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Sturm 9.02 - Nur die Zeit zum Feind

von Gabi

Die Zeit ist aus den Fugen

Kiras leises Fluchen galt nicht so sehr der Verwirrung durch den Sprung, denn so allmählich stellte sich etwas wie Routine ein, sondern der Tatsache, dass der Abstand dieses Mal geringer war und sie Probleme bekommen würden, die Ursache zu beseitigen, wenn sie immer häufiger die Zeitebenen wechselten.

Ein rascher Blick versicherte ihr, dass sie dieses Mal nicht auf der Promenade, sondern in ihrem Quartier gelandet war. Oder zumindest wirkte es auf den ersten Blick wie ihr Quartier, sie erkannte etliche persönliche Dinge von sich wieder. Doch die Aufteilung des Raums und das Vorhandensein von Türen an beiden Schmalseiten des Wohnbereichs, in welchem sie saß, sagten ihr, dass sie von einem Einzelquartier in ein Familienquartier umgezogen war. Ihr Puls begann zu rasen. Würde sie gleich einen Blick …? Durfte sie das überhaupt? Kira sprang von dem Sofa auf, auf welchem sie mit hochgelegten Beinen gesessen hatte. Das musste sie sehen! Ihr rascher Gang führte sie zu derjenigen der beiden Türen, welche in der Standardausführung der Familienquartiere das Kinderzimmer abtrennte. Doch bevor sie den Computer anwies, die Tür zu öffnen, verharrte sie. Wollte sie es wirklich sehen? Was, wenn das Kind nicht gesund zur Welt gekommen war? Was wenn es an Fehlbildungen litt, wenn etwas geschehen war, dass …?

Sie schalt sich eine Närrin. Bashir würde alles in seiner Macht Stehende tun, damit es ihrem Baby gut ging. Die Nervosität einer werdenden Mutter war ein wenig ungewohnt für die Bajoranerin.

„Computer, Tür öffnen“, flüsterte sie.

Die Tür glitt beiseite und gab den Blick auf Bareil Antos frei, der über ein Kinderbett gebeugt dastand. Auf Zehenspitzen näherte Kira sich der Szene. Bareil blickte auf, lächelte ihr zu und legte den Zeigefinger an die Lippen. „Sie ist gerade eingeschlafen“, flüsterte er.

Kira reckte sich, um an seiner Schulter vorbei auf das Bett sehen zu können. Ihr Inneres wollte sich bei dem Anblick auflösen. Ein Baby lag dort auf der Matratze, das Köpfchen mit dem dunklen Flaum in den Nacken gestreckt, die kleinen Fäuste locker neben dem leicht geöffneten Mund. Die Augen waren geschlossen, der Atem ging ruhig und gleichmäßig.

Kira spürte das unwillkommene Brennen in ihren Augen. Das hier war ihr Baby! Es sah wunderschön aus. Am liebsten hätte sie es aus dem Bett genommen und an sich gedrückt. Doch sie konnte sich zurückhalten.

„Kommst du mit rüber?“, hauchte Bareils Stimme an ihrem Ohr. Er hatte sich aufgerichtet und war auf dem Weg in den Wohnbereich.

„Ich komme gleich“, erwiderte sie. „Ich muss noch schauen.“ Voller Ehrfurcht kniete sie neben dem Bett nieder und presste ihr Gesicht an die Gitterstäbe. Ihr Baby! Zu gerne hätte sie Antos nach dem Namen gefragt, doch das hätte ausgesprochen seltsam geklungen. Sie konnte es kaum abwarten, bis sie es in ihrer eigenen Realität im Arm halten durfte. Immerhin schien das ihre Befürchtung zu entkräften, dass die temporalen Sprünge dem Embryo etwas anhaben konnten, falls sie tatsächlich innerhalb einer Zeitlinie sprangen und nicht automatisch auf Parallelschienen wechselten, um keine Paradoxien auszulösen.

Schweren Herzens löste sie sich schließlich von dem wundervollen Anblick. Sie bedauerte es ein wenig, dass sie nicht an einen Moment gesprungen war, in welchem das Baby wach war. Sie wollte gerne wissen, wie die Geburt gewesen war, wie das Baby sich machte, ob es ruhig schlief oder ihnen die Nacht zum Tag geriet, und wie Bareil sich in die Vaterrolle fügte, in welcher sie ihn sich eingestandenermaßen gar nicht vorstellen konnte. Alles Fragen, deren Antworten ihrem hiesigen Ich bekannt waren und die sich daher verboten zu stellen.

Als sie den Wohnbereich betrat, hatte Bareil es sich bereits auf dem Sofa bequem gemacht, auf dem sie vorhin aufgetaucht war. Auf dem Couchtisch hatte er zwei gefüllte Gläser bereitgestellt und eine Schüssel mit Knabbereien. Die Art, wie er sich gab, schien anzudeuten, dass er sich hier zuhause fühlte. Offensichtlich hatte er sie irgendwie dazu bekommen ihn einziehen zu lassen, was sie eigentlich nicht vorgehabt hatte. Die Hormone in der Schwangerschaft führten teilweise zu ungewöhnlichen Reaktionen und wahrscheinlich auch zu viel zu viel Nachsicht. Immerhin sagte ihr die Situation jedoch, dass sie noch zusammen waren. Dies war ein Punkt, dessen Kira sich nie sicher war.

Bareil erhob sich halb, als sie sich näherte, umschlang ihre Körpermitte und zog sie mit sich hinunter auf das Sofa. „So, jetzt entspannt die Mama“, ordnete er an, drückte ihr das Glas in die eine Hand und steckte ihr einen leicht gewürzten Brotchip in den Mund.

„Ich habe die milden genommen, wegen dem Stillen, du …“

* * *


„… sondern im Inneren.“

Kira blinzelte zwei Mal. Der Wechsel war ihr dieses Mal abrupter erschienen, weil sie aus einer so ruhigen Szene herausgerissen worden war. O’Briens Haltung, sein Blick auf die Graphik und sein soeben beendeter Satz sprachen dafür, dass Kira dieses Mal zum nahezu zeitgleichen Punkt zurückkehrte, an dem sie auch gesprungen war.

„Prima! Jetzt ist Julian weg“, stöhnte Dax. Wo der Mediziner eben noch an der Modellgleichung gearbeitet hatte, prangte Leere.

„Diese Sprünge haben keine gemeinsame Form“, sagte Kira. „Ich war gerade eben wieder weg, bin aber genau zum Zeitpunkt des Sprungs wieder hier aufgetaucht, so dass hier keine Zeit vergangen ist.“

„Das dürfte wegen mir jedes Mal passieren“, bemerkte Benteen. „Wir müssen die Quelle finden und neutralisieren, bevor wir handlungsunfähig werden.“

„Ich glaube, wir brauchen kein Gehirn für höhermathematische Gleichungen mehr.“ O’Brien war aufgestanden und an den Bildschirm herangetreten. „Computer, Vergrößern von Ausschnitt D5. Da!“ Er deutete mit dem Finger auf den herausgezoomten Bereich, um den herum sich die roten Punkte, welche die betroffenen Personen anzeigten, massierten. „Das ist der Hilfsgenerator in Sektion siebzehn. Nach welcher Funktion die Chronitonpulse sich ausbreiten ist für die Ursachenfindung sekundär. Die Quelle liegt hier.“

Kira runzelte die Stirn, dieser Abschnitt, welcher über ein Panel im Habitatring zugänglich war, kam ihr sehr bekannt vor. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie dort einen Techniker in die Leitungstunnel geschickt, um die Energiezufuhr dieses Generators zu den Phaserbänken zu kappen, damit es Commander Benteen nicht gelang, das Wurmloch mit dort erzeugten Chroniton … Sie stockte, als sich ein Bild abzuzeichnen begann. Sie atmete tief durch und nickte in die Runde. „Commander Benteen machen Sie eine stationsweite Durchsage, dass sich alle nichtessentielle Crew und die Zivilisten für die Dauer des Problems in die Randbereiche der Graphik begeben sollen. Ich werde jemanden von der Sicherheit zum Tempel schicken, damit Prylar Egil den Drehkörper ebenfalls auslagert.“ Sie betrachtete kurzfristig die schematische Stationsdarstellung auf dem Monitor. „Frachtraum sieben scheint ein guter Ort zu sein.“

Auf Benteens fragenden Blick fügte sie hinzu: „Die Drehkörper reagieren sehr empfindlich auf Chronitonpartikel. Chief!“, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Chefingenieur, nachdem Benteen ein wenig abseits getreten war, um ihre Durchsage zu formulieren. Sie fürchtete sich ein wenig vor der Antwort auf die nächste Frage: „Wieso können in diesem Generator Chronitonen entstehen?“

„Können sie eigentlich nicht“, begann O’Brien, dann stockte er und schlug sich mit der Hand an die Stirn: „Verdammt! Das ist der Hilfsgenerator, den ich mit dem Zufluss der Deflektorenergie gekoppelt habe, um die Partikel während der Eruption des Wurmlochs zu erzeugen.“

„Aber ich habe doch die Energiezufuhr kappen lassen.“

„Diejenige zu den Phaserbänken.“ O’Brien wirkte nachdenklich. „Es sieht so aus, dass die Weiterleitung der Partikel gestoppt worden ist, nicht jedoch deren Entstehung.“

„Was heißt, dass sie seit ein paar Wochen unablässig aufgebaut werden und nun die kritische Konzentration erreicht haben?“ Dax berührte nachdenklich ihr Kinn. „Klingt plausibel.“

„Wie konnte das unbemerkt geschehen?“ Kiras inquisitorischer Blick galt natürlich wieder dem Chief.

„Tut mir leid, Colonel. Wir hatten die letzten Wochen dermaßen viel mit den Reparaturen hier zu tun, wir kamen gar nicht auf die Idee, die Hilfsgeneratoren in nicht beschädigten Bereichen zu überprüfen. Ich werde mich sofort mit meinen Leuten auf den Weg machen.“

„Tun Sie das. Wie korrigieren wir das Problem?“

„Wir müssen die Zuleitung zu den Phaserbänken wiederherstellen …“

„Das ist noch nicht gemacht worden?“

„Es steht auf der Prioritätenliste weiter hinten.“ O’Brien hasst es, wenn er in eine Verteidigungsposition wegen seiner Arbeit geriet. Den Arbeitsplan des Technik-Teams hatte er mit Commander Benteen gemeinsam erarbeitet und sich von ihr absegnen lassen. Die strukturellen Schäden an der Station waren so groß, dass alles, was die Außenhülle und die Lebenserhaltung betraf, vorrangig behandelt worden war. Er hatte nicht genügend Techniker, um einen solchen stationsweiten Großeinsatz in ein paar Tagen über die Bühne zu bringen.

„Commander Benteen, gehen Sie auf die OPS und stellen Sie sicher, dass nur diejenigen Phaserbänke vom Generator gespeist werden, die vom Himmelstempel fort …“

Kiras Worte klangen noch nach, als O’Brien sich einem leeren Raum gegenüber sah.

Mit lautem Fluchen stellte er über Interkom ein Team zusammen und machte sich dann auf den Weg in Richtung der Quelle ihrer Probleme. Es war nicht zu übersehen, dass die Pulse rascher und heftiger kamen. Darauf zu warten, dass alle zusammentrafen, um Entscheidungen zu fällen, war zeitlich nicht mehr machbar.

* * *


Kira riss den Ärmel vor das Gesicht, um den Qualm daran zu hindern in ihre Nase zu dringen. Die Augen zu Schlitzen verengt versuchte sie auszumachen, wo sie sich befand, und was geschehen war. Als sie sich an die trübe Umgebung gewöhnt hatte, konnte sie bekannte Strukturen der Promenade ausmachen. Mit Ausnahme eines Trupps von Sicherheitspersonal, welcher in einiger Entfernung vorbei eilte, war das sonst so belebte Herz der Station leer. Kira konnte versengte Wandbereiche erkennen, hier und da waren Streben eingestürzt, Außenstände der Läden lagen zerbrochen. Es konnte sich nicht um die Auswirkungen der Himmelstempelexpansion handelt. Diese hatten die Außenhülle und strukturelle Bereiche der Ringe getroffen, nicht den Kern. Das hier sah eher nach einem Angriff aus dem Inneren aus.

Ein Husten ließ sie herumfahren. Sie konnte die Gestalt Erika Benteens erkennen, welche sich über einen Trümmerbereich zu ihr vorarbeitete. Im Gesicht der Sternenflottenoffizierin glaubte sie diejenige Verwirrung ausmachen zu können, die ihr ein wenig temporale Indiskretion erlaubte.

„Commander, Zeitsprung?“, begrüßte sie daher ihre rechte Hand, in der Annahme, dass eine uneingeweihte Person mit dieser Bemerkung rein gar nichts würde anfangen können.

Benteens Augen weiteten sich, als sie die Hand aufgrund eines erneuten Hustenanfalls vor den Mund führte. „Zeitsprung!“, bestätigte sie heiser. „Was ist hier passiert?“

Kira zuckte mit den Schultern. „Ich bin genauso lange hier wie Sie. Es sieht so aus, als ob wir auch in Zukunft keine ruhige Zeit vor uns haben.“

„Wie weit sind wir in der Zukunft?“

Kira schenkte ihr ein schräges Grinsen. „Dürfen wir das überhaupt wissen, Commander? Temporale Direktive und so …“

Benteen betrachtete sie irritiert. „Ich …“, Ihre Irritation löste sich in ein verschämtes Lächeln auf, „… bin mir nicht sicher.“

„Am besten bleiben wir hier sitzen und tun rein gar nichts, bis wir wieder zurückkehren“, bestimmte Kira, doch ihr Herz lag nicht hinter ihrer Aussage. Ihr Blick suchte bereits nach dem nächstgelegenen Stationsterminal …

* * *


„Es reicht!“ Kira ließ die flache Hand geräuschvoll auf die Tischplatte knallen. Außer ihr befanden sich noch der verwirrt aussehende Lieutenant Nog im Raum und der nachdenkliche Dr. Bashir. Sie wollte gar nicht wissen, was diese beiden Offiziere soeben erlebt hatten. „So kommen wir nicht voran. Die Sprünge treten immer häufiger auf.“

Bashir nickte nachdenklich. „Ich schätze, dass die betroffenen Bereiche über kurz oder lang völlig aus der Phase geraten, wenn wir die Chronitonen nicht sofort ableiten können. Was eigentlich kein Problem sein sollte …“

„… wenn wir lange genug in der selben Zeit verbringen würden“, bestätigte Kira wütend.

„Colonel“, Lieutentant Nog stand immer noch vor der Monitorgraphik, „ich bin mir nicht sicher, inwiefern Chief O’Brien Erfolg hat, wenn er sich der Chroniton-Quelle nähert.“ Er deutete auf die hellrote Wolke auf der Graphik. „In diesem Bereich dürften die Aufenthalte in der Normalzeit immer kürzer und unwahrscheinlicher werden. Die Technikzentrale im Andockring“, ein weiterer Fingerzeig auf die Graphik auf einen Bereich, in welchem die tentakelartigen Ausläufer des Phänomens schwächer waren, „ist weiter entfernt. Wenn Sie gestatten, würde ich dorthin gehen und sehen, ob ich dem Chief von dort assistieren kann.“

„Eine ausgezeichnete Idee, Lieutenant. Machen Sie sich unverzüglich auf den Weg.“ Kira schlug auf ihren Kommunikator, während der Ferengi aus dem Raum eilte. „Kira an O’Brien!“ Mit einiger Erleichterung hörte sie die Stimme des Chiefs auf ihren Ruf antworten. „Miles, Nog wird sich mit dir von der Technikzentrale aus in Verbindung setzen, um als Backup zu fungieren.“

„Sehr gut, ich habe das Ge…“

„Kira an O’Brien! Verdammt!“ Sie wirbelte zu Bashir herum. „Julian, du bleibst bitte hier, um die anderen zu informieren, wenn sie wieder auftauchen. Benteen soll sich unbedingt zur OPS aufmachen, keiner der Phaser darf auf den Himmelstempel ausgerichtet sein.“ Während Bashir nickte, erhob sie sich und eilte ebenfalls zur Tür. „Ich mache mich auf den Weg nach Frachtraum sieben, damit wenigstens einer von uns den Einsatz von einem Punkt aus koordinieren kann, der nicht ständigen temporalen Verzerrungen ausgesetzt ist.“

„Wie lange das so bleibt, ist jedoch ungewiss“, gab Bashir mit einem Blick auf den Monitor zu bedenken. Zwischen den letzten Sprüngen hatten sich die Chroniton-Tentakel stets ein wenig weiter ausgebreitet.

„Das ist zwar richtig“, gestand Kira ein, „doch für den Moment ist es der sicherste Ort, wenn ich kein Runabout nehmen möchte.“

* * *


„Beeil dich, Miles, wir kommen sonst zu spät!“

O’Brien nahm mit einem raschen Rundumblick die wichtigsten Fakten auf: eigenes Quartier, der Dekoration nach zu urteilen aus seiner zweiten Stations-Zeit nach dem Dominion-Krieg, Keiko, die von Frisur und Alter ziemlich genau so wirkte wie in seiner eigenen Realität. Der diesmalige Sprung war nicht allzu weit geraten. Am Hals zwickte es ein wenig, was ihn dazu veranlasste, an sich hinunter zu blicken. Er trug die weiße Galauniform der Sternenflotte, die aus einem ihm unbekannten Grund bei fast jedem, den er kannte, eine halbe Nummer zu klein ausfiel. Ein weiterer Blick auf seine Frau zeigte ihm, dass diese ebenfalls in weiß gekleidet war. Er hatte Keiko noch nie in Weiß gesehen, nicht einmal bei ihrer Hochzeit. Als er ihre Augen sah, deren Ränder noch deutlich die Spuren vergossener Tränen zeigten, wurde es ihm mit einem Mal wieder klar, welche Bedeutung dieser Farbe im Kulturkreis seiner Frau zukam. Er schluckte schwer, während sich ein gewaltiger Druck auf den Brustbereich zu legen schien.

„Keiko“, flüsterte er. Er streckte die Hand nach ihr aus, welche diese dankbar erfasste. Das Lächeln, das sie ihm dabei so tapfer schenkte, verriet ihm, dass sie kurz davor stand, erneut in Tränen auszubrechen.

„Lass es uns hinter uns bringen.“ Ihre Stimme war nur ein Hauch.

Unwillkürlich verstärkte er den Druck seiner Finger. Sein hastiger Blick zeigte ihm keine Spur von Molly oder Yoshi. Es würde doch nicht …? Jetzt spürte er den Stich in den eigenen Augen, hervorgerufen alleine durch die Ungeheuerlichkeit dieser Möglichkeit. Er wagte nicht zu fragen, denn in dieser Zeit wusste er.

Mit rasendem Herzen, Keikos Hand nicht für eine Sekunde loslassend, trat er mit ihr auf den Korridor hinaus. Die wenigen Personen, denen sie auf ihrem Weg begegneten, zeigten ähnlich betretene Mienen, kein lautes Wort, kein Lachen hallte in den Gängen wider. Die gesamte Station schien sich in ein dunkles Tuch der Melancholie gehüllt zu haben.

O’Briens Kehle wurde zunehmend trockener, als sie sich ihrem Bestimmungsort näherten. Wie er bereits vermutet hatte, steuerte Keiko mit ihm auf die Offiziersmesse zu, jenen Raum, der auf der Station am ehesten einer Versammlungshalle glich. Die Türen öffneten sich auf ihre Annäherung hin und gaben den Blick auf einen bis in die letzten Winkel mit Personen gefüllten Saal frei. Der lange Besprechungstisch war mitsamt aller Stühle entfernt worden. Stattdessen thronte auf einem Sockel eine Bahre in der Mitte des Saals.

Als O’Brien die im Tod vollkommen entspannten Züge gewahrte, begannen zwei widerstreitende Gefühle in ihm zu kämpfen. Die schuldige Erleichterung, keines seiner Kinder vor sich zu sehen, machte nach kurzem, heftigen Aufflackern Platz für das Übelkeit bereitende Entsetzen, als ihn die Realität traf.

„Nerys …“ Das krächzende Wispern ging in den leisen Instrumentalklängen unter, welche die gespenstische Szenerie untermalten. Neben ihm begann Keiko erneut zu weinen.

Die bajoranische Kommandantin ruhte auf einer maulbeerfarbenen Decke, gewandet in fließenden Stoff aus Braun- und Grüntönen, welche O’Brien in seiner Zeit hier auf Deep Space Nine als typisch bajoranisch kennengelernt hatte. Ihr kastanienbraunes Haar lag glänzend gebürstet in einem Schleier um ihr bleiches Gesicht.

Es konnte nicht sein, es war nicht möglich …

Er riss seine Augen von dem unfassbaren Bild los und betrachtete die Versammlung um die Bahre herum. Galauniformen der Sternenflotte wechselten sich mit ihren Gegenstücken des bajoranischen Militärs ab. Die OPS-Mannschaften der vier Schichten waren vertreten, ebenso einige Zivilisten, die Colonel Kiras Weg begleitet hatten. Jedoch konnte er keinen Vertreter der bajoranischen Geistlichkeit erkennen, was ihn zu der Annahme brachte, dass es sich hier nur um eine erste Abschiedsfeier handelte, bevor sie nach Bajor überstellt wurde.

Sein ungläubig umherschweifender Blick blieb am schmerzverzerrten Gesicht Bareil Antos‘ hängen. Der dunkelhaarige Mann hatte die Anwesenden offensichtlich ausgeblendet, während er auf die Gestalt der Kommandantin starrte. Einzig seine Hand bewegte sich von Zeit zu Zeit, um das Baby auf seinem Arm zu streicheln. O’Briens Augen weiteten sich. Das bajoranische Kind war noch kein Jahr alt, sein Kopf mit den großen, nahezu schwarzen Augen müde an die Schulter Bareils gelehnt. Es war unverkennbar, wer der Vater war … und wer die Mutter.

Als Commander Benteen einen Schritt vortrat, um mit der offiziellen Rede zu beginnen, starrte O’Brien wieder auf Kira. Hiervon würde er ihr nicht berichten … niemals!

* * *


Obwohl ihn die Zeitsprünge mittlerweile nicht mehr unvorbereitet trafen, brauchte O’Brien dieses Mal länger, bis er sich wieder in der ihm angestammten Realität einfand. Der Schock des soeben Erlebten war ihm durch Mark und Bein gefahren. Er hatte gehofft, dass er sich lange genug in der zukünftigen Zeitlinie aufhalten konnte, um einen Hinweis auf das Datum zu erhalten. Doch so unvorbereitet er in die Trauerfeier hineingeraten war, so übergangslos war er noch vor Ende von Benteens Rede wieder herausgerissen worden.

Was sollte er Kira sagen? Dass sie ein Kind von Bareil bekommen würde? – das ging ihn nichts an. Dass sie sterben würde, noch bevor dieses Kind ein Jahr alt wurde? Und dann? Er konnte ihr nicht sagen, wann das geschehen würde, oder auch nur im Entferntesten wie. Alles, was er damit erreichte, wäre sie zu ängstigen. Darüber hinaus konnte niemand sagen, ob das, was sie hier erlebten, überhaupt ihrer eigenen Realität entsprach.

Er sah sich um. Die beiden Techniker, die mit ihm zusammen auf dem Weg zur Quelle der Chronitonen waren, zeigten eine ähnliche kurzzeitige Desorientierung wie er. O’Brien checkte rasch ihren Standort. Sie hatten noch ein Stück Weg vor sich.

„Ich schlage vor, wir rennen. Irgendwie müssen wir schneller als die Zeit sein, wenn wir etwas auf die Reihe bekommen wollen.“ Die anderen beiden nickten, packten ihre Gerätekoffer fester und spurteten los. Nach ein paar Sekunden meldete sich O’Briens Kommunikator.

„Chief, hier ist Nog. Ich bin jetzt in der Technikzentrale. Sind Sie vor Ort?“

„Wir sind auf dem besten Weg. Schauen Sie, ob Sie die Energieentladung aus der Ferne umleiten können. Ich fürchte jedoch fast, dass wir die Leitungen manuell umstecken müssen, wenn ich Colonel Kira richtig verstanden habe.“

„Aye, Chief, ich werde sehen, was …“

Mehr konnte O’Brien nicht verstehen, als sich erneut die Umgebung um ihn herum änderte.

* * *


Kira hatte es mit nur einem Zwischensprung, bei welchen sie sich erneut mit Jadzia Dax hatte unterhalten können, zum Frachtraum sieben geschafft. Immerhin hatte ihr Jadzia bestätigt, dass ein Phaseraustoß in die Weite des Alls mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr Problem lösen würde. Auf Kiras Bedenken hin, ob zu diesem Zeitpunkt nicht alle Personen, welche sich in anderen temporalen Ebenen befanden, dort strandeten, hatte die Wissenschaftsoffizierin sie beruhigen können. Dax‘ Erfahrung nach würden sich die Zeitlinien bei Abschalten des Chronitonbeschusses augenblicklich normalisieren, mit allen Personen, die dazu gehörten. Es hatte gut getan, wieder mit ihrer alten Freundin sprechen zu können, die jedem Problem noch etwas Gutes abgewinnen konnte.
Mittels ihres Autorisationscodes hatte sie über das Terminal im Frachtraum Zugriff auf die Funktionen auf OPS erhalten. Der kleine Monitor zeigte ihr nun den Überblick über die Kommandozentrale von schräg oben. Das Herz der Station lag weit näher an der Entstehungsquelle der Chronitonpartikel als es der Besprechungsraum oder gar ihr jetziger Aufenthaltsort tat. So war sie bereits zweimal Zeugin geworden, wie sich Offiziere in Nichts aufgelöst hatten und kurz darauf wieder auftauchten. Von der all-überblickenden Position ihrer Monitorkamera aus konnte sie zeitnah die Aktivitäten koordinieren, wenn eine Person, welche an der Phaserausrichtung arbeitete, verschwand. Ziel war es, lediglich diejenigen Phaser mit Energie zu beschicken, welche vom Himmelstempel fort zeigten. Doch Kira wollte in dieser instabilen Situation kein Risiko eingehen und ließ alle Offensiveinrichtungen so weit wie möglich wegdrehen.

Erleichtert sah sie, wie der Turbolift auf der OPS hielt und Commander Benteen ausspuckte.

„Gut, dass Sie da sind, Commander“, sprach sie in die Kommunikationseinheit des Terminals. „Ich überwache momentan die Aktivitäten von Frachtraum sieben aus. Ich kann Ihnen sagen, es ist nahezu ein Hochgefühl, mehr als nur ein paar Handgriffe am Stück erledigen zu können, ohne sich andauernd wannanders zu befinden.“

Benteen bestätigte mit einem für sie ungewohnten Lachen. So allmählich lagen die Nerven aller Stationsbewohner blank. Zwar hatten sich die Zeitsprünge bisher nicht gefährlich für Leib und Leben erwiesen, doch die Psyche rief mittlerweile laut nach einer Auszeit.

„Dann benötigen wir nur noch das Okay vom Chief, um diesem Spuk hier ein Ende zu bereiten.“

„Lieutenant Nog an OPS“, war die Stimme des Ferengi über das Interkom zu vernehmen.

„Sprechen Sie“, erwiderten Kira und Benteen nahezu zeitgleich.

„Ich habe die Umleitungen, soweit ich das von hier aus bewerkstelligen kann, durchgeführt und reinitialisiert. Der Knackpunkt scheint jedoch in einer mechanischen Komponente zu liegen. Die direkt vom Generator abführende Leitung muss neu gesteckt werden. Ich habe hier keine Möglichkeit zur Umgehung.“

Kira nickte reumütig. „Wir hatten keine Zeit, ich habe einfach die Verbindungsstecker ziehen lassen. O‘Brien“, ließ sie die interne Verbindung neu aufbauen. „Wie sieht es aus?“

„Ich habe den Kontakt mit dem Chief verloren. Ich glaube, er befand sich noch nicht am Generator“, ließ sich Nogs Stimme in das Schweigen des Chefingenieurs hinein vernehmen.

„Lieutenant Nog, schicken Sie noch zwei Trupps zum Generator aus mit genauen Anweisungen, was zu tun ist“, ordnete Kira an. „Irgendjemand muss es doch schaffen durchzukommen.“

* * *


O’Brien packte reflexartig das Geländer vor sich, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er stand auf der oberen Galerie in einem der mehrere Decks überspannenden Frachträume. Er tippte auf Nummer sieben, zehn oder elf. Die anderen Frachtlager dehnten sich lediglich über ein Deck aus. Verwirrt blickte er sich um. Was machte er hier? Als sein Blick den Raum verließ und an sich selbst hinab glitt, wurde die Verwirrung noch größer. Er trug nicht die erwartete Gerätetasche bei sich, sondern einen Phaser. Diese Waffe gehörte nicht zu seiner Standardausrüstung an einem normalen Arbeitstag. Als er Stimmen auf dem unteren Deck hörte, ging er ohne darüber nachzudenken in Deckung.

„Bleiben Sie dicht bei mir.“ Auch wenn die Worte geflüstert waren, klangen sie in der Halle unnatürlich laut. Sie gehörten eindeutig Julian Bashir. Der Hinterkopf des Arztes kam nun in O’Briens Sichtfeld. Auf Schulterhöhe folgte ihm eine zweite Person, welche in ein Cape gehüllt war. Der Art der Bewegung nach zu urteilen tippte O’Brien auf eine Frau. Die Verwunderung des Chefingenieurs steigerte sich, als er erkannte, dass Bashir ebenfalls eine Waffe in der Hand trug. Die wenigen Situationen, in welchen er Bashir mit einer Waffe gesehen hatte, müsste er sich mit Kraftanstrengung ins Gedächtnis rufen. Es wirkte ausgesprochen anachronistisch. Der Arzt würde doch nicht nach ihm …? Für einen kurzen Moment lief es O’Brien kalt den Rücken hinunter, als er sich vorstellte, dass sie irgendwann in der Zukunft in eine Situation geraten könnten, in welcher Julian und er sich als Gegner gegenüberstehen würden. Doch dann hob Bashir den Kopf, ließ den Blick fast unauffällig über die Galerie streifen und nickte mit leichtem Lächeln, als er O’Brien bemerkte, der ihn immer noch nachdenklich aus seiner geduckten Hocke heraus anstarrte. Gut, es war also beabsichtigt, dass er sich hier oben in Stellung befand, um … was?

Dann kam ihm die Erkenntnis. Sie mussten sich auf dem Holodeck befinden in einer von Bashirs Abenteuergeschichten, in welchen er den wagemutigen Helden gab, der die Frau in Not rettete. O’Brien hatte gedacht, dass Bashir diese Freizeitbeschäftigung aufgegeben hatte, seit er mit Ezri zusammen war. Ezri würde doch nicht …? Ungewollt kam ihm erneut das Bild der wächsernen Kira vor Augen. Es würde doch nicht noch einen Todesfall geben? O’Brien wollte nichts mehr von der Zukunft wissen, wenn sie solch trübe Aussichten bereit hielt. Dann wiederrum: Warum trugen sie ihre Uniformen, wenn sie sich in einem Holoabenteuer befanden? Und warum sollte Bashir eine so langweilige Umgebung wie einen der großen Frachträume kreiert haben? Er blickte weiterhin auf die beiden Gestalten unter sich. Etwas anderes konnte er im Augenblick nicht tun. Er war eindeutig als Hinterhalt gedacht, ob auf dem Holodeck oder in der Realität. Also würde er ausharren, auf was auch immer.

Ein leises Geräusch ließ ihn aufhorchen. Bashir und die verhüllte Gestalt bewegten sich weiter als hätten sie nichts gehört. O’Brien stutzte. Wenn er es vernommen hatte, dann müsste Bashir es ebenfalls gehört haben, es sei denn …

Er wandte langsam den Kopf – und starrte direkt in die Öffnung eines Disruptors. „Nette Idee, einen Hinterhalt aufzubauen, doch nicht gut genug.“

* * *


Die Verweildauer in dem, was O‘Brien in seinen Gedanken noch immer als Realität bezeichnete, hatte sich auf ein paar Schritte verkürzt. Es wurde immer klarer, dass er keine Möglichkeit finden würde, zum physikalischen Zentrum der temporalen Anomalie vorzustoßen. Die Zeit selbst arbeitete im wahrsten Sinn des Wortes gegen ihn. Er hatte nur eine Chance, und selbst diese war minimal.

Es war der zehnte oder zwölfte Sprung - O’Brien hatte die Übersicht verloren. Seine gesamte Konzentration war daraufhin ausgerichtet, innerhalb kürzester Zeit in Erfahrung zu bringen, wann er sich nach dem jeweiligen Sprung befand. Die Aufenthalte in der Realzeit wurden immer knapper, diejenigen in den entsprechenden Zeitverschiebungen erschienen ihm länger zu werden. Darauf setzte er seine gesamte Hoffnung, als er ohne auf ihn umgebende Personen zu achten, mit der freien Hand den Kommunikator berührte und den Stationscomputer nach dem Datum fragte. Während er der Antwort lauschte, nahmen seine Augen die Umgebung wahr. Er hielt einen EPS-Spanner in der Hand und kniete vor einem nichtfunktionierenden Backup des Lebenserhaltungssystems.

Endlich! Bei diesem Sprung endlich passte die Zeit! Ohne darauf zu warten, dass seine logischen Überlegungen in Gang kamen, übernahmen seine Reflexe. Er sprang auf und begann zu rennen. Die überraschten Rufe von Teamkollegen, die ebenfalls mit Reparaturen beschäftigt waren, und von arglosen Passanten, die er unsanft beiseite schob, ignorierte er vollständig. Er würde sich später entschuldigen … Nein, das war ein falscher Gedanken, gebunden an eine lineare Zeitabfolge. Er würde sich gar nicht entschuldigen, wenn alles gut ging.

Im Laufen orientierte er sich, wo er sich befand, hetzte um Biegungen, rempelte Personen um, überquerte eine Kreuzung. Noch eine, nur noch eine! Er musste es einfach schaffen! Seine Oberschenkelmuskeln begannen zu protestieren. O’Brien trieb zwar regelmäßig Sport, doch das Laufen gehörte nicht zu seinen bevorzugten Disziplinen. Seine Lunge begann sich ebenfalls zu melden und alles in ihm verlangte danach, eine kurze Pause einzulegen, um wieder zu Luft zu kommen.

Später! Später würde er sich ein warmes Bad gönnen, einen ruhigen Nachmittag auf der Couch – später.

Hier war es. O’Brien nahm sich nicht die Zeit abzustoppen. Noch mit dem Schwung des Dauerlaufs warf er sich gegen das Wandpanel, bekam die Verriegelungseinheit zu fassen und riss die Platte mit sich, als seine Schulter den Korridorboden berührte. Er ignorierte auch den Schmerz, welchen der ungebremste Sturz ausgelöst hatte und erlaubte stattdessen dem kurzzeitigen Hochgefühl über diesen Präzisionssprung sich breit zu machen. Die Tasche ließ er im Korridor stehen, als er sich in den engen Zugang drückte. Dank Kiras Beschreibung wusste er genau, nach was er suchen musste. Er erblickte die lose baumelnde Verbindung, packte sie mit der einen Hand, den dazugehörigen Verteilerstecker mit der anderen und …

* * *


… stolperte, als er sich erneut rennend auf dem Weg zum Habitatring wiederfand. Aus tiefster Brust stieß O’Brien einen Fluch aus, den er niemals in Gegenwart seiner Kinder über die Lippen bringen würde. Die Leitung hatte den Stecker berührt. Hatte er es geschafft? Oder …

Erneut änderte sich die Umgebung, als sich O’Brien mit dem Paddel in der Hand in seiner Lieblingsholosimulation wiederfand.

* * *


Zeitgleich mit dem Intercom-Ruf konnte Kira die Veränderung an ihren Anzeigen in Frachtraum sieben erkennen.

„Die Phaserbänke bekommen Energie von Generator…!“

Kira erkannte auf dem Übersichtsdisplay, dass derjenige Offizier, der die Meldung gemacht hatte, bereits wieder verschwunden war. Die Situation auf OPS, welche näher an dem entsprechenden Generator lag als die entgegengesetzt liegenden Frachträume des Dockrings, hatte sich in den letzten Minuten rapide verschlechtert. In einem fort verschwanden und erschienen die diensthabenden Offiziere an ihren Stationen. Die dadurch entstehende Konfusion machte manche von ihnen extrem träge in ihren Reaktionen. Selbst Kira hatte noch einen Sprung durchgemacht, in welchem sie eine recht ereignislose Stunde auf ihrem alten Posten als Erster Offizier auf OPS durchlebt und fingernagelkauend darauf gewartet hatte, wieder zurückzukehren. Sobald die Chronitonpulse eine Stärke erreichten, welche die gesamte Station im Kern der Ereignisse umschloss, waren sie handlungsunfähig. Gezwungen für den Rest ihrer Tage haltlos in der Zeit zu springen, darauf hoffend, dass von außen Hilfe kam, oder dem Generator die Energie zur Erzeugung der Chroniton-Partikel ausging.

Kira gönnte sich einen kurzen Blick über die Schulter. In einer Nische zwischen zwei hohen Containern standen Prylar Egil und die Akolythen, welche auf der Station Tempel-Dienst taten, den Reliquienschrein mit der Träne der Propheten sicher zwischen sich bewachend. Die Augen des Prylar ruhten auf Kira und verfolgten ihre Handlungen. Als der Geistliche bemerkte, dass sie ihn anblickte, schenkte er ihr ein aufmunterndes Nicken. Kira erwiderte es mit einem erleichterten Lächeln. Das war das Schöne an den Vertretern ihres Glaubens. Sie alle schien eine unendliche Ruhe auszuzeichnen, aus welcher sie Kraft schöpfen konnte.

„Sind die Phaser ausgerichtet?“, fragte sie bereits zum fünften Mal innerhalb der letzten halben Stunde.

„Phaser sind ausgerichtet.“ Benteens Stimme fehlte die genervte Komponente, die sich normalerweise in ihrem Ton widerspiegelte, wenn sie das Gefühl bekam, ihre Vorgesetzte würde sie zu sehr kontrollieren. Sie alle gingen im Moment lieber einmal zu viel auf Nummer sicher. Keiner konnte sagen, was sich zwischen den Sprüngen in welcher Zeit veränderte.

„Chief …“ Erneut erhielt Kira keine Antwort. In den letzten Minuten war es unmöglich geworden, den Chefingenieur zu erreichen. Er schien sich in permanenten Sprungphasen zu befinden.

„Lieutenant Nog?“

„Sir!“, reagierte wenigstens die Stimme des Ferengi aus der Technikzentrale augenblicklich.

„Steht der Energiefluss?“

„Soweit ich das von hier sehen kann, ja, Colonel. Einer der Trupps muss durchgekommen sein. Auch wenn ich keine Rückmeldung von ihnen erhalte.“

Kira nickte. „Feuer!“

„Feuer“, hörte sie ihren Befehl von Commander Benteen über die OPS-Übertragung wiederholt. Um die taktische Station hatten sich mehrere Offiziere in leichtem Abstand versammelt, so dass sofort ein Ersatz bereit stand, wenn ein Teil von ihnen von einem der Chroniton-Tentakel erwischt wurde.

Auch wenn Chroniton-Partikel für das bloße Auge nicht sichtbar waren, starrten alle auf den Hauptmonitor, welcher eine gesamte Wand der Kommandozentrale einnahm. Auch Kiras Blick war über den kleinen Monitor im Frachtraum darauf fixiert. Der Anblick des Alls veränderte sich nicht.

„O’Brien an Kira.“

Ihre Erleichterung war so groß, dass Kira mit einem hellen Auflachen den Ruf entgegennahm. „Miles, was bin ich froh, dich zu hören!“

„Hat der Energiefluss funktioniert?“

„Ich gehe davon aus, da ich mich gerade mit dir unterhalten kann, ohne dass du nach dem zweiten Wort bereits wieder wannanders bist. Wie habt ihr das geschafft?“

Der Galgenhumor des Iren war unüberhörbar. „Das richtige Timing ist alles.“

* * *


Die Sprünge hatten tatsächlich aufgehört. Die Erleichterung, die das auslöste, war immens und von vielen noch nicht wirklich als real empfunden. Jeden Moment wurde eine weitere Zeitversetzung erwartet. Julian Bashir und Ezri Dax hatten in den Nachwehen alle Hände voll zu tun. Die Führungsoffiziere waren noch einigermaßen auf dem Laufenden gewesen, doch für alle anderen hatte es lediglich zwei stationsweite Durchsagen gegeben, der Rest bestand aus einem haltlosen Chaos an sich verändernden temporalen Umgebungen. Manche der Ereignisse, deren sie Zeuge geworden waren, ließen etliche Bewohner der Station nach der ersten Entwarnung geradewegs das Büro der Counselor aufsuchen. Seit den schlimmsten Phasen des Dominion-Kriegs hatte sich Ezri Dax nicht mehr so vielen Patienten gegenüber gesehen.



O’Brien fand Kira vor einem der großen Aussichtsfenster auf dem oberen Promenadendeck. Sie gönnte sich noch einen Moment der Ruhe, bevor sie in einer Viertelstunde mit Commander Benteen beginnen würde, die Berichte der vergangenen Stunden zu sichten und in einen einigermaßen linearen Bericht zu bringen.

„Gerade noch mal gut gegangen“, bemerkte der Ire, als er sich neben seine Kommandantin stellte. „Sollten wir die Prioritätenlisten für Reparaturen im Fall von stationsweiten Schäden abändern?“

Kira zuckte mit den Schultern. „Das war ein solch unwahrscheinlicher Sonderfall. Ich bin eher dafür, dass wir nicht mehr versuchen Chronitonen zu erzeugen.“

„Dem stimme ich zu. Wir hatten jetzt genug Ärger mit diesen Partikeln. Sobald ich wieder Luft in meiner Abteilung habe, werde ich dafür sorgen dass alle Hilfsgeneratoren mehr als nur eine Ableitung erhalten. Es ist lächerlich, dass die Stationssicherheit an einer einzelnen Steckverbindung hängen kann.“ Wie Kira wandte er sich ebenfalls der unspektakulären Aussicht zu. Einen Moment schwiegen beide.

Die Kommandantin blickte hinaus, wo die Chronitonpartikel sich in den Weiten des Alls zerstreuten und auf ihrem Weg vielleicht ein paar Mikrosysteme kurzzeitig durcheinanderbrachten, bevor sie ihre gesamte Energie abgegeben hatten. Ein wenig Bedauern lag in ihrem Blick. So irritierend die temporalen Verschiebungen gewesen waren, sie hatten ihr immerhin für eine kurze Zeit die Möglichkeit eröffnet, verlorene Freunde wiederzusehen und ihr wunderschönes Baby kennenzulernen. „Ich hoffe, ein paar der Ereignisse, deren wir in der Zukunft Zeuge geworden sind, treffen tatsächlich ein“, flüsterte sie.

Ungewollte drängte sich Kiras totenbleiches Gesicht auf der Bahre in O’Briens Bewusstsein. „Ich hoffe nicht, Nerys, ich hoffe nicht.“

Erstaunt blickte sie in seine ungewohnt ernste Miene und wartete auf eine Erklärung. Doch O’Brien schwieg.



ENDE (zumindest in dieser Zeitlinie)

Demnächst: 9.03 – Hymne der Nacht: DS9 erhält endlich einen neuen Wissenschaftsoffizier, der sich zu Kiras großer Freude hobbymäßig mit bajoranischer Kultur und Religion beschäftigt. Keine Frage, dass Lieutenant Gaheris aus diesem Grund bereits in seiner ersten Woche seine Kommandantin und den Kai zu einer Feierlichkeit einer bislang abgeschottet lebenden bajoranischen Glaubensgemeinschaft begleiten darf. Was als gemütlicher Abend bei Tanz und Wein beginnt, endet natürlich bald im Chaos – insbesondere für den Kai von Bajor.
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