug aber nun in einen unsicheren, fast ängstlichen Ton um. „Daher wird Ihr Raumschiff auf Neu Tkon landen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit bitten wir Sie, ihre Antriebe zu deaktivieren, sowie sämtliche Systeme, welche Subraumfelder von mehr als 200 Millicochrane in 10 Metern Abstand zu Ihrer Hülle erzeugen.“

„Wir sind soeben auf Warp gegangen“, meldete Gates alarmiert.

„Grund dafür scheint ein extern errichtetes Warpfeld zu sein, welches das Schiff umschließt“, lieferte Data dankenswerterweise sofort die Erklärung nach.

Ehe der Fremde Gelegenheit bekam, die Verbindung kurzerhand zu trennen, begehrte Picard auf. „Ich bedaure, aber unserem Schiff ist die Landung auf einem Planeten nicht möglich.“

Ohne ihn anzusehen beharrte der Fremde, nun plötzlich wieder in höchstem Maße erregt: „Ihr Schiff wird auf Neu Tkon landen.“ Dann kehrte schlagartig der Anblick des Weltraums auf den Hauptschirm zurück.

„Bericht“, forderte Picard nun, da er sich dem Schiff wieder unmittelbar widmen konnte.

„Wir bewegen uns mit Warp 3,7 auf den Klasse-L Planeten zu“, ließ Gates verlauten. „Geschätzte Ankunftszeit in 6 Minuten.“

„Vorschläge?“, fragte Picard. „Ist es möglich, das Feld mit unserem eigenen Antrieb neutralisieren?“ Da ein Warpfeld in der Realität immer ein wenig anders als in einem perfekten Modell war, musste sein Status ständig gemessen und nachgeregelt werden. Vielleicht konnte man also das eigene Warpfeld benutzen, um das andere Feld auf Null zu regeln.

„Ja, mit einigen Modifikationen ist es möglich“, erklärte Data nach unmerklichem, aber zweifellos intensivem Nachdenken. „Allerdings besteht dabei ein beträchtliches Risiko.“

Worfs Vorschlag kam nicht weniger schnell: „Wenn wir die Zielerfassung verbessern, könnten wir die Projektoren des Feldes mit Photonentorpedos beschießen.“

„Das alles ist vielleicht nicht notwendig“, widersprach Riker, ein wenig gedämpft und dennoch entschieden. Er hob die Brauen. „Möglicherweise ist man auf der anderen Seite in der Lage zu tun, was er behauptet.“

Picard konnte sich denken, was Riker meinte, dennoch sagte er: „Erklären Sie das.“

„Wer immer das da draußen ist, sie können uns auf diese Entfernung ein Warpfeld überstülpen und damit quer durch das ganze Sonnensystem ziehen.“ Er deutete kurz in Richtung Schirm. „Und das ist nur das, was wir konkret wissen. Wer weiß, was sie noch an technischen Fähigkeiten aufzubieten haben.“

„Data, wie sind unsere Chancen eine Landung zu überstehen?“, holte Picard eine weitere Information ein.

„Wenn das Schiff vor Erreichen des Planeten unter Warp geht und danach mit hinreichend geringer Geschwindigkeit durch die Atmosphäre geführt wird, spricht nichts dagegen, dass die Enterprise diesen Vorgang übersteht. Durch eine Verstärkung des strukturellen Integritätsfeldes sollten wir in der Lage sein zu verhindern, dass das Schiff nach der Landung durch seinen eigenes Gewicht Schaden nimmt.“

„Machen Sie es so. Arbeiten Sie auch an den Warp-Modifikationen. Mr. Worf, treffen Sie alle notwendigen Vorbereitungen für die Zerstörung der Projektoren. Wir werden uns dies aber nur als letzte Option offen halten“, machte er klar. An Riker gewandt fuhr er fort: „Ich tendiere dazu, Ihnen zuzustimmen. Ein Grund, der mich dazu bewegt, ist die Nennung des Namens Tkon.“

„Ich dachte“, scheute sich Riker nicht sowohl sein Unwissen, als auch sein Interesse kundzutun, „dieses Volk wäre ausgestorben.“

„Mmh“, brummte Picard Zustimmung. Oftmals war er es, der sich auf die Expertise seiner Crew verlassen musste. Nun war er der Experte und das Rätsel, vor dem er stand, faszinierte ihn. „Unser Unwissen über dieses Volk ist größer, als unser Wissen, Nummer Eins“, erwiderte er, die Hand nachdenklich ans Kinn gelegt. „Trotzdem könnte diese Vorstellung unterm Strich zutreffen. Weil – wen immer wir eben auf dem Bildschirm gesehen haben – er war kein Tkon“, eröffnete er.

Will gab sich keineswegs Mühe, seine Gefühle hinter einem Pokerface zu verbergen. Einen Moment zeigte sich Verblüffung auf seinem Gesicht, welches aufgrund der Abwesenheit seines Barts tatsächlich einige Jahre jünger wirkte. Doch schnell wandelte sich die Überraschung in ein breites Grinsen, als er zu verstehen begann.

Riker war eine der wenigen heute lebenden Personen, die je einem Tkon gegenübergestanden hatten. Auf Delphi Ardu hatte er einst Portal 63 getroffen, den letzten Wächter eines längst verlassenen Außenpostens des Tkon Imperiums. Portal war wie ein sehr alter und sehr menschlicher Mann erschienen, doch dies war nur die Gestalt gewesen, die er gewählt hatte. Sein normalerweise körperloser Zustand hatte es ihm erlaubt, die Jahrhunderttausende zu überstehen. Ob er ein normaler Tkon seiner Ära gewesen war oder ein Sonderfall, gar Züchtung oder er auf technische Hilfsmittel zurückgriff, darüber schieden sich bis heute die Geister.

„Die Tkon waren Reptiloide“, erzählte Picard. „Sie hatten vier Beine, gingen aber aufrecht... Die Gorn versuchten, vermutlich aus politischen Gründen, über einige Jahrzehnte hinweg eine entfernte Verwandtschaft zu ihnen zu beweisen, aber dies ist zweifellos nicht der Fall.“

„Ich glaube nicht, dass wir es eben mit einem intelligenten Wesen zu tun hatten“, ließ Troi leise, aber dennoch überzeugt verlautbaren. „Weder mit einem Tkon noch mit einer anderen Spezies.“

Die überraschende Aussage veranlasste Picard dazu sich der Counselor zu seiner linken zuzuwenden, welche mit übergeschlagenen Beinen neben ihm saß.

„Seine Sprechweise und seine Mimik waren nicht einfach nur fremd“, fuhr seine Beraterin fort, auch wenn sich Picard noch nicht erschloss, worauf sie hinauswollte. „Ich würde sie als inkonsistent beschreiben. Er hat teilweise in Situationen, die sich emotional unterschieden, die gleiche Mimik gezeigt. Alle seine Regungen schienen wie zufällig. Und dann war da noch sein Aussehen.“

„Was war damit?“, nahm ihm Riker die Frage ab.

Troi lächelte. „Ist es Ihnen nicht aufgefallen? Sein Äußeres war eine Mischung des Aussehens aller hier Anwesenden. Er hatte meine Haare, Datas Augen, die Stirn des Captains und Ihre Statur.“ Picard stutzte. Jetzt, wo Troi es sagte, fiel es ihm auch auf. Daher war ihm auch die Stimme des Fremden, die sie vor dem Eindringen in das System gewarnt hatte, so seltsam vertraut erschienen. „Und dann war da noch der Hintergrund“, fuhr Troi fort. Der Fußboden hatte teilweise so ausgesehen, als wären in ihn schwarze Sternenflotten-Touchscreens eingelassen gewesen. Picard hatte dies jedoch als Täuschung abgetan, da es nicht gut zu erkennen gewesen war. „Es waren Elemente unserer Brücke, nur völlig chaotisch angeordnet. Daher sah es so aus, als hätte dort eine OPS Konsole aus der Decke geragt.“

„Die Beobachtungen der Counselor sind stichhaltig“, kommentierte Data. „Eine Erklärung wäre, dass es sich bei dem, was wir gesehen haben, um ein computergeneriertes Bild gehandelt hat.“

„Ja, aber keines, das mit Verstand erstellt wurde“, legte Deanna nach. „Es sind Bilder von uns, die gesammelt und neu kombiniert wurden. Das ist sehr gut geschehen, was die handwerkliche Seite angeht, aber wer immer es getan hat, hat nicht verstanden, was die Bilder bedeutet haben. Ich denke daher nicht, dass in diesen Prozess ein Lebewesen eingebunden war. Eher ein Computer.“

Picard musste daran denken, dass die Tkon blind gewesen waren. Daher hatten die Augen des Fremden sich zwar bewegt, aber nie irgendwohin gesehen. Vermutlich weil die Tkon, welche das Programm geschrieben hatten, dem Realismus in der Darstellung von Augen keine sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt hatten.

Letztendlich half ihnen diese Erkenntnis in der Frage, was aus den Tkon geworden war, nicht weiter. Dies würden sie wohl erst in Erfahrung bringen können, wenn sie auf dem Planeten Untersuchungen anstellen konnten.

Picard musste zugeben, dass er den Tkon bei allem Interesse für die Archäologie nicht immer dasselbe Interesse entgegen gebracht hatte, wie das heute der Fall war. Früher hatte sein Interesse hauptsächlich auf vergangenen präindustriellen Zivilisationen gelegen. Als sie damals die Ferengi bis nach Delphi Ardu verfolgt hatten, waren ihm die Tkon nicht einmal ein Begriff gewesen. Dabei waren sie keine unbedeutende Randnotiz der Geschichte gewesen. Sie reihten sich in eine Linie mit anderen großen Völkern wie den Iconiern und den Chodak. Diese hatten nicht nur große technische oder geistige Fortschritte gemacht, wie es auch die Organier oder die Aldeaner getan hatten, sondern hatten gewaltige Sternenreiche errichtet und sich nicht nur auf ihre Heimatwelt beschränkt.

Die Begegnung bei Delphi Ardu hatte dann jedoch sein Interesse geweckt. Trotzdem hatte er danach viel Zeit damit verbracht, insbesondere über die mysteriöse Vergangenheit von Tagus III nachzuforschen, was den Aufstieg und Fall gleich mehrerer präindustrieller Gesellschaften beinhaltete. Seine Ergebnisse hatte er schließlich auf dem jährlichen Symposium des archäologischen Rats der Föderation von 2364 vorgestellt. Nicht ohne Stolz hatte er festgestellt, dass sein Bericht derart Eindruck gemacht hatte, dass er in den Veröffentlichungen der Fachwelt schon mehrfach zitiert worden war. Nach einem solchen Erfolg hatte er sich nach etwas Neuem umgesehen, mit dem er einen Teil seiner Freizeit ausfüllen konnte – und dies waren die Tkon gewesen.

„Wir nähern uns dem Planeten“, riss Data ihn aus den Gedanken. „Unsere Geschwindigkeit beträgt noch immer Warp 3,7.“

Picard erhob sich aus seinem Sessel. Sein Vertrauen in fremde Technik war begrenzt, egal, ob sie von den Tkon stammte oder nicht. „Mr. Worf, Mr. Data, wie weit sind Sie mit Ihren Vorbereitungen?“ Während der vergangenen Minuten hatten die beiden gearbeitet, vermutlich von mehreren Schiffsabteilungen unterstützt.

Worf nickte knapp und trat angespannt von einem Fuß auf den anderen. „Die Quelle des Warpfeldes befindet sich am Rand einer Stadt auf der südlichen Hemisphäre. Es ist mir bisher nicht möglich, das Ziel...“

Etwas geschah.

Picard hätte nicht zu sagen vermocht, was es war, aber er fühlte eine Veränderung. Worfs Augen weiteten sich, als er automatisch in Richtung des Bildschirms sah. Auch Picard wandte sich um – und stellte fest, dass sie gelandet waren.

 

Der Schirm zeigte das Bild einer Art großen Stadt. Nicht etwa vom Orbit, sondern von der Oberfläche des Planeten aus gesehen.

„Bericht“, hörte Picard sich sagen.

„Wir befinden uns auf der Oberfläche des Planeten“, erklärte es Data allen, die es vorzogen, ihren Augen nicht zu trauen. „Das Schiff liegt in einem Bett, welches exakt die äußeren Konturen der unteren Hälfte der Enterprise aufweist.“

„Vermutlich hat die Hülle nicht einmal einen Kratzer abbekommen“, kommentierte Riker.

„Aber wie ist denn das möglich?“, platze es aus Troi heraus.

„Möglicherweise wurde das Schiff gebeamt“, schlug Data vor.

„Das Schiff!?“, grollte Worf ungläubig. Data wollte etwas erwidern, schien dann aber doch zu beschließen, sich eine Antwort zu sparen, die nur das Gesagte wiederholt hätte.

Picard indessen widmete sich wieder der Stadt, an deren Rand das Schiff vermutlich auf einer Art Raumhafen lag. Intakte Städte der Tkon existierten heute eigentlich nicht mehr. 600.000 Jahre – teilweise sogar bedeutend mehr, weil deren Zivilisation sehr lange bestanden hatte – waren genug Zeit um einen Großteil der Spuren zu verwischen. Dennoch kannte er deren Städte aus diversen multimedialen Aufzeichnungen.

Was sich ihm hier nun jedoch darbot, entsprach alles andere als seinen Erwartungen. Die Bauwerke der Tkon, die er kannte, waren über alle Zeitalter hinweg immer sehr zweckmäßig gebaut gewesen. Sie waren stets schlicht und möglichst einfach zu konstruieren gewesen. Nicht jedoch hier. Die Gebäude waren alles andere als symmetrisch, wie man es beim Anblick einer Stadt gewöhnlich erwartete. Stattdessen erinnerten sie Picard an stilisierte Kartoffeln, mit Rundungen von oftmals sich ändernder Krümmung und gewellten, niemals gradlinigen Flächen. Dabei musste er zugeben, dass der Vergleich mit den Kartoffeln keineswegs ein guter war. Einerseits weil Kartoffeln hässlich aussahen, was hier nicht der Fall war, und andererseits weil diese sich durch eine grob runde Form auszeichneten. Auch dies stimmte so nicht ganz. Nicht alle Gebäude wurden nach oben hin runder und spitzer, es gab auch welche, die immer breiter wurden oder sogar sich als Ganzes zur Seite neigten. Das alles machte auf ihn einen nicht unangenehmen, aber chaotischen Eindruck – Ausdruck eines Gespürs für Ästhetik, welches ihm fremd war.

Dennoch gab es starke Hinweise, dass es sich nichtsdestotrotz um eine Siedlung der Tkon handelte. Die Häuser wiesen keinerlei Fenster auf, da die Tkon zu den wenigen Völkern gehörten, die kein Bedürfnis hatten, nach draußen zu sehen. Aus dem gleichen Grund waren die Farben, welche in Silber und Blau glänzten, teilweise vermischt und ohne System angeordnet. Dies war auch logisch, da die Tkon einfach die Materialien benutzt hatten, welche ihnen sinnvoll erschienen und nicht, welche angenehm aussahen. Die Farbgebung war dabei rein zufällig entstanden.

Doch so sehr dieser Anblick ihn faszinierte, so wenig war er für die aktuelle Situation relevant. Zeit für Forschungen würde es vielleicht geben, nun ging es aber um die Sicherheit der Enterprise und im Endeffekt auch um die der bedrohten Kolonie.

Ehe er allerdings das weitere Vorgehen diskutieren konnte, erschien eine Gestalt auf der Brücke. Sie materialisierte sich nicht in einem erkennbaren Beamvorgang, sondern war einfach von einem Moment zum anderen da.

„Eindringlingsalarm“, schlug Worf heftig auf den Kommunikator an seiner Brust. „Sicherheitsdienst auf die Brücke!“

Auch Riker schnellte aus seinem Sessel hoch, stellte dann jedoch fest, dass von dem Neuankömmling keine unmittelbare Gefahr ausging.

Dieser Fremde war keine Kombination aller Anwesenden auf der Brücke.

Er war eine Darstellung von ihm.

Vielmehr eine Karikatur Picards.

Der Neuankömmling war groß und schlaksig, hatte einen Eierkopf. Die Nase ragte auffällig und übermäßig spitz aus dem Gesicht, in der Glatze spiegelte sich die Umgebung und reflektierte grell die Deckenbeleuchtung. Bekleidet war er mit einer Uniform, die rote und schwarze Querstreifen aufwies.

„Willkommen auf Neu Tkon“, säuselte der Fremde mit Picards Stimme, aber in einem Ton, der so schrecklich freundlich klang, dass er damit keineswegs freundliche Reaktionen zu erwarten hatte. „Ich bin die Raumhafenverwaltung. Wenn Sie einen Wunsch haben, dann wenden Sie sich bitte an mich.“

Zischend öffneten sich die Türen des hinteren Turbolifts der Brücke und Fähnrich Thalan sowie ein weiterer Sicherheitsoffizier traten ein. Mit einer Geste bedeutete Picard den beiden, nicht einzugreifen. Bei dieser Gelegenheit registrierte er am Rande Rikers missbilligenden Gesichtsausdruck. Zweifellos missfiel seiner Nummer Eins der unangekündigte Besuch der Raumhafenverwaltung. Möglicherweise spielte aber auch ein weiterer Aspekt eine Rolle. Obwohl Will deswegen keine Schlägerei anzetteln würde, missbilligte er wohl auch die äußere Erscheinung des Fremden.

Picard, der inzwischen auch stand, zog seine Uniform glatt und drehte sich wieder dem Neuankömmling um. „Ich bin Captain Jean-Luc Picard von der Vereinigten Föderation der Planeten.“ Er sah keinen Sinn mehr dahinter, sein Anliegen weiter hinter dem Berg zu halten. „Wir sind hier, um Nachforschungen über den Verbleib von Energie anzustellen, welche vom Zentralgestirn einer unserer Kolonien abgezapft wird.“

Der Repräsentant der Raumhafenverwaltung hatte seinen Kopf zwar inzwischen in Picards Richtung gewandt, seine Augen ruckten jedoch immer noch wahllos umher. Eine Reaktion in der Mimik war der Projektion – zumindest vermutete Picard, dass es sich um etwas Derartiges handelte – nicht anzusehen.

„Ich bedaure, aber die von Ihnen gewünschten Informationen liegen mir nicht vor“, flötete Picards Ebenbild. „Leider ist es mir zurzeit nicht möglich, eine Verbindung zur Stadtverwaltung herzustellen. Wenn Sie es wünschen, können Sie diese allerdings selbst aufsuchen und Ihre Anfrage dort wiederholen.“

Da Picard nicht ernsthaft eine sofortige Antwort gehofft hatte, war diese keineswegs die schlechtest denkbare. „Ja, das wünschen wir“, antwortete er in dem Bewusstsein, dass er vermutlich mit einem Computer sprach.

„Während der Quarantäne ist es Ihnen leider nicht gestattet, Ihr Schiff mittels eigener Materietransportvorrichtungen oder Vehikeln jeder Art zu verlassen. Ich kann für Sie aber eine Benutzung des öffentlichen Transportersystems anfordern.“

Neben dem Fremden tauchte plötzlich eine weitere Gestalt auf. Im Gegensatz zu ihren Vorrednern versuchte sie gar nicht erst ihre künstliche Natur zu verbergen. Sie stellte einen weitgehend stilisierten Menschen dar. Ein Übergang zwischen grauer Haut und grauer Kleidung war nicht zu erkennen. Ihr Gesicht wirkte wie eine starre, wenig detaillierte Maske aus Metallplast.

„Ich bin das öffentliche Transportsystem“, erklang eine tonlose Stimme irgendwo aus dem Inneren der Projektion. „Wie viele Personen wünschen Sie in die Stadtverwaltung zu befördern?“

Obwohl die Frage recht plötzlich auftauchte, konnte Picard sie ohne Zögern beantworten. Auch wenn sich ihm erst jetzt viele Details und Anforderungen erschlossen, sah er keinen Grund die Zusammensetzung des Teams zu ändern, für das er sich bereits entschieden hatte. „Vier“, antwortete er, fügte dem aber sofort hinzu: „Allerdings werden wir noch zehn Minuten für die Vorbereitungen benötigen.“

„Es besteht kein Grund zur Eile“, erwiderte das Transportsystem monoton. „Aus technischen Gründen ist ein Transport erst in einigen Minuten wieder möglich.“

Picard bemerkte, wie Riker hinter ihn trat. Es war stets sehr komfortabel, Riker an seiner Seite zu haben, der ihn unterstützte und ihm gewissermaßen Feuerschutz gab. „Was sind das für technische Gründe?“, fragte er nach.

„Die automatische Wartung, die zu Ihrer Sicherheit regelmäßig durchgeführt wird, erfordert nach jedem tausendsten Durchgang die Abnahme durch einen Techniker“, kam prompt die Antwort. „Der Techniker wird in wenigen Minuten erwartet, bitte haben Sie bis dahin etwas Geduld.“

Picard schwante Schlimmes. „Wie lange wird der Techniker schon erwartet?“

„Seit 542.874 Jahren.“

Riker ließ die kurzzeitig angehaltene Luft entweichen. Sie beide tauschten einen vielsagenden Blick aus. „Gibt es eine Alternative zu dem öffentlichen Transportsystem?“, fragte Riker dann mit strapazierter Geduld.

„Aber selbstverständlich“, wusste die Stadtverwaltung ihnen die frohe Kunde zu überbringen. „Es steht Ihnen frei, sich zu Fuß dorthin zu begeben.“ Erneut ohne einen Pieps des Schiffes wurde das Stadtpanorama durch eine Karte ersetzt. Picards Karikatur schritt auf den Schirm zu und hätte dabei fast Datas OPS Konsole gestreift, was nur aus dem Grund nicht eintrat, weil die Projektion einfach durch die Konsole hindurchschritt. „Dies ist das Hauptgebäude der Stadtverwaltung“, sagte sie und deutete auf einen blinkenden, bananenförmigen Klecks. „Wenn Sie weitere Fragen oder Wünsche haben, zögern Sie nicht, sich danach zu erkundigen.“

Dann waren die beiden Projektionen verschwunden.

Picard sah einen Moment auf den Bildschirm. Mit einem leisen Signalton verschwand die dort abgebildete Karte und Picard ging davon aus, dass sie in den Speichern des Schiffs von jetzt an abrufbar sein würde.

„Nun, die Lichter sind an...“, kommentierte er dann nachdenklich.

„Richtig, Captain. Nur ist keiner zu Hause“, vervollständigte Riker.

Data schwenkte seinen Sessel herum. „Sir?“, fragte er irritiert.

Picard hatte Data in solchen Lagen immer unterstützt und änderte daran auch jetzt nichts. „Das bedeutet“, erklärte er bedächtig, immer noch mit Nachdenken beschäftigt, „dass es so scheint, dass die Maschinen der Tkon bis heute funktionieren.“ Er trat einen Schritt nach vorn, wo nun wieder das Livebild der Stadt zu sehen war. „Sie halten den Betrieb aufrecht, warten sich selbst. Aber es ist keiner mehr da, der die Dienste der Maschinen benötigt.“

„Vielleicht gibt es gar keinen echten Grund für die Quarantäne“, schlug Riker vor. „Es könnte sich um eine Fehlfunktion handeln. Fünfhunderttausend Jahre sind eine lange Zeit.“

Picard nickte. Dies war ein weiterer Punkt, den sie herausfinden mussten. „Counselor?“ Er wandte sich in Richtung Troi um. Diese hatte sich beim Erscheinen der Fremden ebenfalls aus ihrem Sessel erhoben, aber das Geschehen aus der Distanz beobachtet. Erst jetzt fiel Picard auf, dass sie etwas bleich wirkte. „Geht es Ihnen gut?“, fragte er daher, plötzlich besorgt.

Deannas steinerne Mine lockerte sich zu einem kurzzeitigen Lächeln. „Sicher“, beteuerte sie. Wieder ernster fuhr sie fort: „In der Stadt vor uns spüre ich tatsächlich nichts“, bestätigte sie die aktuelle These. „Aber außerhalb...“ Sie kehrte zu ihrem Sessel zurück und setzte sich. Es schien ihr gut zu tun.

Picard respektierte den Wunsch der Counselor ihrem Unwohlsein bis auf Weiteres keine Beachtung zu schenken. Um ihr dennoch etwas Zeit zu geben, ging Picard ebenfalls langsam zu seinem Sessel und setzte sich. „Sind es die gleichen Empfindungen wie zuvor?“, fragte er dann.

Troi sah ihn an. Auf dem Grund ihrer dunklen Augen lag Schmerz. Er wusste, dass sie sich recht gut vor Gefühlen abschirmen konnte, die sie nicht wahrnehmen wollte. Daher musste, was immer sie gespürt hatte, sie so stark getroffen haben, dass es noch immer nachwirkte. „Sie sind immer noch vorhanden“, erklärte sie leise, aber gefasst. „Aber in den Hintergrund getreten, je näher wir dem Planeten gekommen sind.“

Picard schwieg und beobachtete, wie sich ihre Züge allmählich verhärteten, als Troi innere wie äußere Barrieren errichtete. Als sie fortfuhr, tat sie es mit professioneller Distanz. „Die dominierenden Gefühle, die ich jetzt empfange, sind Leid“, bekundete sie. „Es handelt sich dabei nicht um körperlichen Schmerz, vielmehr um Verzweiflung. Die Gefühle stammen von sehr vielen Wesen, die sich in unserer Nähe, aber auch verteilt auf dem restlichen Planeten aufhalten. Wenn ich die Standards anlege, die für die meisten Kulturen gelten, würde ich einen Großteil von ihnen als suizidgefährdet ansehen.“

Zum zweiten Mal in wenigen Minuten schon stellte sich die Situation für Picard mit einem Mal anders dar. Hatte es eben noch so ausgesehen, als müsse man vereinfacht gesagt nur den Schalter zum Deaktivieren der Maschine zur Energiezapfung finden, schienen die Kolonisten von Trealor nunmehr nicht die einzigen zu sein, die Hilfe nötig hatten. Picard fragte sich, um wen es sich dabei handelte. Waren es Tkon? Tkon, die von ihren eigenen Maschinen vertrieben worden waren, die degeneriert waren und wieder in freier Natur hausten?

In Anbetracht der von der Counselor geschilderten prekären Situation fiel es ihm schwer, einfach in seinem Sessel sitzen zu bleiben. Doch nun galt es, nichts zu überstürzen. Was sie benötigten, waren weitere Informationen. Noch immer schien ihm die erwähnte Stadtverwaltung der beste Ort zu sein, um diese zu erhalten.

„Nummer Eins, ich werde das Außenteam führen, welches sich in die Stadt begibt“, erklärte er kühl.

Picard hatte mit einer sofortigen Erwiderung gerechnet, die jedoch ausblieb. Was in Riker vorging, hätte er in diesem Augenblick nicht zu sagen vermocht. Dann lächelte seine Nummer Eins und grinste schließlich. „Ich schätze, ich hätte Sie als Experten anfordern müssen, wenn ich das Außenteam geführt hätte! Sie sind zweifellos der Beste für diese Mission.“

Picard konnte dem nur zustimmen, er hatte ähnliche Argumente bereits im Hinterkopf gehabt. Doch er erkannte, dass dies nicht alles war. Was Riker gesagt hatte, war zweifellos das, was in seinem Bericht stehen würde. Darüber hinaus gönnte Riker ihm diesen Einsatz. Nicht etwa, weil er ihm so oft zuvor Außenmissionen verweigert hatte. Dies war schließlich der Grund, warum er hier war, um ein kritisches Auge auf jede von Picards Entscheidungen zu haben. Nein, es ging darum, dass Riker wusste, wieviel Picard es bedeuten würde intakte Anlagen der Tkon zu besuchen, Geschichte nicht nur indirekt erahnen, sondern sie förmlich atmen zu können.

Ein dünnes Lächeln zeigte sich auf Picards Lippen und das Blitzen in Wills Augen zeigte ihm, dass sie sich verstanden.

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