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Wo Schatten ist ...

von MaLi

Kapitel 1

Leonard McCoy war ein äußerst verlässlicher Mann. Seine Arbeit war immer tadellos, er war pünktlich und meistens sogar zu früh, ging nie vor Dienstschluss und meldete sich nur höchst selten krank. Deshalb war es nur umso erstaunlicher, dass er selbst zehn Minuten nach Schichtwechsel noch nicht zur Morgenbesprechung auf der Brücke erschienen war.

„Brücke an Doktor McCoy. Pille, wo bleibst du?“
Jim Kirks anfängliche Amüsiertheit ging langsam in Besorgnis über. Erst hatte er vermutet, Leonard sei nach einer schlecht durchschlafenen Nacht verwirrt erst auf die Krankenstation gegangen, statt direkt zur Brücke, doch Schwester Chapel, die die Nachtschicht geleitet hatte, war alleine erschienen und auch auf der Station hatte man nichts von McCoy gehört.
„Pille! Melde dich!“

„Er wird nur verschlafen haben“, versuchte Sulu seinen Freund und Captain zu beruhigen. Jim war mittlerweile aufgesprungen und hatte begonnen, auf der Brücke hin und her zu tigern.
„Pille verschläft nie!“, stellte Kirk treffend fest und blieb stehen. „Sulu, Sie haben die Brücke! Mister Spock, bitte begleiten Sie mich zum Quartier des Doktors. Falls er die Tür nicht öffnet, werde ich den Code überbrücken. Ich brauche einen Zeugen fürs Protokoll.“
„Natürlich, Captain“, bestätigte Spock seine Bereitschaft und folgte ihm in den Turbolift.

Jim Kirk musste den Code tatsächlich überbrücken, McCoy reagierte weder auf den Türsummer noch auf den Kommunikatorruf. Das Quartier war dunkel und als Jim sanft den Dimmer hochdrehte, entdeckte er im Dämmerlicht seinen Freund. Er lag im Bett. Er schlief tatsächlich noch.

Jim lächelte erleichtert und setzte sich neben ihn auf die Matratze. Er schüttelte ihn sanft.
„Hey, Pille, du Schlafmütze! Wach auf!“
Erst nach einem bedeutend kräftigeren Rütteln gab Leonard ein Murren von sich.
„Was?!“, brummte er leise und tastete nach der Hand auf seiner Brust.

„Pille, was ist los? Feierst du heute Premiere?“, grinste Jim und klopfte ihm kumpelhaft auf den Arm.
„WAS ist los?“, fragte Leonard etwas schlafdumm nach.
„Naja, du gehörst jetzt seit fünf Jahren zur Sternenflotte, und heute ist das erste Mal, dass du verschlafen hast! Premiere!“
„Verschlafen?“ Leonard rieb sich überrascht die Augen. „Ich hab verpennt?“
„Ja?“
„Oh! Tut mir leid! Wie spät ist es denn?“ Er bekam noch kaum die Augen auf.
„Zwanzig nach Sechs!“
„Scheiße … Ich steh auf. Ich steh auf!“

Mühsam kam er in eine Sitzende Position hoch.
„Warum sitzt du denn hier im Dunkeln?“, wunderte er sich und gähnte herzhaft.
„Entschuldige. Ich dachte ich dimme das Licht, damit es dich nicht blendet! Mister Spock, würden Sie bitte den Dimmer hochfahren?“
„Natürlich, Sir!“
McCoys zweites Gähnen hätte einen Löwen vor Neid erblassen lassen.
„Machen Sie jetzt Licht oder nicht?“, murmelte er verschlafen und kratzte sich im Genick.
„Doktor?“, fragte Spock verwirrt nach.

„Himmel, bin ich müde“, seufzte Leonard und gähnte schon wieder.
„Pille“, meinte Jim rücksichtsvoll, „wenn du dich nicht gut fühlst oder so, schlaf weiter, dann melde ich dich krank!“
Leonard schüttelte dankbar den Kopf und gähnte ein viertes Mal.
„Im Moment würde ich mich eher über Licht freuen …“
„Pille, das Licht ist auf hundert Prozent. Wie hell willst du es denn noch haben?“, erkundigte sich Jim etwas belustigt.

Leonard seufzte tief.
„Ha! Ha!“, spottete er und rieb sich erneut die Augen. „Nein, im Ernst, Jim. Mach Licht, ich will aufstehen!“
„Pille, das Licht ist an!“
„Jim! Hör auf mit dem Mist. Mach Licht!“, brummte Leonard verärgert.
„Nein, hör DU auf damit! Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht zur Besprechung gekommen bist, okay? Ich mag jetzt solche Spiele nicht.“

Leonard knurrte.
„Jim, ich habe verschlafen und bin müde, also mach mich bitte nicht schon am Morgenfrüh salzig, okay?“, fauchte er und schlug die Decke weg.
„Pille, sieh mich an!“
„Ja WIE denn?!“, rief der entnervt.

Erst war es eine Weile ruhig, dann bat Jim Leonard still zu halten. Vorsichtig näherte er sich mit dem Zeigefinger Leonards Auge, manövrierte geschickt zwischen den Wimpern hindurch und tippte ihm direkt auf den Augapfel.

„AU!“ Leonard erschrak furchtbar. „Was war das?!“
„Das war ich, Pille“, erklärte Jim, „hast du das nicht kommen sehen?“
Leonard knurrte ärgerlich.
„Himmel nochmal, Jim?! Ich sehe hier nicht mal die Sterne vor den Fenstern. Es ist finster wie im Bärenarsch! Was soll der Mist?! Falls du mich einfach nur ärgern wolltest, hast du es geschafft! Meine Laune ist jetzt im Keller …“

„Spock“, Jims Stimme klang jetzt ängstlich und etwas gehetzt, „holen Sie M’Benga! Sofort!“
„Aye, Captain!“ Spock eilte davon.
„Jim, was ist hier los?“, flüsterte McCoy nun selber verstört, „Ist das Schiff kaputt oder so?“
„Pille?“
„Ja?“
„Ich glaube … ich glaube, du bist blind!“

***

Leonard nahm die Nachricht entsprechend schlecht auf. Besonders M’Bengas Bemerkung, der Tricorder könne keinen körperlichen Defekt feststellen, zog ihm endgültig den Boden unter den Füßen weg. Kein Defekt bedeutete, keine erkennbare Ursache, keine erkennbare Ursache bedeutete, keine Gegenmaßnahmen, keine Gegenmaßnahmen bedeutete, blind bleiben.

Während Leonard noch betäubt von der Schockdiagnose auf dem Untersuchungsbett auf der Krankenstation saß, nahm M’Benga Kirk zur Seite.

„Sie sind doch mit Doktor McCoy eng befreundet, nicht?“
„Ja“, nickte Jim und schien auch nicht wirklich auf dem Boden zu stehen.
„Werden Sie ihm in dieser Zeit beistehen?“
M’Benga sprach freundlich und einfühlsam. Sich um einen frisch Erblindeten zu kümmern, war mehr, als manch einer schultern konnte.
„Ja, natürlich!“, nickte Jim ernst und schien jetzt wacher.

M’Benga maß ihn erst mit einem nachdenklichen Blick, bevor er vorsichtig meinte: „Es wird eine schwere Zeit auf Sie zukommen, Sir!“
„Ja, ich weiß, er ist … auf mich?“ Jim glaubte, sich verhört zu haben.
„Ja. Doktor McCoy ist schon von Natur aus nicht gerade … eine Frohnatur. Wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Eingewöhnungszeit wird ihn hart an seine Grenzen bringen. Es wird Tage geben, wo er sich gut damit arrangieren kann, aber er wird auch durch Wut und Frustration gehen müssen, und ich befürchte, dass diese Tage überwiegen werden. Bereiten Sie sich auf diese Zeit vor, Captain! Er wird sehr viel Rücksichtnahme und Verständnis brauchen. Versuchen Sie, darüber hinwegzusehen, wenn er seine schlechte Laune an Ihnen auslässt.“

Jim konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen.
„Das tu ich schon seit Jahren“, meinte er und schaffte tatsächlich ein Lächeln, obwohl ihm überhaupt nicht danach war.

Leonard war der stacheligste Igel, der ihm je begegnet war. Jim hatte Jahre gebraucht, um sich gegen ihn abzuhärten. Dass sich nach all der Zeit wieder alles verschlimmern würde, stimmte ihn nicht gerade fröhlich. M’Benga hatte Recht. Eine schwere Zeit würde auf sie beide zukommen. Jim hoffte nur von Herzen, dass sich Leonard nach diesem heftigen Rückschlag nicht wieder komplett einigelte und sich in seine dunkle Welt aus Leid und Groll zurückzog.

„Darf ich zu ihm?“, wollte Jim wissen.
„Captain“, lächelte M’Benga sanft und erinnerte Jim für eine Sekunde an Pike, „er ist blind, nicht ansteckend!“
„Richtig“, ging Jim auf den Scherz ein.
Er war dankbar, in seinem zweiten Arzt eine so einfühlsame Seele auf dem Schiff zu haben. Die brauchte er jetzt.

„Pille?“
Leonard erschrak so heftig, dass er fast von der Liege fiel.
„Entschuldige! Entschuldige!“
Beruhigend legte Jim ihm die Hand auf die Schulter. Er hatte nicht bedacht, dass Leonard ihn nicht hatte kommen sehen, und in seinem abwesenden Zustand offenbar auch nicht gehört hatte. McCoy atmete schwer und seine blinden Augen suchten verzweifelt einen Halt in der für ihn dunklen Welt.

„Ich bin da, Pille“, beruhigte er ihn einfühlsam, „geht es dir gut?“
Leonards Augenbraue schoss so schnell in die Höhe, dass Jim noch in derselben Sekunde wusste, dass er schleunigst eine andere Formulierung für seine Fragen finden musste.
„Ich meine, ich weiß, dass es dir nicht gut geht! Ich wollte nur wissen, ob ich etwas für dich tun kann.“
„Ich will in mein Quartier!“, bat Leonard beschwichtigt, aber kaum hörbar.
Er konnte nicht sehen, wer sich alles auf der Krankenstation aufhielt und allenfalls mithörte. Alleine der Gedanke, von einer unbekannten Anzahl Augenpaaren angestarrt zu werden, brachte ihm eine Gänsehaut bei.
„Okay. Hier, nimm meinen Arm“, bot Jim an und half ihm von der Liege.

***

Leonard versuchte, sich nicht allzu offensichtlich an Jim festzukrallen, als sie langsam den Korridor zu den Mannschaftsquartieren der Führungsoffiziere entlang gingen, trotzdem sah Jim seine Angst. Schwer durch den Mund atmend und unruhig die Augen schweifen lassend, war Leonard ein Sinnbild der Angst. Unsicher wanderten seine Füße über den Boden, während er sich mit beiden Händen an Jims Arm festhielt. Nach jedem Geräusch wandte er sich um, jedes Zischen, Rumpeln, Dröhnen ließ in seinem Kopf die Alarmglocken schrillen. Jim bemerkte bedrückt, dass der Stoff unter Leonards Händen mit jedem Meter feuchter zu werden schien.

Leonard hielt den Atem an und löste die Umklammerung etwas. Schritte näherten sich.
„Captain?“, grüßte eine junge, weibliche Stimme, zu der Leonard zwar ein Gesicht, aber gerade kein Name einfiel. „Dok … Doktor McCoy, fehlt Ihnen was?“
Die Stimmte klang jetzt sehr besorgt. Jim antwortete hilfsbereit für ihn.
„Doktor McCoy ist …“
„Jim“, knurrte Leonard dazwischen, „ich bin blind, nicht taub! Ich habe die Frage gehört!“

Während Leonard der namenlosen Stimme so gefasst wie möglich die Situation erklärte, zog sich Jim Kirk die abgebrochenen Igelstacheln aus dem Fleisch. Das fing ja schon gut an!
Jim hatte es meisterhaft gelernt, mit Leonards Unsicherheit, Angst und Verteidigungsstrategien umzugehen. Er wusste wie er sich davor schützen konnte, und schaffte er es einmal nicht, hatte er sich Sätze zurechtgelegt, mit deren Hilfe er die Situation herunterspielen und mit ihr umgehen konnte.

Jetzt allerdings wurde er mit einer Seite von Leonard konfrontiert, der er sich noch nie hatte stellen müssen. Es war eine mächtige Seite in ihm, eine, die ohne Mühe sein ganzes Handeln übernehmen konnte, eine, die dominant genug war, zu Leonards Schutz sogar Jim ernsthaft zu verletzen, eine, die ihre Freundschaft auf einen harten Prüfstand führen würde; sein Stolz.

„Doktor, ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute!“, meinte die junge Frau aufrichtig.
„Vielen Dank.“ Leonard klang, als hätte sie ihm lediglich einen guten Tag gewünscht.

Jim seufzte innerlich. Stolz hatte bereits von seinem Freund Besitz ergriffen. Aufrecht und stark stand er da, die Hände von Jim gelöst und versuchte verzweifelt, Unbekümmertheit und Vertrauen in die Zukunft auszustrahlen. Jim, der ihn besser kannte als kaum ein anderer, durchschaute das Theater vom Schiff aus.
Leonard stand noch immer unter Schock, war verängstigt und verunsichert, und das Letzte was er war, war stark und zuversichtlich. Alleine panische Hoffnung hielt ihn aufrecht, die Hoffnung, bald aus diesem Albtraum zu erwachen und wieder ein selbstständiger, unabhängiger Mensch zu sein.

Selbst als sich die junge Frau verabschiedet hatte und um die Ecke verschwunden war, stand Leonard noch immer aufrecht und hielt sich nur so stark wie gerade nötig an Jim fest. Sogar vor ihm verbarg er jetzt seine Gefühle und hielt ihn auf Distanz. Jim traf die Erkenntnis mitten ins Herz. Stolz hatte gerade erfolgreich einen Keil zwischen sie beide getrieben.

***

Jim Kirk lehnte mit dem Rücken gegen die Tür zu Leonards Quartier und kämpfte mit Enttäuschung und Unverständnis. Sein liebster Freund hatte ihn gerade weggeschickt. Nicht einmal in dessen schwerster Stunde durfte er ihm beistehen.

Leonards Welt wurde noch immer von fürchterlichen Erdbeben erschüttert, schwankte und türmte die Trümmer seines Lebens zu unübersichtlichen Schutthaufen auf. Gerade jetzt, in diesem Augenblick, saß McCoy auf seinem Bett und wurde sich bewusst, dass mit dem Augenlicht auch alles andere aus seiner Welt verschwunden war. Bilder, Gesichter, Körpersprache. Er würde sich nie mehr einen Film ansehen können, nie wieder ein Buch lesen, nie wieder die Sonne sehen, nie mehr als Arzt praktizieren …

Jim stieß mühsam die Luft aus den Lungen und blinzelte angestrengt. Jetzt nicht bei Leonard sein zu können, setzte ihm zu, doch der hatte sich Ruhe erbeten. Jim wusste wieso. Leonard weinte nie vor ihm.

Jim glaubte, Pilles Schmerz durch die Wand fühlen zu können. Er wünschte sich zu ihm, an seine Seite. Jim störte sich nicht daran, wenn jemand in seinen Armen weinen wollte. Er würde deswegen nie die Achtung vor Leonard verlieren, ihn nie als erbärmliches Häuflein Elend sehen. Zur Hölle, er wünschte sich geradezu, Leonard würde sich auch mal vor ihm gehen lassen, Schwäche und somit Vertrauen zeigen. Leonard sah das nicht ein. Stolz war einfach zu mächtig.
Bevor er endgültig die Fassung verlor, löste sich Jim von der Tür und machte sich auf den Weg zur Brücke um sich abzulenken.

***

Der Tag schien Jim endlos. Es war eine normale acht Stunden Schicht, doch Jim glaubte, eine ganze Woche in diesem verfluchten Sessel verbracht zu haben. Obwohl rundherum gelobt, war ihm sogar das Essen in der Kantine fade wie Glasnudeln vorgekommen. Nichts machte ihm heute Spaß, nichts lenkte ihn ab. Nach der Tagesbesprechung mit der neuen Schicht stürzte er von der Brücke und eilte zu Leonards Quartier.

Der machte nicht auf. Auch nach dem siebten Klingeln nicht. Jim Kirk ignorierte das Protokoll und überbrückte, diesmal ohne Zeugen, den Türcode. Als die Türflügel auseinander glitten, fiel der junge Captain fast in Ohnmacht.
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