TrekNation

Das ultimative Archiv deutscher Star Trek Fanfiction!

Siegfried

von werewolf

Kapitel 1

Die Sterne zeigten sich unbeeindruckt von der Weihnachtsstimmung an Bord. Chakotay wurde immer ein wenig sentimental bei dem Gedanken, dass es abertausende von ihnen gab, die gleichmäßig von ihren Planeten umkreist wurden, die manchmal noch Monde mit sich führten. Egal, was im Universum passierte, ob ein Individuum starb oder ein ganzes Volk, sie ließen sich davon nicht beeinflussen, zogen gleichmäßig ihre Bahnen, auch wenn auf ihnen Lebenswelten zusammenbrachen.

Ärgerlich über sich selbst schüttelte er den Kopf. Andere mussten sich wenigstens betrinken, um derartig in der Melancholie zu versinken, ihn hingegen überkam es manchmal einfach. Und das als erster Offizier.
Die fröhliche Stimmung an Bord konnte er nicht teilen. Weihnachten hatte für ihn nie eine besondere Rolle gespielt, und das hatte sich auch nicht geändert, seit sie im Deltaquadranten festsaßen. Ohne Aussicht auf eine Heimkehr. Aber was machte das schon. Zuhause wartete keine Familie auf ihn. Er hatte ein Kind, eines, das er nicht mal selbst gezeugt hatte, aber das spielte keine Rolle. Er war dennoch sein Sohn.
Der in unerreichbarer Ferne war, für Seska nichts weiter als eine Waffe gegen ihn. Ein intelligentes Wesen war Mittel zum Zweck.
Das Universum war ein grausamer Ort.

Schon wieder versank er in der Melancholie. Das musste aufhören. Zu viel Denken war nicht gesund. Nur dass ihm Weihnachten immer wieder vor Augen führte, wie sehr er eine Familie vermisste.

Sein Blick fiel auf Seven of Nine, oder besser gesagt Annika, auch wenn sie niemand so nannte. Sie war so eine verlorene Seele wie er. Ihre Familie waren die Borg gewesen, sie hatte fast nichts anderes gekannt, und er wusste, dass sie sich zu diesem Volk zurücksehnte. Sie sagte es nie, aber er las es in ihren Augen. Man quälte sie nur, wenn man aus ihr eine Person wie alle anderen machen wollte, fand er. Sie konnte nicht mehr so werden, genauso wie er wohl keinem Cardassianer die Hand reichen könnte. Oder wie man nicht atmen konnte, wenn man aus der Luftschleuse des Schiffes geworfen wurde.

Sie beobachtete ihn ebenfalls, das bemerkte er. Was sie wohl über ihn dachte? Eigentlich müsste er sie einmal ansprechen, teilten sie doch ein ähnliches Schicksal. Und sie interessierte ihn. Rein menschlich gesehen, natürlich. Er würde auf jeden Fall davon absehen, sich eine Partnerin zu suchen. Solche Verbindungen erzeugten Schwäche, Angreifbarkeit. Bei seinem Sohn hatte er das bereits erlebt. Er würde alles tun, um ihn auf die Voyager zu holen, und wenn es noch eine weitere Person gab, für die er sogar sein Leben opfern würde, konnte er auch gleich den Freitod wählen.

Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und trat zu ihr. Sie bedachte ihn mit einem fragenden Blick, schließlich hatten sie zuvor selten ein paar außerdienstliche Worte gewechselt.
„Wollen wir irgendwo anders hingehen?
„Wie Sie wünschen.“

„Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“ Sie standen Seite an Seite an einem Fenster, durch das man den Shuttlehangar betrachten konnte.
Sie nickte auffordernd.
„Wenn Sie frei wählen könnten – wären sie dann lieber bei den Borg oder hier?“
Ihr Gesichtsausdruck zeigte für einen Moment deutlich ihren inneren Zwiespalt. Diese Art von Konflikt hatte er schon oft gesehen. Reden oder nicht reden. Sie kannten sich nicht wirklich, er wusste, dass er mit dieser Frage vielleicht zu weit gegangen war. Aber andererseits musste jeder irgendwann einmal sein Gewissen erleichtern und über belastende Dinge sprechen.
„Wollen Sie eine ehrliche Anwort?“
„Bitte.“
Sie seufzte. „Bei den Borg. Dort war alles einfacher. Ich wusste, wie ich mich zu verhalten hatte, was die anderen von mir erwarten. Niemals war ich allein.“ Pause. „Und ich hatte kein Gewissen. Tötete, ohne zu bereuen. Zerstörte Leben, ohne einen Blick zurück zu werfen.“
Er nickte ernst. „Das verstehe ich. Wissen Sie, wie viele es waren?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht zwanzig Tote und ebenso viele Assimilierte, vielleicht mehr.“ Sie zögerte kurz. „Und Sie?“
„Im direkten Kampf vierzehn, zwanzig durch Attentate, etwa hundert durch die Zerstörung von Schiffen. Fünf Zivilisten. Und einen Kameraden auf dessen Wunsch hin.“
Sie schwiegen einen Moment lang. „Fühlen Sie Reue?“
Chakotay überlegte, ehe er antwortete. „Für die Unschuldigen ja. Für den Kameraden nicht, es war das Beste für ihn. Höchstens dafür, dass ich ihn im Vorfeld hätte schützen müssen. Und was die anderen angeht…sie waren Cardassianer. Täter, keine Opfer. Also nein.“

„Kennen Sie die Legende von Siegfried dem Drachentöter? Sie ist terranischen Ursprungs.“
„Mir ist der Inhalt im Wesentlichen bekannt. Ich las dieses Werk auf Empfehlung von Captain Janeway.“
„Ich erzählte sie manchmal meiner Crew.“
„Zu welchem Zweck? Drachen sind nur mythologische Geschöpfe, für deren Existenz nie ein Beweis gefunden wurde.“ Da war sie wieder, die ehemalige Borgdrohne. Das eben war ein seltener Moment gewesen, in dem sie über ihr Seelenleben gesprochen hatte, aber das war wohl nie von Dauer.
„Die Menschen und auch andere Völker wollten damit oft versteckt auf etwas hinweisen. Mythologische Kreaturen und sprechende Tiere waren eine Metapher für etwas anderes. Und das Volk war damals zumeist sehr abergläubisch.“
Pause.
„Die Stelle, die ich meine, ist die, bei der Siegfried im Drachenblut badet. Die Tötung eines anderen Wesens ermöglichte ihm die Unverwundbarkeit. Früher dachte ich, in gewisser Hinsicht sind wir alle Siegfried. Je mehr wir töten, desto unbesiegbarer werden wir. Ich sah es immer bei den Cardassianern. Sie sind Schlächter, und deswegen überleben sie. Sie badeten nicht im Drachenblut, sondern in dem von Bajoranern, aber der Effekt war der Gleiche. Und so verhielt es sich auch mit dem Maquis. Jedes Feindschiff, das wir zerstörten, machte uns stärker. Jeder getötete Gegner erhöhte unsere Chance, zu überleben.“
„Eine interessante Theorie. Aber wie verhält es sich dabei mit dem Lindenblatt?“
„Dafür hatte ich keine richtige Antwort, ging aber davon aus, dass es sich dabei um diejenigen handelte, die noch mehr Blut vergossen haben. Der Haken bei der Sache war einfach, dass es immer jemanden gab, der noch unverwundbarer war. In meinem Fall ein cardassianischer Gul, den ich im Nahkampf stellte. Wir waren beide über Leichen gegangen, um den jeweils anderen zu bekommen. Am Ende brachten wir uns gegenseitig fast um. Ich weiß nicht, was dann mit ihm passiert ist. Von meinen Leuten hat ihn angeblich niemand auch nur gesehen.“
„Wie ich Ihren Worten entnommen habe, sehen Sie das inzwischen anders?“
„Ich hatte kein Gewissen damals, kannte kein Pardon. Im Rückblick denke ich, ich wollte einfach der Unbesiegbarste werden, ohne Rücksicht auf Verluste. Damals dachte ich, der Hass auf die Cardassianer trieb mich an, aber heute glaube ich, es war die Gier nach Blut. Kein edles Motiv.“
„Könnte das nicht ebenfalls das Lindenblatt sein? Dass sich am Ende Gut und Böse nicht mehr wirklich unterscheiden?“

Er dachte erst nach, ehe er antwortete. „Ein interessanter Punkt. Ich muss gestehen, dass ich darüber noch nicht nachgedacht habe, aber sie haben Recht, glaube ich.“

Sie sagte immer, dass sie Gefühle nicht verstand, aber sie verstand sein Denken, und das war ihm noch so gut wie nie passiert. Dass jemand seinen Überlegungen wirklich folgen wollte, sich seine eigenen Gedanken dazu machte und mit ihm darüber diskutierte.

„Manchmal stehe ich hier und überlege, wie leicht es wäre. Einen Schritt nach draußen machen, wenn die Tore geöffnet sind, und alles wäre vorbei.“
Es überraschte ihn, dass sie jetzt wieder über ihre Gefühle sprach. Ein Wechsel zwischen Annika und Seven of Nine. Mal sah man die Eine, mal die Andere.
„Wollen Sie das?“
„Ich weiß es nicht. Es wäre nicht logisch, aber einfacher, als sich mit dem Leben hier zu plagen.“
„Den Gedanken hatten hier Viele und Einige haben ihn noch immer. Das Leben in diesem Quadranten stellt die Besatzung vor eine große Herausforderung, manche vor die größte ihres Lebens. Dafür muss man sich nicht schämen.“
„Bei den Borg gab es keine Herausforderungen. Nur Aufgaben. Keine Angst. Keine Skrupel. Keine Fragen. Keine Schuld.“
„Eigentlich wäre es jetzt meine Aufgabe, Ihnen über die unendlichen Vorzüge des individuellen und freien Lebens einen langen Vortrag zu halten“, meinte er mit einem kurzen Lächeln, „aber ich würde vorschlagen, wir verzichten darauf. Denn ich kann Ihnen nicht widersprechen. Kann Ihnen nicht sagen, dass Sie so werden sollen wir die anderen. Denn Sie sind nicht ‚die anderen‘. Die Zeit bei den Borg hat Sie geprägt und es ist in Ordnung, wenn sie dieser Epoche Ihres Lebens nachhängen, sie vermissen und ihre Vorzüge sehen. Assimiliert zu werden ist mit die größte Angst einiger Leute hier, aber Sie sehen das anders, und das ist völlig verständlich.“
Sie versuchte ein Lächeln. „Ich danke Ihnen. Für die unterbliebene Belehrung und für Ihr Verständnis.“

Er schlug vor, in den Gebetsraum zu gehen. Eine Räumlichkeit für alle Völker und Kulturen, zu ihren jeweiligen Göttern zu beten und viele verbrachten hier Zeit im stillen Angedenken.
„Zu welchem Zweck? Ich glaube an keine höhere Entität.“
„Wir können dort eine Kerze anzünden. Für die Toten und die, die überlebten. Für die vergangene Zeit, verpasste Chancen, verlorene Kämpfe und für unsere jeweilige Familie, von der wir nun getrennt sind.“
„Sie meinen, das hilft?“
„Ich weiß es nicht. Aber ein Versuch kann nicht schaden.“

Annika sagte nichts dazu, aber er spürte, dass dieses uralte Ritual ihr zumindest ein wenig inneren Frieden schenkte. Ihm ebenfalls. Zwar zählte dieses Vorgehen eigentlich nicht zu seiner Kultur, aber das war in diesem Moment auch unerheblich.

Eine sehr lange Zeit saßen sie dort, in aller Stille, während die restliche Crew ausgelassen feierte. Sie waren eben anders, sie beide, und es hatte keinen Zweck, das zu leugnen.
Bei diesem Ritual fand auch seine Hand die Ihre, und es erschien ihm ein natürlicher, ja sogar notwendiger Schritt zu sein. Als wäre das das einzig Vernünftige, was er tun konnte. Vielleicht war es auch an der Zeit, sich von seinem Vorsatz, niemanden mehr zu nahe an sich heranzulassen, zu verabschieden. Man musste neue Wege gehen manchmal, etwas, was ihm sein Vater auf seine Art immer hatte beibringen wollen. Und etwas, was er erst jetzt wirklich verstand. Er würde dankbar sein für jeden Schritt auf dem Lebensweg, den sie gemeinsam gehen konnten, unerheblich, wie lange es dauern würde.

Spät in der Nacht kehrte er noch einmal in diesen Raum zurück, um allein eine weitere Kerze zu entzünden. Für Siegfried. Den Damaligen und für den, den er hatte sein wollen. Und für alle anderen.
Rezensionen