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Der Stein

von Verena

Kapitel 1

„Harry, auf ein Wort!“ Der junge Fähnrich zuckte zusammen, als hinter ihm auf dem Korridor die Stimme Commander Chakotays erklang. Obwohl er im Laufe der drei Jahre, die die Voyager schon unterwegs war, deutlich an Selbstbewusstsein gewonnen hatte, wurde es Kim noch immer manchmal mulmig, wenn er sich in der Gegenwart deutlich höherrangiger Offiziere befand. Seine Nervosität wurde jedoch zerstreut, als er sich umdrehte und seinen Schritt verlangsamte, um den Ersten Offizier aufschließen zu lassen. Auf dem Gesicht des Indianers lag ein freundliches Lächeln, als er sich erkundigte: „Sind Sie auch auf dem Weg in den Landurlaub?“

„Ja, Sir. Darauf freue ich mich schon seit Wochen“, bestätigte Harry und erkundigte sich: „Aber Sie haben mich sicher nicht angesprochen, um mich das zu fragen, Sir.“

Chakotay schmunzelte. „Sie haben mich ertappt“, gab er zu. „Ich wollte Sie fragen, was ich dem Captain von der Oberfläche mitbringen könnte. Ich überlege schon die ganze Zeit, womit ich Ihr die Verhandlungen über die Passage durch den Raum der Vathaner versüßen kann.“

„Mmmh, eine Tonne Kaffee und ein Hund?“, schmerzte Harry, dann wurde er nachdenklich. Er fand es wirklich nicht sonderlich fair, dass die gesamte Crew Urlaub auf der Orbitalstation über dem Planeten Vathan machen durfte und dass sich allein Kathryn Janeway auf dem diplomatischen Glatteis bewegte. Doch wenn der Captain einmal auf stur geschaltet hatte und jegliche Teilnahme ihrer Senioroffiziere ablehnte, dann war dagegen nicht viel zu unternehmen. Auf einmal hatte Harry große Lust, Chakotay beim Aussuchen eines Geschenks zu helfen. „Am besten, wir lassen uns überraschen, was die Händler auf der Station anbieten.“

„Abgemacht.“ Der Commander nickte und die beiden Offiziere begaben sich gemeinsam zum Transporterraum.

***

Chakotay spazierte die Promenade der Raumstation entlang und blickte aus den riesigen Panoramafenstern hinaus ins All. Unter ihm schimmerte in vertrauten Pastelltönen der Planet, halb vom Blick des Betrachters durch zarte Wolkenfetzen verborgen. An einem der Andockplätze der Station konnte er die vertrauten Formen der Voyager wahrnehmen und obwohl sich Chakotay gerne außerhalb des Schiffs aufhielt, fühlte er sich immer auch ein wenig von dort fortgerissen, wenn er die Voyager verließ. Er hatte es nie für möglich gehalten, dass einmal ein Schiff sein Zuhause werden konnte. Beim Maquis hatte er für eine Heimat aus Erde gekämpft, nun hing er an einem fliegenden Haufen Metall. Das Leben hielt die seltsamsten Überraschungen bereit.

Er erreichte den Teil des Decks, auf dem sich die Händler des Planeten Vathan, aber auch aus anderen Teilen des Quadranten im wahrsten Sinne des Wortes tummelten. Kleine Stände standen überall und eine Unzahl Individuen drängelte sich laut rufend um sie herum. Waren hingen an Leinen über den Köpfen der Kunden und bunte Tafeln wiesen den Weg. Chakotay entschied sich, seinen Tricorder nicht zu benutzen, um die Schrift darauf zu entziffern – er wollte sich überraschen lassen. Geschickt wich er einigen rabiaten Aliens aus, die sich mit Hilfe ihrer Ellbogen (oder was immer sie auch an derer statt besaßen) an ihm vorbeidrängelten und verfehlte mit seinem Stiefel knapp etwas, das einem lilafarbenen Schleimklumpen glich und ihn aufgebracht anzischte, als es davonglitt und eine dunkle Spur auf dem Boden hinterließ. Mit zuckenden Mundwinkeln schickte Chakotay ein Stoßgebet an alle anwesenden Götter, in dem er inständig bat, diesem Etwas niemals in einer von Neelix Suppen entgegenzublicken.

„Commander!“, erklang Harry Kims Stimme über den Lärm hinweg. Der junge Fähnrich war bereits vorgegangen, um sich umzusehen. Es bereitete Chakotay einige Mühe, Harrys senffarbene Uniform auszumachen, doch schließlich entdeckte er ihn vor einem kleinen, etwas abgelegenen Stand. Dort angekommen, schlug ihm der betäubende Geruch von Räucherwerk entgegen und auf dem ersten Blick gab es auf dem unordentlichen Tisch nichts, das ihn wirklich ansprach. Doch dann wies Harry auf einen Stein, der halb verborgen unter einem Stapel Tücher lag. Chakotay runzelte die Augenbrauen und zog das Stück hervor. Der Stein war so klein, dass er in die Innenfläche einer Hand passen konnte; er war klar, doch in seinem Inneren zogen seltsame strahlend blaue und grüne Schwaden herum. Unwillkürlich fühlte sich der Commander von den Farben angezogen. Das Blau glich dem von Kathryns Augen, wenn sie lächelte.

„Harry, von nun an nehme ich Sie immer mit zum Einkaufen!“, versprach Chakotay dem Fähnrich, der verlegen lächelte. „Danke sehr für den Tipp.“

„Nichts zu danken, Sir. Wenn Sie mich entschuldigen wollen...“

Auf das Nicken des Ersten Offiziers hin tauchte Harry in der Menge unter, wohl auf der Suche nach anderen Zerstreuungen. Chakotay konnte es ihm nicht verdenken, denn sie hatten eine längere Zeit ohne Landurlaub auskommen müssen. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschenk zu, als sich eine Stimme erkundigte: „Sie wollen den ‚Kristall des Verlorenen‘ erwerben? Sie haben Geschmack!“ Ein kleiner, alter Mann war urplötzlich neben dem Stand aufgetaucht und nickte Chakotay gedankenverloren zu. Er gehörte einer humanoiden Rasse an, die schwer zu bestimmen war und sich durch einen leichten Blauschimmer in ihrer Haut auszeichnete. „Für welchen Zweck benötigen Sie ihn?“

„Ein Geschenk – für eine Freundin.“ erklärte der Indianer knapp. Sein Gefühl riet ihm, nicht mehr zu verraten. Der Händler verschränkte die Arme.

„Soso, ein Geschenk“, murmelte er. „Wissen Sie, Fremder, der Kristall ist etwas ganz Besonderes. Aber ich denke, bei Ihnen ist er gut aufgehoben. Ich schenke ihn Ihnen.“

Bevor der Commander noch etwas sagen konnte, war der wunderliche Alte verschwunden und nicht mehr auszumachen. Achselzuckend machte sich Chakotay auf den Rückweg zur Voyager.

***

Kathryn Janeway saß auf ihrem Sofa und hatte die Füße hochgelegt. Mit geschlossenen Augen lauschte sie der Musik, die durch ihre Kabine schwebte und versuchte, so gut wie es eben ging, zu entspannen. Der Verhandlungsmarathon mit den Vathanern würde in etwa einer Stunde in eine weitere Runde gehen und fast schon bereute sie es, außer Tuvok niemandem erlaubt zu haben, ihr zur Seite zu stehen. Gleichzeitig wusste sie aber, dass die Crew ihres Schiffes schon eine sehr lange Zeit keinen Landurlaub mehr gemacht hatte und dass ihre Senioroffiziere ihr zwar gern zur Seite gestanden, sich aber insgeheim das genaue Gegenteil gewünscht hätten. Die Heimreise der Voyager dauerte nun gut drei Jahre an und oft genug hatte sie sich als Captain gefragt, ob die Crew nicht tatsächlich all den Problemen überdrüssig werden würden, die sich ihnen in den Weg stellten. Der Tag schien ihr nicht fern, an dem sich die ersten Besatzungsmitglieder entscheiden würden, das Schiff zu verlassen und ein Leben im Delta-Quadranten zu beginnen. Eine Existenz ohne die Unsicherheiten einer interstellaren Reise, ohne die ständig auf dem Schiff herrschende Stimmung, schwankend enttäuschter Hoffnungen und neuem Mut; all das erschien derart lockend, dass sich der Captain selbst diesem Gedanken nicht verschließen konnte. Doch dann erinnerte sie sich wieder an ihre Pflicht, ihre Crew nach Hause zu bringen. Diese Aufgabe hatte sie sich durch die Zerstörung der Phalanx des Fürsorgers gestellt und die würde sie lösen, ohne Rücksicht auf persönliche Prämissen.

Der Türmelder summte vernehmlich und Janeway seufzte. Sie setzte sich auf und verscheuchte die düsteren Gedanken, die sie oft genug befielen, aus ihrem Kopf.
„Computer, Musik aus. - Herein!“

Das Schott öffnete sich und Chakotay trat ein. Er hielt die Hände hinter dem Rücken verborgen und hatte einen verschwörerischen Gesichtsausdruck aufgesetzt. „Hallo, Kathryn“, begrüßte er sie.

Mit einem Schlag war Janeway hellwach, denn wenn er sie auf diese Weise ansah, ließ eine Überraschung nicht allzu lange auf sich warten. „Commander, was gibt es?“ Sie wollte sich erheben, doch er deutete ihr an, sitzen zu bleiben. Neugierig erkundigte sie sich: „Was verstecken Sie da hinter Ihrem Rücken?“

„Nichts“, versicherte er, doch den Schalk in den Tiefen seiner dunkeln Augen übersah Kathryn nicht so leicht.

„Wenn Sie es mir nicht verraten, dann verurteile ich Sie zu einer Woche Repliktorputzen im Kasino“, drohte sie gespielt ernst. „Privileg das Captains.“

„Dann gebe ich mich geschlagen. Ich habe ein kleines Geschenk für Sie“, seufzte Chakotay und setzte sich neben sie aufs Sofa. Langsam zog er die geschlossene Faust hinter dem Rücken hervor und öffnete sie schließlich, so dass Kathryn deren Inhalt sehen konnte.

„Wunderschön“, sagte sie, ehrlich fasziniert, als sie den Stein erblickte. Das dumpfe Glühen, den Wirbel der Farben im Inneren des Kristalls waren ebenso seltsam wie anziehend. „Wo haben Sie ihn gefunden?“

„Bei einem äußerst seltsamen Händler auf der Station. Er nannte ihn den ‚Kristall des Verlorenen‘.“

Janeway hob die Hand, um das Geschenk aus Chakotays Hand zu nehmen. Als sie jedoch die glatte Oberfläche des Steins berührte, gleißte dieser in einer grellen Lichtfontäne auf. Kathryn schrak zurück, doch bevor sie noch etwas unternehmen konnte, war das weiße Licht überall und verschlang den Ersten Offizier, ihr Quartier – und schließlich sie selbst.

***

Chakotay öffnete verwirrt die Augen. Eben hatte er sich noch mit Kathryn in ihrer Kabine befunden, und nun? Er stand auf einer kleinen Waldlichtung und ein leichter Wind rauschte durch die Bäume. Er roch Erde und Regen, saubere Luft und blühende Pflanzen. Kathryn stand einige Schritte von ihm entfernt und blickte sich ebenfalls um, einen ungläubigen Ausdruck auf dem Gesicht. Der Commander registrierte, dass sie keine Uniform mehr trug, sondern ein blaues Kleid, das ihm erschreckend bekannt vorkam. Ihr Haar war nicht mehr auf Schulterlänge geschnitten, sondern hing, in einen Zopf geflochten, auf ihren Rücken herab. Auch er selbst hatte sich verändert, statt der Uniform trug er eine robuste Hose, ein weißes Hemd und eine Lederweste.

„Wir sind zurück“, stellte Janeway trocken fest, als sie an sich herabblickte.

„Allerdings“, bestätigte Chakotay. Dies war die ‚Neue Erde‘, der Planet, auf dem er und Kathryn drei Monate allein verbracht hatten. Es war eine Zeit voller Vertrautheit gewesen, ohne Rangabzeichen oder Vorschriften. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, ohne dass er es verhindern konnte.

Der seltsame Stein hatte sie beide also an den Ort gebracht, an den er sich am meisten zurücksehnte – von seiner Heimatkolonie einmal abgesehen. Apropos Stein – seine Hände warn leer und auch Kathryn trug ihn nicht bei sich. Der Boden war mit einigen Gesteinsbrocken bedeckt, doch keiner ähnelte seinem Geschenk an Kathryn in irgendeiner Weise. „Ich schätze, wir sind durch ein Raumportal hierher zurückgekehrt – oder wir unterliegen einer Simulation.“

Der Captain nickte und schlug dann vor: „Lassen Sie uns zur Hütte gehen – sie müsste noch da sein, wenn dies wirklich die ‚Neue Erde‘ ist. Vielleicht finden wir dort einen Hinweis auf das, was wirklich geschehen ist.“

„Einverstanden.“

Seite an Seite durchquerten sie den Wald und Chakotay konnte nicht verhindern, dass er die Frau an seiner Seite heimlich beobachtete. Die Erinnerung an ihre gemeinsamen Tage holten ihn, wie schon so oft, ein. Er wünschte sich, dass sie beide sich wieder so nahekommen könnten wie auf der ‚Neuen Erde‘, doch zur selben Zeit war ihm bewusst, dass dies nur immer ein Wunsch bleiben würde.

Hinter den Bäumen schimmerte die vertraute Farbe des Hauses auf, das sie während ihres unfreiwilligen Aufenthaltes bewohnt und bei der Rückkehr auf die Voyager auf der Planetenoberfläche zurückgelassen hatten. Als sie näherkamen, stellte Chakotay allerdings fest, dass dieses Domizil ganz und gar nicht unbewohnt wirkte, wie er erwartet hatte. Im Gegenteil, an einer Seite war das Haus durch einen Anbau aus Holz erweitert worden, der ihn stark an seine eigenen Pläne erinnerte, sein und Kathryns Leben auf ‚ihrem‘ Planeten durch einen Anbau etwas komfortabler zu machen. Bepflanzte Beete, in denen Obst und Gemüse wuchsen, angelegt von einer liebevollen Hand, säumten den Weg aus dem Wald.

„Gespenstisch“, sagte Janeway leise. „Es ist genauso, wie wir es uns damals ausgedacht hatten – als wären wir niemals fortgegangen.“

„Der Stein scheint ein entsprechendes Szenario erzeugt zu haben“, vermutete Chakotay. „Wir erleben gerade die Ereignisse, die eingetreten wären, wenn die Voyager nicht zu uns zurückgekehrt wäre.“

Sie sahen sich an und Chakotay bemerkte, wie in den Augen seiner Begleiterin etwas aufblitzte, was er schwer deuten konnte. Neugierde und Bedauern erfüllten ihren Blick, als Kathryn sich von seiner Seite löste und auf die Tür des Hauses zuging. Er folgte ihr schweigend und ließ sich von den Eindrücken gefangen nehmen. Der Wohnraum war der alte geblieben, bis auf die Schnitzarbeiten, die die Wände schmückten und die eindeutig seine Handschrift trugen.

Im Anbau befanden sich zwei Zimmer. Während Kathryn den linken Raum betrat, sah er sich im Rechten um, der sich als Werkstatt entpuppte. Nachdenklich betrachtete Chakotay halb fertige Kunstgegenstände, erkannte vertraute Formen des Handwerks seines Volkes und begann sich ernsthaft erneut zu fragen, ob ihn dieses Leben nicht noch glücklicher gemacht hätte als die Rückkehr zur Erde.

Während ihres ersten Aufenthalts auf der ‚Neuen Erde‘ hatte er ihre neue Situation sehr schnell akzeptiert, während Kathryn immer wieder versucht hatte, eine Heilung für ihre Krankheit zu finden, die sie an den Planeten fesselte. Für ihn war das neue Leben so etwas wie die innere Rückkehr zu seinen alten Werten, seiner alten Lebensführung gewesen, aus der ihn der Krieg mit den Cardassianern und der Dienst auf der Voyager unversehens gerissen hatten.
Er schüttelte die Gedanken ab und wunderte sich dann, dass Kathryn so lange fortblieb.

Er verließ die Werkstatt und ging leise zu ihr ins Nebenzimmer. Der Anblick, der sich ihm dort bot, versetzte ihm einen Stich. Der Raum war für zwei Kinder eingerichtet und die Spielsachen am Boden und die unbeholfenen Bilder an den Wänden zeigten, dass er auch bewohnt wurde. Der Name ‚Jeremy‘ stand in unsicherer Schrift unter den Zeichnungen, die eine Familie von vier Personen zeigte – einen Vater, der ihm selbst frappierend ähnlichsah, eine Mutter mit hellen Haaren und blauen Augen und zwei Kinder. Chakotay schluckte und blickte zu Kathryn.

Sie stand an einem der Betten und starrte auf eine kleine Gestalt, die dort schlief. Es war ein kleines Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt, das sich unter seiner Decke zusammengerollt hatte; ihre schwarzen Haare lagen auf dem Kissen unter ihrem Kopf ausgebreitet und bildeten einen glänzenden Heiligenschein um ihren Kopf.

Eine fast greifbare Stille lag über dem Raum, als Kathryn sich schließlich zu Chakotay umdrehte und ihm andeutete, in den Wohnbereich des Hauses zurückzukehren. Leise schloss sie die Tür zum Kinderzimmer hinter sich und atmete tief durch. Sie brachte ebenso wenig ein Wort heraus wie Chakotay, der aus dem Fenster blickte und sich fragte, ob das, was sie gerade eben gesehen hatten, jemals der Wirklichkeit hätte entsprechen können. Er und Kathryn – ein Elternpaar? Es war zu phantastisch, als dass er es sich jemals vollständig ausgemalt hätte und doch erfüllte ihn eine lang verdrängte Sehnsucht nach einer Familie. Er hatte sich schon immer Kinder gewünscht, doch in den letzten Jahren hatte er gedacht, dass es dafür schon fast zu spät war.

In diesem Moment schwang die Tür zum Haus auf und eine weitere Person stürmte ihn den Raum. Der Junge Jeremy stoppte unvermittelt, als er Chakotay und Kathryn im Zimmer sah und erkundigte sich: „Wolltet Ihr nicht einen Spaziergang machen? Ich habe Euch doch versprochen, alle halbe Stunde nach Sarah zu schauen!“ Mit der Ernsthaftigkeit eines Sternenflottenoffiziers, die nicht recht zu seinem Alter zu passen schien – Chakotay schätzte ihn auf fünf oder sechs Jahre - blickte er die Erwachsenen an und fügte dann hinzu: „Aber, wenn Ihr jetzt da seid... ich bin wieder am See.“

„Sei vorsichtig“, entschlüpfte es Chakotay ganz automatisch und unter Kathryns verwunderten Blick errötete er etwas. Der Junge könnte wirklich sein Sohn sein, das spürte er instinktiv. Seine Bemerkung wurde mit einem breiten Grinsen Jeremys quittiert.

„Klar, Dad.“

Im nächsten Moment war er schon wieder aus der Tür.

***

Kathryn starrte dem Jungen hinterher, ohne es zu wollen. Ihr Sohn. Der Bruder jenes kleinen Engels, der im Kinderzimmer schlief. Und sie sollte die Mutter dieser Kinder sein. Zwar nicht in ihrer gewohnten Realität, sondern in dieser. Allein der Gedanke daran, dass so etwas möglich war, traf sie völlig unvorbereitet. In ihren frühen Jahren als Sternenflottenoffizier hatte sie sich nie Gedanken darübergemacht, dass es für sie wichtig sein könnte, eine eigene Familie zu haben. Erst Justin Tighe, mit dem sie bis zu seinem frühen Tod verlobt gewesen war, hatte sie ernsthaft darüber nachdenken lassen. Mit Mark Johnson, in dem sie so etwas wie ihre letzte Chance gesehen hatte, sich zu binden, hatte sie oft über das Thema diskutiert; er war der Meinung gewesen, dass er noch nicht bereit für Kinder sei. Die Ankunft im Delta-Quadranten hatte Kathryn von all diesen Dingen brutal abgeschnitten. Seit dem Zeitpunkt, an dem sie ihre Reise zurück in die Heimat aufgenommen hatten, war sie allein. Ihre Verantwortung lastete schwer auf ihr und sie hatte all ihre Vorstellungen, in denen sie sich erlaubte mehr zu sein als ein pflichtbewusster Sternenflotten-Captain, begraben.

Ihr Blick wanderte zu Chakotay. Lächelte er etwa? Sie konnte es gar nicht fassen, dass ihn die Situation augenscheinlich nicht im Geringsten mitnahm. Aber er war ja, wie sie wusste, der Typ Mensch, der sich schnell an neuen Umstände anzupassen vermochte. Chakotay. Sie seufzte innerlich und betrachtete ihn. Er bedeutete ihr mehr, als sie in Worte fassen konnte. Es war nicht nur Liebe. Es waren all die Dinge, die die Liebe verkörperte. Vertrauen, Geborgenheit, manchmal auch Provokation, dann wieder Versöhnung und stummes Einverständnis. Was zwischen ihnen beiden bestand, war für Kathryn sehr wertvoll, auch wenn es sich nur auf das rein Geistige beschränkte. Dass sie nicht miteinander schliefen, hatte sie als Umstand der Tatsache akzeptiert, dass sie seine Vorgesetzte war. Doch manchmal, wenn sie ihn sah, dann wünschte sie es sich doch und auch er schien oft, wenn sie sich sehr nahe waren, gegen diesen selbst auferlegten Verzicht rebellieren zu wollen. Er tat es aber nicht, weil er sie nicht drängen wollte. In der Hinsicht war er wieder ganz der Aufrührer, der die Sternenflottenvorschriften ohne weiteres brechen würde. Aber er wusste auch, dass es für sie nicht so einfach war wie für ihn und deshalb akzeptierte er ihr Verhalten – auch, wenn es ihn zu schmerzen schien.

Plötzlich erschien Kathryn die Situation, in der sie sich befanden, nicht mehr derart abwegig. Dass sie und Chakotay die Eltern zweier Kinder geworden wären, hätten sie die ‚Neue Erde‘ nicht verlassen, konnte sie sich auf einmal vorstellen. Keine Regeln, die sie davon abhielten, das zu tun, was sie wollten, keine Hindernisse mehr für Intimität und Zärtlichkeit. Diese unglaubliche Nähe zwischen ihnen hatte sich damals ganz von selbst entwickelt. Seine ‚alte Legende‘ fiel ihr wieder ein. Bei seinen Worten, von denen sie jedes noch immer im Gedächtnis trug, hatte sie damals geweint, weil ihr schlagartig bewusst geworden war, dass etwas geschah, dass sie längst verloren geglaubt hatte. Sie hatte sich verliebt und ihre Träume von einer richtigen Familie waren mit einem Mal wieder erfüllbar geworden.

In dem Moment, als sie sich dessen bewusst wurde, verschwand ihre Umgebung einmal mehr in jenem gleißenden, weißen Licht, das sie und Chakotay hergebracht hatte. Was zurückblieb, war ein leises Gefühl des Verlustes.

***

Sie waren wieder auf der Voyager, saßen auf der Couch und blickten sich an, verhaftet in den Erinnerungen an das Vorgefallene. Der Stein lag vergessen zwischen ihnen auf dem Polster. Sein inneres Licht war verloren gegangen, er war nun nichts Anderes mehr als ein kaltes Stück Gestein.

„Ich weiß jetzt, warum er der ‚Kristall des Verlorenen‘ heißt“, sagte Kathryn leise und überraschte Chakotay mit ihren Worten. „Wir haben wirklich viel verloren, auch wenn wir es uns bis jetzt nicht eingestanden haben.“

In diesem Moment wirkte sie auf ihn derart verletzlich, dass er sich unwillkürlich vorbeugte und sie in den Arm nehmen wollte. Sie wehrte sich nicht dagegen, im Gegenteil, sie drückte sich an ihn, als wollte sie für einen Moment seine ganze Stärke in sich aufnehmen. Sie verharrten auf diese Weise einige lange Minuten, ohne dass einer von ihnen die Notwendigkeit sah, auch nur ein Wort zu sagen.

Schließlich durchbrach Chakotay die Stille. „Mein Vater sagte einmal, dass das, was verloren gegangen ist, niemals aufgegeben werden sollte. Denn dann kann man es niemals wiederfinden.“ Er strich mit einer Hand über ihr Haar. „Glaubst du, wir können das, was wir gesehen haben, wiederfinden, Kathryn?“

Er fühlte, wie sie sich bei seiner Frage innerlich versteifte und vor allem, dass ihre Antwort sie selbst und ihn verletzen würde. Dennoch hinderte er sie nicht daran, sie auszusprechen. „Ich weiß es nicht, Chakotay. Ich weiß es wirklich nicht“, sagte Kathryn.

Durch die Fenster schien das Licht der Sterne herein. Und eines dieser Lichter war das jener weit entfernten Sonne, um die die ‚Neue Erde‘ kreiste.


Ende
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