TrekNation

Das ultimative Archiv deutscher Star Trek Fanfiction!

Stimmen im Wind

von Martina Strobelt

Kapitel 3

Innerhalb der dicken Mauern des alten Klosters, der offiziellen Residenz der Kai und daneben Sitz der Vedekversammlung, war von der Hitze dieses bajoranischen Sommertages nicht viel zu spüren. Julian Bashir fröstelte leicht, was sich gleichermaßen auf die Kühle der Wandelhalle zurückführen ließ, wie darauf, dass er sich hier praktisch in die Höhle des Löwen gewagt hatte. Zumindest dann, wenn Kiras Vermutung zutraf, dass Winn hinter all den mysteriösen Vorgängen steckte. Aber Vedek Sarius war nicht nur das jüngste Mitglied der Vedekversammlung, sondern auch sein Freund. Ihm konnte er vertrauen. Von ihm würde er, wenn auch nicht alle, dann doch wenigstens einige der Antworten erhalten, nach denen Kira, Odo und er so verzweifelt suchten.
Zumindest war Bashir mit dieser Hoffnung im Herzen nach Bajor gekommen. Doch nun sah es so aus, als würde dieser Besuch hier genauso erfolglos verlaufen wie der gestrige von Kira in der Klinik. Sarius hatte während ihres bisherigen Gesprächs auf keine von Bashirs Andeutungen und versteckten Fragen reagiert. Ihn durch kein Wort, keine noch so kleine Geste zur Offenheit ermutigt. Jedes Mal, wenn Bashir versucht hatte, das Gespräch durch eine zarte Anspielung in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken, hatte der Bajoraner sofort geschickt das Thema gewechselt. Es überraschte Julian nicht, dass Sarius einstimmig in die Vedekversammlung gewählt worden war. Sein Freund - sofern er es denn tatsächlich war, woran der Arzt an diesem Nachmittag so langsam zu zweifeln begann - war der geborene Diplomat.
„Wirklich erstaunlich, dieser Temperaturunterschied, nicht wahr, Julian“, meinte Sarius gerade im Plauderton. „Hier drinnen könnte man meinen, dass bereits Herbst sei. Ein Kloster ist wie eine eigene kleine Welt. Unberührt von dem, was außerhalb ihrer Grenzen vorgeht. Schauen Sie sich diese Wände an, Julian. Über Jahrhunderte haben sie allen äußeren Einflüssen getrotzt. Sie haben die Besatzung überstanden. Sie werden noch stehen, wenn unsere Körper schon längst zu Staub geworden und unsere Seelen bei den Propheten sind. Dies ist das älteste Kloster Bajors. Wussten Sie das, Julian? Es wurde aus Felssteinen gebaut. So massiv, dass sie Wärme einfach absorbieren. Es gibt nichts, das diese Mauern von außen durchdringen kann.“
Umgekehrt ebenso wenig, ergänzte Bashir in Gedanken. Laut sagte er: „Auf der Erde haben wir auch sehr viele alte Gebäude. Die meisten Menschen haben eine Schwäche für Dinge, die schon existierten, lange bevor sie geboren wurden. Besonders dann, wenn sich Mythen und Legenden darum ranken. Geheimnisse üben eine starke Anziehungskraft auf uns Menschen aus. Genau wie ungelöste Rätsel. Es ist die Faszination des Verborgenen, verstehen Sie ...“
Sarius lächelte. „Natürlich. Spätestens seit Sie mir das Privileg erwiesen haben, mich bei meinem letzten Besuch auf DS9 mit Lieutenant Dax bekannt zu machen. Seitdem frage ich mich unablässig, wie es wohl sein muss, all die Geheimnisse dieses Universums aus der Perspektive eines Trills zu betrachten. Nach so vielen Leben kennt man wahrscheinlich mehr Wahrheiten - mehr Antworten als Sie und ich uns Fragen vorstellen könnten.“
„Nun ...“, Bashir erwiderte das Lächeln und beschloss, alles auf eine Karte zu setzen ...
Er hatte genug von Sarius’ Taktik, ihm mit freundlichen Worten auszuweichen ...
Ich kann mir eine Menge Fragen vorstellen, auf die der Symbiont in Jadzia mit Sicherheit keine Antwort weiß. Es sei denn, einer seiner früheren Wirte wäre entgegen meines Wissens ein Bajoraner gewesen. Ein Vedek vielleicht. Oder eine junge Prylarin mit Namen Kala Eilan ...“
Sarius war stehengeblieben. Außer ihnen befand sich nur noch ein älterer Vedek in der Wandelhalle. Sarius warf ihm einen verstohlenen Blick zu, bevor er Bashir wieder sein Gesicht zuwandte, das plötzlich sehr ernst geworden war. Die Heiterkeit, die eben noch in seinen Zügen gelegen hatte, war einem Ausdruck der Sorge gewichen, die erkennbar nicht ihm selbst galt.
„Auf manche Fragen gibt es keine Antwort. So wie es Fragen gibt, die man niemals stellen sollte. Oder Antworten, die man besser nie erfahren hätte.“
„Warum? - Weil es zu gefährlich wäre?“
Sarius schwieg. Dann, nach einer kleinen Weile, die Bashir wie eine Ewigkeit vorkam, richtete der Vedek seinen Blick auf einen imaginären Punkt hinter ihm.
„Es tut mir leid, Julian, aber es gibt nichts, das ich Ihnen über Kala Eilan zu sagen vermag. Dinge entstehen, um zugrunde zu gehen. Das ist der Lauf der Welt. Darin unterscheiden wir uns in nichts von einem ...“, er zögerte kurz, bevor er fortfuhr, „Tekeli. - Das ist ein kleines buntes Insekt“, fügte Sarius erklärend hinzu, als er Bashirs fragenden Blick bemerkte. „Angeblich soll seine Art schon seit Anbeginn der Zeit hier auf Bajor leben. Ein zerbrechliches Geschöpf mit sehr zarten Flügeln. Bisweilen verirren Tekelis sich sogar hierher. Sie kommen durch winzige Risse im Felsen. Aber ohne Sonne, ohne Wärme gehen sie zugrunde. So wie dieser hier.“ Sarius bückte sich und hob etwas vom Boden auf, das sich bei näherer Betrachtung als ein offenbar totes Insekt erwies. Er reichte es Bashir.
Obwohl der Terraner es sehr behutsam entgegennahm, brach einer der vertrockneten Flügel ab. Früher einmal mochte der Tekeli in allen Farben geschillert haben. Nun war er nur noch eine blasse Chitin-Hülle, die zwischen Julians Fingern zu Staub zerfiel.
„Soll das eine Warnung sein, Sarius?“
Das Gesicht des Vedeks war ausdruckslos. „Wir alle müssen einmal sterben. Am Ende ist es nur die Erinnerung an unsere Taten, die unseren Tod überdauern wird. Das sollten Sie niemals vergessen ...“

***

Bashir beendete seinen Bericht mit einem hoffnungsvollen Blick auf Kira, mit der er gemeinsam in Odos Büro saß. Er war sicher, dass Sarius’ Warnung mehr als das gewesen war. Aber so sehr er sich während des Rückfluges auch das Gehirn zermartert hatte, ihm wollte der Sinn dieser letzten Bemerkung des Vedeks einfach nicht aufgehen.
Odo war anzusehen, dass er mit Sarius’ Worten ebenso wenig etwas anfangen konnte wie Bashir. Kira jedoch hatte bei Julians Erzählung mehrmals leicht die Stirn gerunzelt. Ein Zeichen, dass sie zumindest teilweise die Bedeutung dessen kannte, was Sarius gesagt hatte.
„Am Ende ist es nur die Erinnerung an unsere Taten, die unseren Tod überdauern wird“, wiederholte die Bajoranerin leise. „Irgendwo habe ich das schon einmal gelesen.“
„Könnte es eine Passage aus den Schriften der Propheten sein?“, fragte Odo.
„Davon dürfen Sie ausgehen“, bestätigte Kira. „Allerdings hatte ich in meinem bisherigen Leben selten die Muße, mich mit den heiligen Schriften zu beschäftigen. Trotzdem bin ich sicher, diesen Satz vor nicht allzu langer Zeit gelesen zu haben. Ich sehe es geradezu bildlich vor mir.“
„Also“, bemerkte Bashir. „Für mich klingt das ziemlich - entschuldigen Sie, Nerys - morbid. Wie eine Grabinschrift oder ...“
„Inschrift!“, wurde er von Kira unterbrochen. „DAS ist es, Julian! Erinnern Sie sich noch an den Festakt, mit dem im letzten Jahr das erste Heim für Mischlingswaisen auf Bajor eingeweiht wurde?“
„Sicher, aber was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?“
„Es war ein Orden, der das Heim gegründet hat, nachdem alle staatlichen Stellen die Augen vor dem Problem verschlossen hatten. Daher auch die Inschrift über dem Tor, die ganz bewusst einen Tadel an die Regierung enthielt. Sie müssen sie bei der offiziellen Einweihung auch gelesen haben, Julian. – Bareil ...“, Kira stockte kurz. „... Bareil fand den Spruch sehr passend ... Am Ende ist es nur die Erinnerung an unsere Taten, die unseren Tod überdauern wird ...“
„Richtig, jetzt erinnere ich mich wieder“, sagte Bashir. „Die Leiterin des Heimes war eine sehr sympathische, warmherzige Frau. An den Namen kann ich mich zwar nicht mehr entsinnen, aber ich fand damals, dass sie ziemlich viel Ähnlichkeit mit Kai Opaka hatte.“
Kira nickte. „Ja, das fand ich auch. Sie hieß, glaube ich Mellit, oder so ähnlich, ich habe es vergessen. Doch das macht nichts. Wenn Kala Eilan, wovon ich inzwischen überzeugt bin, aus welchem Grund auch immer in diesem Heim gewesen ist, dann wird diese Frau es uns bestimmt nicht verheimlichen.“

***

Diesmal hatte Kira darauf verzichtet, sich zu verkleiden. Es lag nicht in ihrer Absicht, die Leiterin des Heimes zu täuschen. Vielmehr wollte sie mit ihr ganz offen über Kala Eilan sprechen. Sie war sich des Risikos bewusst, das sie damit einging. Doch sie hatte immer ihren Instinkten vertraut. Und diese sagten ihr, dass sie hier die Wahrheit nur finden würde, wenn sie bereit war, ihrerseits auf Lügen zu verzichten ...
Der Anblick der Mischlingskinder jeden Alters, die ihr auf dem Weg zum Büro der Leiterin begegnet waren, hatte Kira das Herz schwer gemacht. Es waren so viele, so entsetzlich viele. Die Kinder trugen keine Schuld am Leid ihrer Mütter. Aber für Kira dokumentierte jedes einzelne von ihnen schmerzlich, was die Besatzer ihrem Volk angetan hatten. Sicher, das eine oder andere Kind mochte einer freiwilligen Verbindung entsprungen sein. Mehr als eine Bajoranerin hatte sich auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen mit den Cardassianern arrangiert. Bisweilen hatte es sogar Bajoranerinnen gegeben, die sich ernsthaft in einen Cardassianer verliebt hatten. Doch Kira bezweifelte, dass Letztere ihre Kinder im Stich gelassen hätten. Nein, wahrscheinlicher war es, dass einige der Kinder das Produkt einer rein zweckmäßigen Beziehung - die meisten von ihnen jedoch die Folge einer brutalen Vergewaltigung waren.
Konnte man da ihren Müttern einen Vorwurf daraus machen, sie verstoßen zu haben? Kira war froh, dass es ihr erspart geblieben war, jemals in die Lage dieser Frauen geraten zu sein - und genau wie damals, als das Heim eingeweiht worden war, fühlte sie sich deswegen schuldig ...
Niemand hatte sie am Tor aufgehalten. Eine junge Prylarin hatte sie höflich gefragt, wohin sie wolle und ihr, nachdem sie erklärt hatte, dass ihr Besuch der Leiterin galt, den Weg gezeigt.
Nun stand Kira vor der Tür, hinter der sie sich Antworten zu finden erhoffte. Nach einem kurzen Zögern betätigte sie den Melder.
Geräuschlos glitten die beiden Türhälften auseinander und gaben den Blick auf ein kleines, ausschließlich an praktischen Erwägungen orientiert eingerichtetes Büro frei. Auf die Frau in der roten Vedekrobe, die hinter dem schmucklosen Schreibtisch gesessen hatte, und die nun aufstand, um die Besucherin zu begrüßen.
„Die Propheten seien mit Ihnen, Sie wollten mich sprechen ...?“
Die Antwort auf diese traditionelle Grußformel blieb Kira im Hals stecken als sie das Gesicht der Frau sah. Sie war der Leiterin des Heimes erst einmal anlässlich seiner Einweihung begegnet, und ein Jahr konnte jeden verändern. Aber mit Sicherheit wurde niemand jünger - und diese Frau, die sie gerade freundlich anlächelte war mindestens 20 Jahre jünger als diejenige, die sie bei der Einweihung gesehen hatte, was nur einen Schluss zuließ, nämlich, dass es sich hier nicht um dieselbe Person handelte.
„Bitte entschuldigen Sie die Störung“, sagte Kira, während sie fieberhaft überlegte, welche Ausrede am glaubhaftesten klingen würde. „Aber ich ... bin auf der Suche nach einem Kind, es heißt Raluk ...“ Das war der erste Name, der ihr einfiel. „... und man sagte mir, dass Sie mir vielleicht weiterhelfen könnten.“
„Hm“, die Finger der Vedek glitten über ein Computerpadd. „Leider nein“, erklärte sie dann bedauernd. „Hier bei uns befindet sich kein Kind, das so heißt. Sind Sie sich sicher, ich meine in Bezug auf den Namen?“
Kira nickte hastig. „Völlig. Es war eine inoffizielle Anfrage aus ... Cardassia, Sie verstehen?“
Die eben noch freundliche Miene der Geistlichen vereiste. „Ich denke schon, Major. Wirklich erstaunlich“, fuhr sie mit einem Seitenblick auf Kiras Rangabzeichen fort, „... dass das bajoranische Militär sich um cardassianische Anfragen dieser Art kümmert ...“
Kira zuckte mit den Achseln. „Die Zeiten haben sich geändert, Vedek.“

***

Kiras Finger veranstalteten einen Trommelwirbel auf der Lehne ihres Stuhles, während sie Odo beobachtete, dessen Blick auf eine Reihe von Daten auf dem Monitor auf seinem Schreibtisch gerichtet war. Schließlich hielt die Major es nicht mehr aus.
„Und ...?“
„Das ist sehr interessant. Weder in der Liste der Insassen noch der Beschäftigten des Heimes findet sich der Name Kala Eilan. Es gibt auch keinen Hinweis auf eine frühere Leiterin, mit einer Ausnahme. Eine Kleinigkeit, die offenbar übersehen wurde. Vielleicht hat man sie auch nicht für so wichtig erachtet. In den Daten steht, dass eine gewisse Vedek Zila vor circa sechs Monaten zur Leiterin des Heimes befördert wurde. Am selben Tag ist ein Vedek namens Tarun zu ihrem Stellvertreter ernannt worden. Die Daten sprechen auch in diesem Fall von einer Beförderung. Daraus können wir schließen, dass sowohl Vedek Zila wie auch Vedek Tarun bereits vorher Positionen in dem Heim innehatten. Vermutlich war Zila bis zu jenem Tag vor sechs Monaten selbst noch die stellvertretene Leiterin. Ein Posten, der natürlich neu besetzt werden musste, als sie in der Hierarchie einen Platz nach oben rückte.“
„Mit anderen Worten, an diesem bewussten Tag vor sechs Monaten muss etwas geschehen sein, wodurch der Posten der Leiterin vakant geworden ist.“
Odo nickte. „Genau. Daher habe ich gerade eben das für diesen Bezirk zuständige lokale Sterberegister aufgerufen. Dort habe ich für den besagten Tag lediglich drei Einträge gefunden. Einer betrifft einen kleinen Jungen, der beim Spielen in einen See gefallen und ertrunken ist. Der zweite einen Mann in mittleren Jahren, der an einer Lungenerkrankung starb. Der dritte Eintrag betrifft eine ältere Geistliche, eine gewisse Vedek Merit, die bei einem Unfall ums Leben gekommen sein soll. Laut den Daten soll sie von einem losen Dachziegel erschlagen worden sein, der angeblich von einem starken Sturm heruntergerissen wurde. Nur, dass es laut Zentralcomputer an diesem Tag auf Bajor keine Unwetter gab. Und nun raten Sie einmal, Nerys, wie wohl der Name des Arztes lautet, der den Totenschein ausgestellt hat ...“
„Anouk?!“
„So ist es. Interessant, nicht wahr?“
„Ja, doch es beweist lediglich, dass zwischen Merits Tod und dem Verschwinden von Kala Eilan eine Verbindung besteht. Aber wo ist die Verbindung zu Vedek Seran, die zu Jamil Cyric? Wie passt das alles zusammen?“
„Das frage ich mich auch. Ich denke, dass wir die Antwort irgendwo in der Vergangenheit finden werden. Was hat Vedek Merit gemacht, bevor sie die Leitung des Heimes übernahm? Wo war Vedek Seran bevor er nach DS9 kam? Sagen Sie, Nerys, wird in der Residenz der Kai nicht über jedes Mitglied der religiösen Gemeinschaft Bajors eine Akte geführt? Mir ist so als ob Vedek Bareil so etwas einmal erwähnt hat.“
Ein Schatten flog bei der Erwähnung von Bareil über Kiras Gesicht. Sie drängte den Schmerz beiseite. Dafür war jetzt keine Zeit. „Das ist richtig. Aber diese Daten sind streng vertraulich und ausschließlich der Kai und den Mitgliedern der Vedek-Versammlung zugänglich. Natürlich könnten wir versuchen, uns Zugang zum System zu verschaffen, indem wir die Sicherheits-Codes umgehen, oder ...“, sie brach ab.
„Oder was?“, hakte Odo nach.
„Bareil ... war Mitglied der Vedekversammlung. Wir ... könnten es mit seinem ... persönlichen Passwort versuchen. Es ist nicht so wie Sie denken. Bareil hätte niemals eine vertrauliche Information weitergegeben. Nicht einmal an mich. Es war ... Zufall, dass ich das Passwort herausgefunden habe, Bareil hat es ... nie erfahren ...“
„Ist das Passwort nach Vedek Bareils Tod nicht aus der Liste gelöscht worden?“
„Vielleicht ... Wissen Sie, Bareil hatte dieses Kennwort noch nicht sehr lange. Ursprünglich war es das von Kai Opaka, und nach ihrem ... Weggang bat Bareil offiziell darum, es anstelle seines alten übernehmen zu dürfen. Aus Respekt für diese großartige Frau. Nun, die anderen Mitglieder der Vedekversammlung hatten ohnehin ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, Opakas Kennwort zu löschen, obwohl sie genaugenommen ja gar nicht tot war. Und da alle glaubten, Bareil würde der nächste Kai werden, und Opaka einverstanden war, erhob keiner Einwände.“
„Und nun meinen Sie, dass einer der anderen Mitglieder der Vedekversammlung nach Bareils Tod seinem Beispiel gefolgt und nun Inhaber dieses speziellen Kennwortes sein könnte?“
„Kai Opaka war eine bewundernswerte Persönlichkeit. Bareil genoss ebenfalls sehr viel Anerkennung. Es wäre möglich. Zumindest wäre es einen Versuch wert ...“
Odo gab eine Reihe von Daten in das Terminal auf seinem Schreibtisch ein. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte er die gewünschte Verbindung hergestellt.
„Bitte“, sagte er, während er aufstand und den Platz für Kira räumte. „Bedienen Sie sich ...“
Vergib mir, Bareil, dachte die Bajoranerin, dann folgte sie der blinkenden Aufforderung auf dem Display und tippte das verlangte Passwort ein. „Bei den Propheten, es hat funktioniert“, teilte sie Odo mit, als das System die erfolgreiche Anmeldung bestätigte. „Wessen Akte soll ich als erste aufrufen? Die von Kala Eilan? Um den Beweis zu haben, dass sie tatsächlich existiert?“ Kira wartete Odos Antwort nicht ab.
Auf ihre Eingabe erschienen einige Zeilen im Display. Informationen darüber, wann und wo eine gewisse Prylarin namens Kala Eilan geboren worden, wann sie ins Kloster eingetreten war. Nichts Wichtiges, mit Ausnahme der Tatsache, dass Kala als Assistentin der Leiterin in eben jenem Heim für Mischlingswaisen gearbeitet hatte. Bis zu jenem Tag, an dem Vedek Merit ums Leben gekommen war. Der letzte Eintrag lautete, dass die Prylarin Kala Eilan zwecks Behandlung einer plötzlich ausgebrochenen Geisteskrankheit in die Klinik eines gewissen Doktor Anouk eingewiesen worden war.
Als nächstes rief Kira Merits Akte auf, um festzustellen, dass sie von der Einweihung bis zum Tag ihres Todes Leiterin des Heimes für Mischlingswaisen gewesen war. Als Ursache ihres Todes wurde hier Unfall genannt, ohne nähere Erläuterung. Bevor Merit zur Leiterin des Heimes ernannt worden war, hatte sie mehrere Jahre in einem Kloster in der Provinz Kashabar gelebt. Darüber, wo sie vorher gewesen war, gab es keine Informationen.
Entgegen ihren Erwartungen fand Kira in der Akte von Jamil Cyric nichts, was auf eine Verbindung zu Vedek Merit, Kala Eilan oder dem Heim für Mischlingswaisen, hindeutete. Jamil stammte aus einer der kleineren Provinzen. Er hatte seine Ausbildung zum Prylaren in einem der dortigen Klöster begonnen und auch abgeschlossen. Kurz danach war er nach DS9 versetzt worden. Das war alles.
Endlich dann, in Serans Akte, wurde Kira fündig. „Kashabar!“, entfuhr es ihr. „Odo, ich glaube ich habe die Verbindung gefunden, nach der wir gesucht haben. Laut diesen Daten wurde Vedek Seran auf eigenen Wunsch nach DS9 versetzt. Nur eine Woche nach Merits Tod. Davor hat er zehn Jahre in der Provinz Kashabar verbracht - und zwar in demselben Kloster wie Merit. Laut ihren Akten sind beide an demselben Tag in dieses Kloster gekommen - und weder in Merits noch in Serans Daten finden sich Informationen darüber, was sie davor gemacht haben. Bei Kala und Jamil finden sich Angaben darüber, wann sie ins Kloster eingetreten sind, wo sie ausgebildet wurden. Ihre Lebensläufe sind lückenlos. Ebenso wie die von Sarius.“ Kira drückte ein paar Tasten und im Display erschien die Akte von Vedek Sarius. „Der gesamte religiöse Werdegang vom Prylaren bis zum Mitglied der Vedekversammlung ist vollständig aufgeführt. Wieso enthalten diese Akten komplette Daten, während die von Merit und Clavius erst mit ihrer Ankunft in Kashabar beginnen?“
Kashabar“, wiederholte Odo nachdenklich. „Bringen Sie diese Provinz mit irgendeinem besonderen Ereignis in Verbindung?“
„Das über ZEHN Jahre zurückliegt?! Bei den Propheten, Odo! Vor zehn Jahren war ich in Dakhur bei der Shakaar. Ich kämpfte und tötete Cardassianer. DAS sind meine Erinnerungen aus dieser Zeit. Wir könnten es natürlich mit dem Zentralcomputer versuchen. - Aber die Daten wurden damals nicht besonders gut gepflegt. Eigentlich gar nicht, um genau zu sein. Auf Bajor hatte man andere Sorgen. Zumal die Cardassianer die einzigen waren, die ein Interesse an einer zentralen Datenerfassung hatten, und die hatten ihr eigenes System hier oben auf Terok Nor. Doch das müssten Sie eigentlich besser wissen als ich ...“
Odo ließ sich nicht anmerken, dass ihre Worte ihn getroffen hatten. Er war sicher, dass sie ihn nicht hatte verletzen wollen. Sie wusste, dass er auch als Sicherheitschef unter Gul Dukat nur der Gerechtigkeit gedient hatte, keinem sonst. „Mit Ausnahme von Vernehmungsprotokollen lag die Erfassung von Daten außerhalb meiner Zuständigkeit“, sagte er daher ruhig. „Vermutlich weil meine Art, Vorgänge darzustellen, nicht ganz der Gul Dukats entsprach.“
„Das glaube ich gerne“, meinte Kira. „Cardassianer hatten schon immer eine sehr eigene Auffassung von der Wahrheit. Trotzdem ist es sehr schade, dass Gul Dukat vor seinem Abzug den Hauptspeicher gelöscht hat. Mich hätte nämlich brennend interessiert, ob die Cardassianer die Provinz Kashabar vielleicht vor über zehn Jahren mit einem besonderen Vorfall in Verbindung gebracht haben.“
„Nun denn, warum stellen wir es nicht einfach fest ...“
„Wie? Gul Dukat hat alle Daten des Zentralcomputers gelöscht.“
„Mag sein. Aber das betraf lediglich den Hauptspeicher, jedoch ...“ Odo griff in ein Fach seines Schreibtisches und zog einen kleinen Datenkristall heraus. „... nicht meine Sicherheitskopien.“
Verblüfft starrte Kira ihn an. „Bei den Propheten, ich kann es nicht fassen. Sie haben Gul Dukats Daten kopiert?! Ich nehme an, das geschah ohne Wissen des Präfekten ...“
„Andernfalls würden weder der Kristall noch ich mich wohl hier und jetzt in diesem Büro befinden, und bevor Sie sich zu große Hoffnungen auf cardassianische Geheimnisse machen, dieser Kristall enthält lediglich Daten über offizielle Ereignisse. Nur Informationen, zu denen ich als Sicherheitschef von DS9 ohnehin Zugriff hatte. Ich habe mich in meinem eigenen Interesse lediglich nicht darauf beschränkt, die Daten nur zu lesen, sondern ich habe sie zusätzlich gespeichert. - Aus Sorge, der Zentralcomputer könnte Ziel eines Sabotageaktes des Widerstandes werden. Denn damals brauchte ich diese Daten für meine Arbeit. Der Präfekt wusste nichts davon. Allerdings hatte er es mir auch nicht ausdrücklich verboten, ansonsten würde es diese Kopien nicht geben. Falls Sie deswegen enttäuscht sein sollten, tut es mir leid. Aber ich war der einzige Garant für Gerechtigkeit auf Terok Nor. Ich wäre es nicht lange geblieben, wenn ich Gul Dukats Vertrauen missbraucht hätte. Ich hoffe, dass Sie das verstehen ...“
Vor fünf Jahren hätte Kira dies verneint. Aber vieles war anders geworden. Die Zeiten hatten sich geändert, und mit ihnen hatte sie sich verändert. Heute konnte sie ohne Groll, ohne Bitterkeit im Herzen zustimmend nicken, und sie war froh, dass es so war.
Odo legte den Datenkristall in sein Terminal, dann rief er alle verfügbaren Informationen zu dem Tag auf, an dem Merit und Seran in das Kloster in Kashabar eingetreten waren.
Verhöre, Exekutionen. So viele bajoranische Namen. So viele Leben, die an diesem Tag geendet hatten. Kira schwankte leicht und musste sich an der Schreibtischkante abstützen. So viele Namen, und das war nur ein einziger Tag gewesen ...
Aber es gab auch andere Einträge. Ein cardassianischer Offizier war Vater geworden. Einige betrunkene Soldaten hatten sich geprügelt und waren unter Arrest gestellt worden. Der Besitzer des Kasinos, ein gewisser Ferengi namens Quark, hatte versucht, Kanar mit billigem Fusel zu strecken, wofür er eine nicht unbeträchtliche Geldbuße hatte zahlen müssen ...
Die meisten Einträge betrafen Terok Nor oder irgendwelche Strafaktionen, die in den Arbeitslagern auf Bajor an diesem Tag durchgeführt worden waren. Daneben war an einer Stelle die Rede von einem böswilligen Sabotageakt durch gewissenlose bajoranische Rebellen, der die Erzanlage für Stunden außer Betrieb gesetzt hatte. Es gab dazu ergänzend die erstaunliche Notiz, dass fünf verdächtige Bajoraner wegen erwiesener Unschuld aus der Haft entlassen worden waren …
„Ich erinnere mich flüchtig“, meinte Odo, als er Kiras fragenden Blick bemerkte. „Sie hatten kein Alibi, deshalb waren sie festgenommen worden. Doch dann befahl Dukat, sie auf freien Fuß zu setzen. Warum, das konnte ich leider nie in Erfahrung bringen.
Kira konzentrierte sich wieder auf die Daten auf dem Display. Sie las den Auszug aus einer Rede, die Dukat seiner Truppe gehalten hatte sowie offizielle Glückwünsche an den Gouverneur einer bajoranischen Provinz, weil er einen Überfall des Widerstandes erfolgreich abgewehrt hatte ...
Dann, zwischen einer Meldung über einen Festakt, mit dem ein neues Forschungszentrum eingeweiht worden war und einem Bericht über den Besuch einer hochrangigen Wissenschaftlerin, eine knappe Notiz über eine Gruppe Geistlicher, die sich in den Bergen der Provinz Kashabar offenbar verirrt hatten, in einen Sturm geraten und abgestürzt waren. Es folgte eine formelle Bestätigung dieser Nachricht durch Kai Opaka, der Text einer von Dukat unterschriebenen offiziellen Beileidserklärung an das bajoranische Volk sowie eine Liste, die zwölf Namen unter Angabe des jeweiligen Geburts- und Todesdatums umfasste.
Kira schluckte ihren Zorn über den Zynismus dieser Beleidserklärung an das bajoranische Volk herunter. Sie durfte sich nicht durch den Gedanken daran ablenken lassen, dass Dukat diese Erklärung wahrscheinlich beiläufig zwischen anderen Schriftstücken unterzeichnet hatte, in denen er Bajoraner in Minen schickte oder zum Tod verurteilte. Sie konzentrierte sich auf die Namensliste. Neun der aufgeführten Personen waren Prylare gewesen. Alle blutjung. Keiner der fünf Jungen und vier Mädchen war älter als 17 gewesen. Bei den anderen drei Toten hatte es sich um Vedeks gehandelt. Zwei Männer und eine Frau. Im Gegensatz zu den ihnen anvertrauten Prylaren hatten alle drei die 50 schon deutlich überschritten ...
„Tirem, Nares, Sakur“, las Kira diese drei letzten Namen halblaut vor, während sie sich über Odos Schulter beugte, durch einen Knopfdruck in das immer noch aktive Archivprogramm der religiösen Gemeinschaft Bajors zurückwechselte und die entsprechenden Akten aufrief.
Sie wiesen keine Gemeinsamkeiten auf. Abgesehen davon, dass die drei Vedeks am selben Tag vor über zehn Jahren bei einer Wanderung in Kashabar ums Leben gekommen waren. Die jeweils letzte Information jedoch irritierte Kira, da es hier in allen drei Akten gleich lautete. Nämlich, dass die Leiche nie gefunden wurde. Als sie Odo darauf hinwies, zuckte der Sicherheitschef mit den Schultern.
„In einem Gebirge gibt es viele Schluchten, tiefe Felsspalten. Gul Dukat wird sich nicht die Mühe gemacht haben, die Toten suchen zu lassen - und kaum ein Bajoraner verfügte damals über die technische Ausrüstung, die für eine Bergung nötig gewesen wäre. Die wenigen, die eine hatten, brauchten sie dringender für die Lebenden ...“
Schweigend betätigte Kira eine Taste und rief die Akte des ersten Prylaren auf der Liste auf. Sie enthielt keinen Hinweis auf das Fehlen der Leiche - genauso wenig wie die der anderen Prylaren, die Kira nun hintereinander abfragte.
„Es mag in den Bergen von Kashabar jede Menge Schluchten geben. Aber weshalb sind offenbar nur die Vedeks dort hineingestürzt? Oder glauben Sie etwa, dass der Hinweis in den Akten der Prylaren nur vergessen wurde? Nicht, dass so etwas nicht versehentlich passieren könnte. In einer, von mir aus auch in zwei oder drei, aber in NEUN Akten?“
„Sie haben recht, das ist merkwürdig ...“
„Die Angehörigen!“, entfuhr es Kira. „Natürlich, die Familie möchte den Toten manchmal vor der Beerdigung noch sehen. Wenn diese drei Vedeks also, wovon wir ausgehen dürfen, Familien hatten, dann ...“
„... musste eine Begründung dafür her, warum es keine Leichen gab“, fiel Odo ein. „Bleibt die Frage, was der tatsächliche Grund war. Und nach allem gibt es darauf nur eine logische Antwort. Nämlich die, dass die Vedeks zu diesem Zeitpunkt noch am Leben waren.“
„Sie meinen, sie sind nicht bei dem Absturz umgekommen?“
„Richtig. Entweder waren sie nicht bei der Gruppe als es passierte - oder aber es hat damals überhaupt keinen Absturz gegeben.“
„Aber Kai Opaka hat die Nachricht offiziell bestätigt.“
„Sie könnte getäuscht worden sein. Ich bin mir absolut sicher, dass die drei Vedeks damals nicht in Kashabar gestorben sind. Überlegen Sie doch, Nerys! Auf der einen Seite drei angeblich tote Vedeks. Ums Leben gekommen an einem ganz bestimmten Tag vor über zehn Jahren, ohne dass die Leichen je gefunden wurden. Auf der anderen Seite haben wir zwei tote Vedeks, deren offizielle Existenz ganz zufällig in Kashabar genau an dem Tag begonnen hat, an dem der Absturz gewesen sein soll. Und nun schauen Sie die Namen an, Tirem, Nares und Sakur. Auf den ersten Blick scheint kein Zusammenhang zu bestehen. Aber rückwärts gelesen würden sie anders lauten. Nämlich Merit, Seran und Rukas. Der letzte Beweis, dass es sich hier um identische Personen handelt.“
„Von denen zwei inzwischen tatsächlich tot sind“, ergänzte Kira. Wieso war ihr nicht selbst schon beim ersten Lesen die Ähnlichkeit der Namen aufgefallen? Wie kam es nur, dass man auf das Naheliegende immer erst zuletzt kam? „Merit und Seran können uns nicht mehr verraten, was damals in Kashabar wirklich geschehen ist“, fuhr sie fort, während ihre Finger über das Eingabefeld flogen, „… aber der dritte, Sakur - oder besser Rukas, wie er sich seit damals nennt, sehen Sie, Odo?“ Kira nickte in Richtung des Displays, auf dem Rukas’ Akte erschienen war. „Sie hatten recht. Genau wie bei Merit und Seran. Keine Einträge bis zu dem Tag, an dem der Absturz passiert sein soll. Und genau wie die beiden anderen ist Rukas an diesem Tag in das Kloster in Kashabar aufgenommen worden. Nur mit dem Unterschied, dass er immer noch dort ist - und er ist auch noch am Leben.“
„Noch, Nerys“, sagte Odo ernst. „Hoffen wir, dass er es lange genug bleiben wird, um unsere Fragen zu beantworten.“
Rezensionen