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The Bonds We Share

von Mijra

The Bonds We Share - Another Story

*+..+*+..+* The bonds we share – Another story *+..+*+..+*
von Mijra



*+..+*+..+* September 2373

Unsicher starrte er auf die Kommunikationseinheit. Auf die Liste mit ungelesenen Nachrichten, die in grellem Grün aufleuchteten, als würden sie um seine Aufmerksamkeit kämpfen. Sein Postfach war voll davon – und seit geraumer Zeit kam er nie dazu, alle Nachrichten durchzugehen. Aber eine Nachricht stach besonders aus der Flut von Service Berichten, News Lettern und offiziellen Nachrichten von Starfleet Medical hervor.

Er starrte auf den Absender der Nachricht ohne zu blinzeln, bis ihm die Tränen in die Augen traten. Einen schrecklich langen Moment saß er nur da, während sein Herz so laut klopfte, dass er alles andere um sich herum vergaß. Doch dann riss er sich vom Bildschirm los, stieß einen langen und tiefen Atem aus – und fuhr die Kommunikationseinheit herunter. Er war sowieso schon spät dran. Und er hatte eine Verabredung einzuhalten. Eilig stand er auf und warf einen flüchtigen Seitenblick auf den Chronometer. Es war bereits nach Mittag. Er unterdrückte ein Fluchen und griff nach seiner Uniformjacke, bevor er aus seinem Quartier eilte.

Er würde zu spät kommen. Schon wieder.

Halb lief, halb rannte er entlang des Habitatrings, bis er schließlich auf die Promenade hinaustrat und seine Verabredung zum Mittagessen an einem der freien Tische im Replimat sichtete.

„Es tut mir leid, Garak!“, entschuldigte er sich noch während er sich seinen Weg durch das wartende Sternenflottenpersonal bahnte. Als er sich schwer auf den freien Stuhl gegenüber des cardassianischen Schneiders fallen ließ, warf er einen flüchtigen Blick in die Runde um zu beurteilen, wie gut seine Chancen standen, sich hinter all den wartenden Leuten anzustellen und sein Mittagessen noch vor dem Anfang seiner neuen Schicht zu bekommen. Düster sah er ein, dass sie nicht besonders gut standen.

„Nicht der Rede wert, Doktor”, zog Garak eine Augenbraue beim Anblick des jungen Mannes nach oben. Dem halb leeren Teller mit Kulba Eintopf nach zu urteilen, hatte er schon vor geraumer Weile bestellt. Julian konnte es ihm nicht verübeln. Sie waren vor einer halben Stunde verabredet gewesen. „Verzeihen Sie mir bitte die offene Bemerkung, aber Sie sehen in letzter Zeit sehr abwesend aus. Darf ich fragen, was los ist?“

Julian warf ihm einen verwirrten, argwöhnischen Blick zu. „Was meinen Sie?“

„Wenn ich mich nicht verzählt habe, ist es heute das dritte Mal in Folge, dass Sie zu spät zu unserem Mittagessen erscheinen. Es würde mich ja nicht stören, wenn Sie einfach meiner Gesellschaft überdrüssig wären, aber ich bezweifle, dass das der eigentliche Grund ist“, kommentierte Garak in seiner beiläufigen, dennoch aufmerksamen Art.

Julian schüttelte betroffen den Kopf. „Es tut mir leid, Garak. Es ist nur…“, setzte er an, hielt dann jedoch inne.

Es ist nur… ja was genau eigentlich? Er wusste, dass er in letzter Zeit nicht er selbst war. Zumindest nicht seit dem Vorfall mit Dr. Zimmerman vor knapp einer Woche. Aber wer konnte es ihm verübeln? Er fühlte sich noch immer unwohl in der Gegenwart anderer, nun da alle von der Katastrophe Wind bekommen haben mussten, die ihren Lauf genommen hatte, als Dr. Zimmerman ihn als Modell für das neue Langzeit MHN Programm auserkoren hatte. Es fühlte sich so an, als würden alle auf der Station vorgeben, dass alles in bester Ordnung war, während Julian ihre forschenden Blicke in seinem Rücken spürte, jedes Mal, wenn er über die Promenade ging. Ihre neugierigen Blicke, die ihn von Kopf bis Fuß musterten. Ihr Flüstern hinter seinem Rücken. Er musste sie noch nicht einmal dabei erwischen, wie sie ihn anstarrten, um zu wissen, dass ihn jeder beobachtete. Manchmal fand er es verstörend. Und nicht selten wünschte er sich, die Ereignisse der letzten Woche wäre nie geschehen.

Er seufzte und rieb sich über die Augen.

Er fühlte sich in letzter Zeit so müde. Oder vielleicht hatten ihm die Geschehnisse der letzten Tage auch nur mehr abverlangt, als er bereit war, sich einzugestehen.

Garak sah ihn weiter aufmerksam an, als würde er noch immer auf die Antwort des jungen Mannes warten. Als Julian jedoch entschieden schwieg, stieß sein Gegenüber einen Seufzer aus. Es war ein leichter Seufzer, in dem mehr Sympathie als Resignation mitschwang. „Lassen Sie mich raten. Die Ereignisse der letzten Woche beschäftigen Sie noch immer?“

Julian versuchte Garaks fragendem Blick auszuweichen. Er war nicht wirklich schwer zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, dachte er bitter bei sich. Doch dann schüttelte er nur den Kopf. „Ich habe heute Morgen einen Anruf von einer alten Freundin bekommen…“, meinte er ausweichend, nicht sicher, warum er Garak überhaupt davon erzählte. Dem Gesichtsausdruck des Cardassianers nach zu urteilen, schien dessen Interesse jedoch geweckt.

„Nun, dann verstehe ich das Problem nicht“, zuckte Garak nur mit den Schultern, während seine tief blauen Augen Julian weiterhin beobachteten. Manchmal, selbst nach all den Jahren, schaffte es Garaks stechender Blick noch immer, ihn aus der Fassung zu bringen. Es war so, als könnte Garak direkt in sein Innerstes sehen.

„Sie ist eine Freundin von der Akademie. Wir haben damals die gleichen Kurse besucht. Sie ist Ärztin geworden, genau wie ich“, bot Julian mit einem Stich von Melancholie an. „Wir…“, fing er an, zögerte dann jedoch, bevor er leise hinzufügte: „…standen uns einmal sehr nahe.“

Garak schien unbeeindruckt, als er einen Löffel Eintopf aß. „Also wenn Sie so gute Freunde sind, wie Sie sagen, dann verstehe ich wirklich nicht, wo das Problem liegt.“

Julian schüttelte den Kopf. „So einfach ist es nicht…“

„Oh, mein lieber Doktor, verbessern Sie mich, wenn ich falsch liege, aber Sie setzen sich einfach vor die Kommunikationseinheit, drücken auf Verbinden und…“

„Garak!“

Einen bedrückend langen Moment saßen sie sich schweigend gegenüber. Bis Garak schließlich das Wort ergriff. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass sie nichts von ihrem genetisch erweiterten Hintergrund wusste?“

Julian wich seinem Blick aus. Hatte sie es gewusst? Natürlich nicht. Keiner seiner Freunde hatte es gewusst. Und genau darin lag das Problem.

„Nun, Chief O’Brien hat bis vor kurzem auch nichts davon gewusst und das letzte Mal, als ich Sie beide in der Holosuite gesehen habe, war er immer noch Ihr Freund“, bot Garak nachdenklich an. „Und falls es Sie irgendwie tröstet: ich habe auch kein Problem mit dem Vorgefallenen.“

„Das ist etwas anderes…“

„Ist es das?“

Julian schüttelte den Kopf. Fast gegen seinen Willen glitten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Es lag schon so lange zurück, dass es ihm vorkam wie in einem anderen Leben. Es war so viel während der letzten fünf Jahre passiert seit sie die Akademie verlassen hatten. Aber er erinnerte sich noch immer an jene gemeinsamen Tage als wäre es gestern gewesen. Jene Zeit war so sehr ein Teil von ihm, dass er bezweifelte, sie jemals vergessen zu können. Obgleich sich ihre Wege so weit voneinander geführt hatten, dass sie kaum noch die Gelegenheit hatten, sich zu treffen, verspürte er jedes Mal eine gewisse Wärme im Herzen, wenn er an die sieben Jahre zurück dachte, die sie zusammen verbracht hatten. Immer, bis auf heute. Bei der Erinnerung an seine Freunde wurde ihm schlecht. Denn etwas war geschehen. Etwas, von dem er nicht wusste, ob er es jemals wieder gut machen konnte.

„Es tut mir leid, Garak, aber ich glaube, ich sollte jetzt lieber gehen“, meinte er in einer plötzlich brüchigen Stimme, als er sich eilig erhob. Von einem Augenblick auf den anderen kam ihm der ganze Ort so gedrängt und laut vor. „Entschuldigung für das verpasste Mittagessen. Ich verspreche, ich werde es wieder gut machen!“

Er drehte sich schnell genug weg, bevor Garak ihn noch weiter aushorchen konnte – nur um fast in Lieutenant Dax hineinzulaufen. Er hatte sie gar nicht bemerkt.

„Julian! Ich habe schon nach Ihnen gesucht“, rief sie überrascht. Dann verzog sich ihr Mund zu einem schelmischen Grinsen. „Ich habe ein paar tolle Neuigkeiten!“

Er hielt den Blick zu Boden gerichtet, darauf bedacht, sein Gesicht zu verbergen, während er sich an ihr vorbei schob.

„Es tut mir leid, Jadzia. Können wir ein anderes Mal darüber reden?“ Und damit ließ er beide wortlos im Replimat zurück.

Er sah weder den verdutzen Ausdruck auf Jadzias Gesicht – noch das nachdenkliche Stirnrunzeln Garaks – als er sich in das geschäftige Treiben der Promenade flüchtete.

*+..+*+..+*

Er stürmte geradezu in die Krankenstation, lief auf kürzestem Weg in sein Büro und verriegelte die Tür hinter sich. Er wusste nicht, warum ihm die ganze Sache so viel ausmachte. Er wusste, dass Garak Recht hatte. Es ging doch nur darum, die Nachricht zu beantworten und die Situation zu erklären. Alles was geschen war, war schließlich seine Schuld. Er hatte immer gewusst, dass früher oder später die Wahrheit ans Licht kommen würde. Und mehr als nur einmal hatte er darüber nachgedacht, was wohl seine Freunde und Kollegen sagen würden, wenn es geschah. Eigentlich musste er nur die Zähne zusammenbeißen und sich der Wahrheit stellen. Warum nur brachte er es einfach nicht übers Herz die Nachricht zu beantworten?

Er ließ sich schwer auf den Schreibtischstuhl fallen – und vergrub das Gesicht in den Händen. Nur am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, dass seine Hände zu zittern begonnen hatten.

Weil genau das geschehen war, vor dem er sich all die Jahre so sehr gefürchtet hatte.

All die Zeit hatte er die Wahrheit verdrängt; all die Jahre, die er mit ihnen verbracht hatte, sie angelogen und vor ihnen verschwiegen hatte, was er ihnen eigentlich schon vor langem hätte sagen sollen. All die Zeit hatte er versucht, sich selbst zu schützen; das ständige Gefühl von Schuld und die Gewissensbisse zu verdrängen. Und nun hatten sie dennoch die Wahrheit erfahren. Er konnte sich kaum vorstellen, was für ein Schock es für sie gewesen sein musste. Sie hatten so viel miteinander geteilt; sich all die Jahre so nahe gestanden. Und nun hatten sie erfahren, dass alles nur eine Lüge war. Dass er sie all die Zeit lang angelogen hatte.

Verzweiflung drohte ihn zu überwältigen, und seine Hände ballten sich zu Fäusten.

Als er Garak gesagt hatte, dass es etwas anderes war, war es ihm ernst gewesen. Denn die Verbindung, die sie teilten, war eine ganz andere als die Freundschaft, die er mit Chief O’Brien hatte – oder auch Garak. Sie waren zusammen aufgewachsen. Sie hatten sich so nahe gestanden, wie Freunde es nur konnten. Sie hatten so viel zusammen durchgestanden; einander vertraut.

Einander vertraut.

Seine Stirn sank auf den Tisch, als er verzweifelt versuchte, Herr seiner Gefühle zu werden.

Er hätte es ihnen sagen sollen. Schon vor Jahren. Einmal mehr drohte die schwere Last der Reue ihn zu erdrücken. Mit bitterer Klarheit musste er sich jedoch eingestehen, dass es dafür nun zu spät war. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen; die Fehler, die er einst begangen hatte, nicht ungeschehen machen. Vielleicht war das der Grund, warum er sich so sehr davor fürchtete ihnen gegenüber zu treten, nun da die Wahrheit ans Licht gekommen war.

Er schloss fest die Augen, und versuchte sich zu beruhigen.

„Sisko an Dr. Bashir.“

Der plötzliche Ruf durchdrang die Stille seines Büros wie ein Donnerschlag, und ließ Julian überrascht auffahren.

Einen bangen, langen Moment überlegte er, den Ruf einfach zu ignorieren, riss sich dann jedoch zusammen. „Bashir hier. Was ist passiert, Captain?“ Er betete darum, seine Stimme würde in den Ohren des Captain nicht so unsicher klingen wie in seinen eigenen.

„Es tut mir leid, Sie zu stören, Doktor. Aber können Sie ein paar Minuten erübrigen, in mein Büro zu kommen?“

Julian verfluchte das perfekte Timing. Er wusste, dass er in jenem Moment einen schrecklichen Anblick bieten musste. „Oh… I-ich… eigentlich habe ich gerade zu tun. Aber ich könnte vielleicht… in einer halben Stunde da sein?“

„Es tut mir leid, Julian. Ich brauche Sie jetzt. Es ist ein Notfall.“

Julian schluckte, erhob sich aber sogleich. „Ich bin auf dem Weg. Bashir Ende.“

*+..+*+..+*

Er betrat das Büro des Captain mit dem Medikit fest in der Hand. Er wusste, dass ein kurzer Abstecher ins Badezimmer die Erschöpfung auf seinem Gesicht nicht vollkommen verbergen konnte. Als er in den Spiegel geblickt hatte, war er bei seinem eigenen Anblick zusammengefahren und hatte darum gebetet, dass Captain Sisko in der eher schwachen Beleuchtung seines Büros nicht nachhaken würde, warum sein erster medizinischer Offizier aussah, als wäre er von den Toten auferstanden.

Mit einem kurzen Blick durch das Büro versuchte Julian zu erfassen, welcher Notfall wohl auf ihn warten würde. Doch das einzige, was auf ihn wartete, war der vertraute Anblick des Captain hinter seinem Schreibtisch. Sisko saß zurückgelehnt im Stuhl, den Baseball in der Hand.

„Wo ist der Notfall, von dem Sie gesprochen haben?”, fragte Julian leicht verwirrt mit einem weiteren unsicheren Blick in die Runde.

Sisko erhob sich und kam um den Tisch. Selbst wenn er den blassen und erschöpften Ausdruck in Julians Gesicht bemerkt hatte, so verkniff er sich ganz offensichtlich eine Bemerkung.

„Genau hier“, sagte der Captain bestimmt, als er dem jungen Mann einen Arm um die Schulter legte und ihn zur Couch an der Seite des Raumes dirigierte. Als Sisko ihm bedeutete, sich zu setzen, gehorchte Julian; noch immer verwirrt mit dem Medikit in der Hand, völlig unsicher, was er von der Situation halten sollte.

„Heute Morgen habe ich einen Anruf einer gewissen Person erhalten, die mir gesagt hat, dass es sehr wichtig für sie wäre, mit Ihnen in zu sprechen“, fing der Captain in seiner typischen, beunruhigenden Stimme an, die wenig von dem verriet, was er in jenem Moment wirklich dachte. „Sie hat mir erzählt, dass sie seit Tagen versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, aber dass Sie auf keine ihrer Nachrichten antworten“, meinte Sisko mit hochgezogener Braue. In seiner Stimme schwang ein leiser Unterton von Sorge mit.

„Aber, Sir“, platzte es aus Julian hervor, der nicht wusste, wie ihm geschah.

„Sie hat große Mühen auf sich genommen, Sie zu kontaktieren. Und ich denke, Sie sollten sich anhören, was sie zu sagen hat.“ Sisko sah in eindringlich an.

Und schließlich fing es Julian an zu dämmern. Es musste ein schlechter Witz sein. Sisko wollte ihm doch nicht wirklich sagen… Er fühlte sich, als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten. Doch dann schritt der Captain hinüber zum Kommunikationseinheit und aktivierte den Bildschirm, bevor der junge Mann die Gelegenheit hatte, die Flucht zu ergreifen.

„Ich bin wirklich nicht…“, stotterte Julian und erhob sich, bis Sisko ihn plötzlich unterbrach und eine Hand hochhielt; und damit jeglichen Protest des jungen Arztes im Keim erstickte.

„Sie werden sich anhören, was sie zu sagen hat. Und das ist ein Befehl“, meinte er schlicht und ignorierte dabei den halb erschrockenen, halb verstörten Blick seines ersten medizinischen Offiziers.

Julian sah ihn mit großen Augen an, aber ohne wirkliche Wahl, nickte er schließlich schwach.

„Lassen Sie sich Zeit. Ich werde draußen auf Sie warten“, meinte Sisko, bevor er sich umwandte und das Büro verließ. Julian sah ihm mit einem flauen Gefühl im Magen hinterher, sein ganzer Körper so angespannt, als würde jeden Moment etwas Schreckliches geschehen.

Nervös drehte sich Julian zum Bildschirm um und sah dabei zu, wie das Starfleet Logo durch ein verschwommenes Bild ersetzt wurde. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals und seine Hände waren schweißnass. Es passierte alles so plötzlich, dass er nicht einmal Zeit hatte, seine Gedanken zu sammeln. Er war sich nicht einmal sicher, was er sagen sollte. Mit pochendem Herzen, sah er dabei zu, wie der Bildschirm zum Leben erwachte. Die Person am anderen Ende musste den Anruf bereits in Empfang genommen haben.

Das erste, was er erkannte, war etwas – oder jemand – das sich vor der Kamera bewegte. Er hörte ein Kichern und im nächsten Moment eine sanfte Stimme: „Komm, Kleiner, geben wir deiner Mama mal zur Abwechslung ein paar freie Minuten.“ Und plötzlich wurde ihm klar, dass es ein Kleinkind war, das vor der Kamera stand. Er sah ein paar starke Hände das Kind in die Höhe und aus dem Kamerawinkel heben; dann eine Stimme: „Dank dir, Steven.“

Sein Herz schlug schneller.

Er kannte die Stimme. Und eine Sekunde später, grinste ein junger Mann in die Kamera, der ihm mit dem Kind in den Armen zuwinkte. „Sag hallo zu Onkel Julian.“

Steven… Irgendwoher kam ihm der Name bekannt vor. Sein Verstand versuchte fieberhaft herauszufinden, wo er den Namen schon einmal gehört hatte. Er wusste, dass er irgendwie vertraut klang…

Einen Moment später, sah er sie schließlich.

„Marin…“

Sie hatte sich nicht verändert. Sie trug ihr Haar noch immer offen über den schlanken Schultern und ihr Gesicht war noch immer so fein und sanft, wie er es in Erinnerung hatte. Mit einem Gefühl von Schuld, wurde ihm bewusst, dass er seit drei Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen hatte. Aber als er ihr Gesicht über Subraum sah, kam es ihm merkwürdigerweise vor wie gestern.

Sie blies die Wangen auf und musterte ihn mit gespielter Missbilligung. „Julian Bashir, du weißt schon, dass ich jetzt seit einer Woche versuche, dich zu erreichen, oder? Was hast du dir dabei gedacht, meine ganzen Anrufe zu ignorieren?“ Sie hielt seinen Blick für einige weitere Sekunden, bevor sich plötzlich ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. „Es tut so gut, dich endlich zu sehen, Julian!“

„Marin, wie hast du… ich meine… du hast meinen kommandierenden Offizier kontaktiert!“, stotterte Julian ungläubig trotz seiner Nervosität.

Die junge Frau grinste nur. „Du hast mir ja keine Wahl gelassen, oder? Übrigens scheint er sehr nett zu sein.“

Dann wurde ihr Gesichtsausdruck etwas ernster. Sie runzelte die Stirn, als suchte sie nach den richtigen Worten. „Julian…“, fing sie zögernd an.

Sie wusste Bescheid. Er konnte am Funkeln in ihren Augen sehen, dass sie von den Ereignissen mit Dr. Zimmerman gehört hatte. Großer Gott, der ganze Quadrant musste mittlerweile darüber Bescheid wissen. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Und sein Blick glitt beschämt zu Boden. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich es euch hätte sagen sollen. Und es tut mir leid, dass ihr es auf diese Weise erfahren musstet…”, platzte es aus ihm heraus, bevor Marin die Gelegenheit hatte, etwas zu sagen. Sein Herz hämmerte so schnell in seiner Brust, dass ihm der Atem fehlte und ihm flau im Magen wurde. So vor ihr zu stehen war schlimmer, als er es sich jemals ausgemalt hatte.

„Es tut mir so leid, Marin“, flüsterte er, so leise, dass er sich nicht sicher war, ob sie ihn überhaupt hören konnte. Aber alles andere als ein Flüstern erschien ihm in jenem Moment unpassend. Es war ein so beklemmender und bedrückender Moment, dass er sich wünschte, nie in Siskos Büro getreten zu sein.

„Julian“, hörte er ihre sanfte Stimme. „Sieh mich an.“ Er brauchte all seinen Mut, um zu tun, was sie verlangte. Doch als er den Blick hob, lächelte sie plötzlich. Es war ein Lächeln, das nur sie hatte. Traurig, und doch liebevoll. Wie in alten Zeiten. Erst in jenem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr sie ihm die letzten drei Jahre gefehlt hatte.

Die junge Frau nahm einen tiefen Atemzug. „Julian… wir haben es die ganze Zeit über gewusst.“

Die Worte kamen so unerwartet, dass er sich einen Moment nicht sicher war, richtig gehört zu haben. Julian sah sie verwirrt an. „Was… meinst du damit?“

„Die genetische Aufwertung“, lächelte sie traurig, und ein bisschen verlegen. „Ich weiß, du denkst wahrscheinlich wir haben es durch den Zwischenfall mit Dr. Zimmerman erfahren… aber die Wahrheit ist, dass wir es die ganze Zeit über wussten.“

Einen langen Moment konnte Julian nicht anders als sie wortlos anzustarren. „Was?“

Bis plötzlich eine weitere Stimme sich einmischte. „Hat dir nie jemand gesagt, dass du im Schlaf redest?“ Und mit klopfendem Herzen sah Julian die zweite Person, die vor die Kamera trat.

„Alan…“

Julian betrachtete völlig vor den Kopf gestoßen den Bildschirm. Da waren sie. Seine zwei Freunde. Wie in alten Zeiten. Er war von der unerwarteten Wendung der Dinge so überrascht, dass er wahrscheinlich aussah, als hätte sich gerade ein Wurmloch vor ihm geöffnet. „Aber… wie…?“, stotterte er.

Marin sah ihm tief in die Augen. „Julian, wir sind Freunde. Wir haben sieben lange Jahre fast jeden Tag zusammen verbracht. Es gibt Dinge, die man einfach merkt, wenn man jemandem so nahe steht.“

Er hatte mit vielem gerechnet – doch ganz sicher nicht damit. Ihm fehlten so die Worte, dass er nur auf den Bildschirm starren und versuchen konnte, den beiden zu folgen.

„Am Anfang waren wir uns nicht sicher“, gab Alan zögernd zu, als er sich neben Marin setzte. Er hatte sich auch nicht wirklich verändert. Aber allem Anschein nach hatte er die große Brille aufgegeben, die er damals auf der Akademie getragen hatte. Und er sah erwachsener aus, als das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten. „Zumindest nicht bis nach dem Zwischenfall mit Amos.“

Amos. Zum ersten Mal seit Jahren hörte er jenen Namen. Er fühlte einen merkwürdigen Stich im Herzen, nicht sicher, was es war. Aber fast gegen seinen Willen glitten seine Gedanken zurück in der Zeit, an einen weit entfernten Ort, viele Jahre zuvor. Der Zwischenfall mit Amos. Das Experiment. Er hatte geglaubt, dass er nach Jahren eines normalen Lebens über die Ereignisse hinweg war. Doch von einer Sekunde auf die nächste befand er sich wieder in jenem Labor. Er erinnerte sich an den Abend mit Amos – wie an all die darauffolgenden Tage auf der Intensivstation – als wäre es gestern gewesen.

Amos. Der Mann, der sein Leben auf eine Weise beeinflusst hatte, wie niemand anderes. Wie oft hatte er sich gefragt, was wohl aus Amos nach jener schrecklichen Nacht vor fast neun Jahren geworden war. Bis die Erinnerung an ihn mit den Jahren verblasst und schließlich in Vergessenheit geraten war. Überrascht wurde ihm bewusst, dass er seit einer langen Zeit nicht mehr an Amos gedacht hatte. Zumindest nicht seit er auf die Station gekommen war und ein neues Leben hier begonnen hatte.

Bei der Erinnerung an jene Zeit fühlte er ein seltsames Kribbeln.

Alan drückte seine Lippen zu einer ernsten Linie zusammen. „Erinnerst du dich noch an die Zeit, nachdem du aus der Krankenstation von Dr. Theissen entlassen wurdest? Du hattest solche Probleme nachts zu schlafen und bist die ganze Nacht aufgeblieben, weil du nicht schlafen konntest. Und selbst als du endlich eingeschlafen bist, war dein Schlaf unruhig und ruhelos. Manchmal bist du schreiend aufgewacht und ich habe versucht, dich zu beruhigen und dir klar zu machen, dass alles nur ein schlimmer Traum gewesen war. Ich weiß nicht, ob du dich an die Nächte erinnerst, in denen du schweißgebadet aufgewacht bist. Aber ich tue es. Und ich weiß noch, welche Angst du mir damals eingejagt hast.“ Alan holte tief Luft. „Ich meine, ich wusste, dass du zu jener Zeit viel durchgemacht hattest und dass dich der Unfall in Amos‘ Labor sehr mitgenommen hat. Aber ich wusste auch, dass etwas anderes mit dir nicht stimmte. Nur nicht was. Du hast mir immer wieder versichert, dass es dir gut geht. Aber ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Also bin ich zu Edwards gegangen und habe ihn um Hilfe gebeten.“

„Du hast dich an Edwards gewandt?“, schluckte Julian. Edwards. Er wusste, wie sehr sich Alan damals vor ihrem Lehrer gefürchtet hatte. Er konnte sich kaum ausmalen, wie eine Konversation zwischen den beiden wohl ausgesehen haben mochte.

„Er war der einzige, der mir in den Sinn kam. Er hat dich damals nach dem Unfall gefunden und er war es schließlich, der uns von Amos‘ Experiment erzählt hatte. Ich war überzeugt, dass er mehr über die Geschichte wusste, als er uns glauben lassen wollte. Ich habe ihm von deinen Problemen erzählt und dass ich dir nur helfen wollte. Aber das einzige, das er mir riet, war, für dich da zu sein. Er wollte mir nicht mehr verraten und hat mich nur gebeten, auf dich aufzupassen. Und in jenem Augenblick wusste ich definitiv, dass etwas nicht stimmte.“

Unsicher glitt Julians Blick von Alan zu Marin und zurück. Es fühlte sich seltsam an über Ereignisse zu sprechen, die vor so langer Zeit, in einem komplett anderen Abschnitt seines Lebens, geschehen waren. Er kam sich vor, als wären sie wieder Studenten. Als wären sie in der Zeit zurück gereist.

Alan rieb sich die Schläfe. „Und dann waren da noch die Zwischenprüfungen… Obwohl du fast vier Wochen Unterricht verpasst hattest, warst du wie immer Klassenbester. Jeder dachte nur, dass du dir einfach viel Mühe gegeben hast, den versäumten Stoff aufzuholen. Und jeder wusste ja, dass du ein außergewöhnlich begabter Student warst. Aber sie haben dich nicht allein in deinem Quartier gesehen. Sie haben dich nicht gesehen, wie du auf deinem Bett gesessen und stundenlang auf die gleiche Seite deines PADDs gestarrt hast; mit einem Ausdruck im Gesicht, der keinen Zweifel daran ließ, dass du eigentlich mit den Gedanken wo ganz anders bist. Sie haben nie den leeren Blick in deine Augen gesehen, wenn du geglaubt hast, niemand würde dich beobachten. Sie haben nie bemerkt, wie du dich nachts davongeschlichen hast während alle tief und fest schliefen, und Stunden in der Raquetballhalle verbracht hast bist du so fertig warst, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu finden.“

Julian sah Alan entgeistert an. Er hatte nicht gewusst, dass Alan es bemerkt hatte. Er hatte immer gedacht, er hätte sich still genug verhalten, als er seine Raquetballausrüstung genommen und auf Zehenspitzen durch den Raum geschlichen war. Er hatte immer geglaubt, Alan hätte tief und fest geschlafen. Aber er erinnerte sich an jene Nächte. Er erinnerte sich daran, wie sehr ihn die Ereignisse mit Amos mitgenommen hatten. Und er wusste auch, dass er die darauffolgenden Wochen nicht wirklich er selbst gewesen war. Er erinnerte sich daran, wie verzweifelt er versucht hatte, mit seinem Leben weiterzumachen. Und wie sehr es ihn geschmerzt hatte, niemandem die Wahrheit anvertrauen zu können. Doch als er nun darüber nachdachte, erinnerte er sich auch daran, wie sehr Alan und Marin damals für ihn dagewesen waren. Immer wenn er geglaubt hatte, unter der Erinnerung zu zerbrechen, waren Alan, Marin und Brigs für ihn dagewesen.

Alan kicherte auf einmal, als er sich verlegen durchs Haar fuhr. „Erinnerst du dich noch an den Tee, den meine Mutter uns immer von zuhause geschickt hat und den wir jeden Abend getrunken haben? Du willst nicht wirklich wissen, was da drin war…“

„Du hast mir Schlafmittel verabreicht?“, fragte Julian fassungslos.

„Nur in kleinen Dosen. Und nur am Anfang. Edwards’ Rat hat uns nicht wirklich geholfen und ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Du hast einfach so schrecklich ausgesehen. Und ich habe mir damals immer Sorgen gemacht, dass du eines Tages jemandem vor den Füßen zusammenbrechen würdest“, lachte Alan mit einem merkwürdigen Ausdruck von ehrlicher Erleichterung. Als ob er froh war, das Geheimnis nicht länger hüten zu müssen. Als ob er all die Jahre auf diesen einen Tag gewartet hatte; den Tag, an dem er Julian endlich die Wahrheit erzählen konnte.

„Eigentlich war es Marins Idee gewesen…“, gab der junge Mann mit einem verlegenen Grinsen zu, was ihm nur einen vernichtenden Blick von Marin einbrachte. „Sie war es ebenfalls, die zuerst auf die Idee kam, dass mehr hinter deinen Talenten steckte, als du damals vorgabst…“

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Du warst einfach so gut. Nicht nur nach dem Vorfall mit Amos. Du hast immer alles so gut gemeistert. Für den Unterricht lernen, dich mit Freunden treffen, dein Raquetball spielen, und dabei noch Klassenbester sein. Und dann war da noch der Vorfall mit dem kleinen Jungen im Botanischen Garten, erinnerst du dich?“, fragte sie mit einem Funkeln in den Augen, als ob sie jenen Tag noch einmal in ihrem Geiste durchlebte. „Ich habe damals dein Gesicht gesehen. Ich meine, es war das erste Mal, dass ich dein wahres Gesicht gesehen habe. Dein wahres Ich. Du warst so anders, so…“ Sie suchte nach den richtigen Worten. „…fähig. Es war für mich damals so, als hätte ich zum ersten Mal wirklich gesehen, zu was du in der Lage bist… Ich meine, wenn du dich nicht zurückhältst. Du warst damals so vollkommen anders.“

Alan lehnte sich mit einem Grinsen vor. „Oder erinnerst du dich daran, als wir den Aufsatz über die Eugenischen Kriege schreiben mussten? Du hast Marin damals so angefahren und warst so außer dir und niemand wusste, was mit dir los war.“

Julian schluckte. War es so offensichtlich gewesen? Mit einem flauen Gefühl im Magen fragte er sich unwillkürlich wie viele andere Personen es ebenfalls bemerkt hatten.

„Es waren kleine Dinge. Aber zusammen sprachen sie Bände über dich“, meinte Marin nachdenklich.

„Nachdem Marin mir ihre Vermutung anvertraut hatte, gingen wir zurück zu Edwards“, erklärte Alan. „Er wollte uns immer noch nicht die Wahrheit verraten. Erst als ich ihm sagte, dass ich nicht aufhören würde, Fragen zu stellen, nur weil er sie mir nicht beantwortete, schien er einzusehen, dass der Schaden bereits angerichtet war und dass er nur noch versuchen konnte, ihn in Grenzen zu halten.“

„Er hat uns die Wahrheit erzählt. Über dich und Amos.“ Marin schlang die Arme um den eigenen Körper und für einen kurzen Augenblick stahl sich ein schmerzhafter Ausdruck auf ihre Züge, den er nur zu gut kannte. Es war der gleiche Ausdruck wie damals, als sie ihn damals zum ersten Mal nach dem Vorfall mit Amos in der Krankenstation besucht hatte. Als ob ihr alles unsagbar leid tat. Als ob sie alles dafür gegeben hätte, die Dinge ungeschehen zu machen, wenn er sich dadurch nur besser fühlte.

„Aber warum habt ihr nie etwas gesagt?“, fragte Julian ehrlich verblüfft. Es war das erste, das ihm in den Sinn kam.

„Aus demselben Grund, warum du es nie erwähnt hast“, meinte Alan langsam. „Wir haben Edwards damals versprochen, dass wir nie ein Wort über die Sachen verlieren würden, die er uns erzählte. Wir mussten ihm versprechen, dass wir dich nie darauf ansprechen würden – bis du uns als erstes davon erzählen würdest. Es war hart. Aber nach allem, was du mit Amos durchgemacht hast, war das letzte was du damals brauchen konntest, dir darüber Sorgen zu machen, dass andere von deinem Geheimnis wussten – ob wir nun deine Freunde waren oder nicht.“

Julian fühlte eine Flut von Emotionen. Es kam alles so unerwartet. Er hätte nie gedacht… er hatte nie auch nur den Verdacht gehegt, dass…

„Es tut mir so leid, dass wir es dir nicht früher sagen konnten“, verzog Marin das Gesicht und schien mit ihren eigenen Gefühlen zu kämpfen. „Weißt du, als Dr. Zimmerman dich als Modell für sein neues Projekt auserkoren hatte, befürchteten wir, dass so etwas geschehen würde. Dass die Wahrheit irgendwie ans Licht kommen würde.“

Julian sah sie überrascht an. „Ihr… kennt Dr. Zimmerman?“

Marin schenkte ihm ein schiefes Lächeln. „Es ist schwer, ihn nicht zu kennen. Der Mann ist eine richtige Nervensäge und bestimmt niemand, mit dem du freiwillig zusammenarbeiten möchtest. Er arbeitet in der gleichen Abteilung auf der Jupiter Station wie Alan.“

„Du kannst dir also vorstellen, wie besorgt ich war, als ich von seinen Plänen erfuhr!“, platzte es aus Alan heraus, als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet, Julian davon zu erzählen. „Ich habe von seinem Projekt gehört und auch, dass er dich auf DS9 treffen wollte und als er mir den Fragebogen gezeigt hat, den er vorbereitet hatte…“

„Alan hat mich sofort benachrichtigt“, warf Marin dem jungen Mann an ihrer Seite einen amüsierten Blick zu. „Er war wie damals auf der Akademie. Du weißt schon, in seinem ersten Jahr, als er so nervös war, dass er keinen zusammenhängenden Satz auf einmal herausbrachte. Und noch dazu war es mitten in der Nacht. Er war so entsetzt, dass Dr. Zimmerman in deinem Privatleben herumschnüffeln könnte und hat sich solche Sorgen gemacht, dass er mehr herausfinden könnte und gemeint, dass wir ihn stoppen müssen. Ich denke, er hätte sogar Dr. Zimmermans Shuttle sabotiert, wenn ich ihn nicht davon abgehalten hätte.“

Julian saß auf der Couch in Siskos Büro, völlig unsicher, ob er lachen oder weinen sollte. Eines war sicher, das unerwartete Geständnis seiner Freunde hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht geworfen. In all den Jahren hatte er nie auch nur die Vermutung gehegt, sie könnten über die Wahrheit Bescheid wissen. Großer Gott, er hatte sich so gewünscht, ihnen endlich alles anzuvertrauen. Nur um nach all den Jahren schließlich herauszufinden, dass sie es längst wussten. Er fühlte sich, als stünde seine ganze Welt Kopf. Er war von der plötzlichen Wendung der Ereignisse so vor den Kopf gestoßen, als hätte ihn jemand ins Gesicht geschlagen. Aber selbst als er anfing, die Neuigkeiten zu verdauen und sich deren Tragweite bewusst wurde, fühlte er, wie eine schwere Last von seinen Schultern fiel. Es war, als erlaubte er sich nach all den Jahren das erste Mal, sich etwas zu entspannen. Das befreiende Gefühl trieb ihm Tränen in die Augen, weil er schon fast vergessen hatte, wie es sich anfühlte, ohne das ständige Gefühl von Schuld zu leben. Er hätte nie gedacht, dass er ihnen eines Tages so gegenüberstehen würde. Als er selbst. Als derjenige, der er wirklich war.

„Ich… habe es nie bemerkt“, gab er mit brüchiger Stimme zu, die mit einem Mal schwer von bisher verdrängten Emotionen war. „Ich habe mich damals so schuldig gefühlt, euch nicht die Wahrheit zu sagen. Aber ich konnte nicht… schon gar nicht nach allem was mit Amos passiert war…“

Alan schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Das gleiche gilt für uns. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich fühlte, als Dr. Zimmerman zurückkam und von seiner niederschmetternden Begegnung mit dir berichtete. Aber ich bin froh, dass es so gekommen ist. Ich bin froh, dass wir endlich darüber reden können. Ich bin so froh, wie sich alles entwickelt hat.“

Julian wischte sich fast unbewusst die Tränen aus den Augenwinkeln. Es fühlte sich so an, als würde eine schwere Last von ihm genommen, die er sein ganzes Leben mit sich herumgetragen hatte. Er lachte unwillkürlich, und eine einzelne Träne glitt ihm die Wange hinab, als er versuchte, seine aufschlagenden Gefühle unter Kontrolle zu halten. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er war so überwältigt, dass es ihn alle Mühe kostete, seine Fassung zu bewahren. Aber es fühlte sich gut an. Er konnte nicht beschreiben, wie gut es sich anfühlte.

Sie hätten noch weitere Minuten schweigend beieinander gesessen, wäre nicht in jenem Augenblick ein kleiner Junge vor die Kamera gelaufen, der kichernd vor Marins Füße stolperte.

„Julian, ich möchte, dass du jemanden kennenlernst…“ Mit einem liebevollen Lächeln nahm Marin das Kind nach oben und setzte es auf ihren Schoß. „Erinnerst du dich noch an meinen Sohn?“, strahlte sie, und winkte mit der Hand des kleinen Jungen in die Kamera.

Obgleich er noch immer mit seinen Gefühlen kämpfte, wurde Julian warm ums Herz bei dem Anblick des Kindes auf der anderen Seite der Subraumverbindung. „Wow, er ist so groß geworden! Ich meine, beim letzten Mal war er gerade einmal geboren”, sagte er voller Staunen und erinnerte sich an den Tag vor drei Jahren, als Marin ihn damals mit dem Neugeborenen in ihren Armen kontaktiert hatte. War es wirklich schon so lange her? Wo war die Zeit geblieben? „Er sieht aus wie du. Ich kann gar nicht glauben, dass das schon drei Jahre her ist…“ Und mit einem Stich von Nostalgie wurde ihm plötzlich bewusst, dass er genau wusste, wo die letzten drei Jahre geblieben waren. Sie war nur kein Teil davon gewesen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er versucht hatte, die verschiedenen Abschnitte seines Lebens auseinander zu halten. Wie sehr er versucht hatte, jemand anderes zu sein. Wie sehr er sich bemüht hatte, sein altes Leben – seine alten Freunde – von der Akademie hinter sich zu lassen, um ein neues Leben auf der Station aufzubauen; und dabei seine eigene Vergangenheit verdrängt hatte.

Er schüttelte den Kopf. Und es war in jenem Moment, da er den kleinen Jungen in Marins Armen sah, dass es ihm plötzlich wieder einfiel. „Marin… Ich habe gehört, wie ihr vorhin mit jemandem namens Steven gesprochen habt…“, begann er leicht unsicher.

Auf seine Worte hin, wurde das Grinsen der jungen Frau breiter. Sie blickte verschwörerisch zu Alan hinüber. Der junge Mann wurde sichtlich rot, doch dann lächelte er ein wenig verlegen. „Du kennst ihn, Julian. Ich habe dir damals von ihm erzählt, als wir noch auf der Akademie waren.“ Er schweig einen langen, vielsagenden Moment, bis er schließlich meinte: „Steven… ist meine Bruder.“

Julian sprang bei der Nachricht regelrecht von der Couch auf. Konnte es sein? War es wirklich möglich…?

„Alan…“

„Wir haben ihn vor drei Monaten zurückgebracht. Er steht noch unter medizinischer Beobachtung aber wir gehen davon aus, dass er sich mehr oder weniger vollständig erholen wird.“

„Herzlichen Glückwunsch! Das ist… das ist…“, stotterte Julian. “Das ist einfach großartig! Ich wusste, du würdest es schaffen! Ich wusste es einfach!“ Er hätte Alan umarmt, hätte er sich in jenem Moment nicht auf der anderen Seite des Quadranten befunden.

Alan grinste, ein Ausdruck offener Dankbarkeit auf seinen Zügen. „Ja, das hast du mir immer wieder gesagt. Und ohne dich hätte ich sicher schon vor langem aufgegeben.“ Alan schien nach Worten zu ringen. „Danke. Du und Marin, ihr beide habt mir die Kraft gegeben, durchzuhalten. Es war ein harter Weg und hat mich manchmal viel Zeit und Mut gekostet. Aber wir haben es geschafft. Ich kann es selbst immer noch gar nicht glauben…“

Einen lagen Moment saßen sie schweigend beieinander, getrennt durch die viele Lichtjahre zwischen ihnen. Aber in jenem Moment hätten sie sich nicht näher stehen können. Und schließlich konnte Julian nicht anders als zu fragen: „Habt ihr irgendetwas von Brigs gehört?“

Marin schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. „Nicht, seit die Voyager als verschwunden gemeldet wurde. Sie wissen immer noch nicht, was genau mit ihr geschehen ist aber letzten Monat scheinen sie bestätigt zu haben, dass es sie irgendwie in den Delta Quadranten versetzt hat. Sie versuchen noch immer ein Subraum-Relay aufzubauen, um eine Verbindung mit ihr herzustellen.“

Julian konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Oh, wie ich Brigs kenne, hört sich das an, als hätte er den Spaß seines Lebens.“ Alle brachen in Gelächter aus.

„Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich euch vermisst habe“, lachte Julian schließlich unter Tränen.

„Versprich mir eines, Dr. Julian Bashir“, hustete Marin lachend. „Besuch uns einmal auf der Erde. Du musst einfach meinen Mann treffen und meinen Sohn und Steven. Sie würden dich so gerne kennenlernen.“

Julian nickte. „Das werde ich. Versprochen.” Und er wusste, dass er es würde. Denn selbst nach all den Jahren waren sie seine Freunde. Und es gab ein besonderes Band, das sie verband; das selbst weder Zeit noch Raum trennen konnte.

„In Ordnung ihr drei. Nun da die aktuelle Krise gebannt zu sein scheint, würde ich vorschlagen, ihr gebt Julians Captain sein Büro zurück. Er muss ja schließlich eine Raumstation führen“, unterbrach sie eine ruhige Stimme und ein weiterer junger Mann – Steven – erschien im Bild mit einem amüsierten Grinsen. Erst in jenem Moment wurde Julian bewusst, wo er sich eigentlich befand und was er dort tat. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. „Oh… ja. Das hätte ich beinahe vergessen.” Und es war keine Lüge. Wie lange hatte er Sisko warten lassen? Langsam erhob er sich. Dennoch zögerte er, denn er wollte diesen Moment der Vertrautheit nur ungern beenden.

„Ich warte dann auf deinen Anruf!“, meinte Marin mit einem verschwörerischen Zwinkern. „Pass auf dich auf.“

„Ihr auch“, lächelte Julian gutmütig, bevor er schließlich die Verbindung unterbrach.

Einige Minuten starrte Julian nur auf den nun schwarzen Bildschirm und versuchte das Chaos an Gefühlen in seinem Innersten zu ordnen. Er brauchte noch immer Zeit, die unerwartete Offenbarung seiner Freunde zu verdauen. Es war alles so plötzlich geschehen. Aber selbst jetzt, selbst als er versuchte, das Geschehene zu verstehen, bemerkte er, dass sich etwas verändert hatte. Zum ersten Mal seit Jahren war die dunkle Stelle in seinem Herzen verschwunden. Es war eine Erleichterung, die er nicht in Worte fassen konnte. Es war, als hätte er eine schwere Last hinter sich gelassen; als wären all die voneinander getrennten Abschnitte seines Lebens nun endlich an ihren richtigen Platz gefallen. Ein wehmütiges Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er Alan, Marin und Steven noch einmal vor seinem geistigen Auge sah. Und Brigs – wo auch immer er gerade war. Er wischte sich unbeholfen die letzten Reste der Tränen aus den Augen und fragte sich unwillkürlich, was Sisko wohl dazu sagen würde, fände er seinen ersten medizinischen Offizier in Tränen ausgebrochen in seinem Büro vor. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

Als er sich in Richtung Tür umdrehte, fiel sein Blick unwillkürlich auf das Fenster jenseits von Siskos Schreibtisch und er blieb unerwartet stehen. Eine lange Minute sah er abwesend auf die Sterne in der Ferne, versunken in Gedanken. Doch dann schüttelte er den Kopf, und wandte den Blick ab.

Mit einem tiefen Atemzug richtete er sich auf. Als er hinaus in die OPS trat, spürte er, wie alle Blicke sich mit einem Mal auf ihn richteten. Doch diesmal fühle es sich anders an. Er sah, wie Captain Sisko seine Unterhaltung mit Major Kira unterbrach und erwartungsvoll zu ihm hochblickte. Der Anflug eines besorgten Stirnrunzelns breite sich auf dem Gesicht des Captains aus. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Sisko behutsam, als wüsste er genau, um was sich die Unterredung zwischen Julian und der jungen Frau wirklich gedreht hatte.

Julian lächelte scheu, ein bisschen verlegen. Sein Blick glitt hinüber zu Major Kira und Lieutenant Dax. Dann zurück zum Captain. „Ja…“, meinte er schließlich langsam, ein melancholisches Lächeln auf den Lippen.

„… ja, ich glaube schon.“

Denn zum ersten Mal seit Jahren, war seine Welt wieder vollkommen in Ordnung.

*+..+*+..+*

Er betrachtete die Nachricht auf dem Computerbildschirm mit einem leichten, fast schon wehmütigen Lächeln.

Er hatte sich gut geschlagen. Er war noch nie jemand gewesen, der so einfach aufgab und all die Jahre war er überzeugt davon gewesen, dass er es schaffen würde. Zum Schluss war es gut so, wie sich alles entwickelt hatte. In vielerlei Hinsicht. Er war stolz auf den Jungen. Und würde es wahrscheinlich immer bleiben.

Seine Finger schwebten Zentimeter über der Bildschirmfläche. Über der einzelnen Zeile, die dort stand. Über den wenigen Worten, von denen er gewusst hatte, dass er sie schreiben würde, sobald er von den Nachrichten erfahren hatte. Doch nun zögerte er. Ein weiteres nostalgisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Dann schüttelte er den Kopf.

Nein, alles war in Ordnung, so wie es jetzt war. Denn er wusste, dass es dem Jungen gutgehen würde. Er hatte gelernt, auf seinen eigenen Füßen zu stehen und hatte sich dennoch nicht verändert. Innerhalb einer Sekunde hatte er die einzelne Zeile vom Computerbildschirm gelöscht. Und die Kommunikationseinheit heruntergefahren.

Dann nahm er den weißen Laborkittel vom Stuhl neben seinem Arbeitsplatz und erhob sich. Er schaltete das Licht aus und trat behutsam hinaus in den hellerleuchteten Korridor, der von Kinderlachen erfüllt war. Er warf einen letzten abwesenden Blick auf die Konsole, bevor er schließlich die Tür schloss; ein Lächeln auf den Lippen.

*+..+*+..+* Ende *+..+*+..+*
2015 Mijra

Hier ist es also - das "Happy End", von dem ich wusste, dass ich es schreiben würde, noch als ich damals das letzte Kapitel von "The Secrets We Keep" geschrieben habe. (Ich bin einfach kein Typ für traurige Enden...:) Die Story hat also ein Happy End - auch wenn es erst neun Jahre nach den Ereignissen in TSWK kommt.

Die Geschichte bedeutet mir sehr viel, weil es um Freundschaft geht und um Erfahrungen, die viele von uns sicher schon gemacht haben: wenn man am Anfang eines neuen Lebensabschnitts neue Freunde trifft und gemeinsam die Höhen und Tiefen des Alltags meistert, bis sich die eigenen Wege irgendwann wieder trennen und man irgendwann an einem Punkt angelangt, an dem man sich plötzlich fragt, wie man die Person, die einem früher so viel bedeutet hat, so aus den Augen verlieren konnte, dass man nicht einmal mehr weiß, wie es ihr geht - oder wo es die einst besten Freunde überhaupt hinverschlagen hat.

Die Geschichte geht aber auch darum, wie wichtig und beständig solche Freundschaften sein können - selbst wenn man die andere Person völlig aus den Augen verloren hat. Das einzige, was man eigentlich tun muss, ist zum Telefon zu greifen und sich bei der anderen Person zu melden. Denn echte Freundschaft ist oft stärker als man denkt und es reicht oft schon allein der Wille dazu, um alte Freundschaften wieder aufleben zu lassen:)
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