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Zwei Hände voll

von MaLi

Herbst

Ayel schwirrte der Kopf. Er hatte kaum geschlafen und das Gefühl, erst gerade die Augen geschlossen zu haben. Vor zwei Minuten weg gedämmert und jetzt musste er schon wieder aufstehen. Zumindest fühlte es sich so an. Während Tomek, K’Amon und Nawin bereits aus den Betten kletterten und den Pyjama gegen kurze Sommerkleidung austauschten, seufzte er selbst noch einmal tief ins Kissen. Die Matratze sank merklich ein, als sich ein Betreuer hinter ihn setzte. Ein Zeigefinger strich sanft über seine kleine Hand, die dicht bei seinem Kopf unter der Wolldecke hervor lugte.

„Ayel?“, fragte Narumek leise, „Ist alles okay? Du bist sonst einer der Ersten, die aufstehen …“

Der Junge blinzelte nur langsam und schwieg. Ihm war gerade wieder eingefallen, was heute für ein Tag war: Der erste Tag von Panyas letzter Woche. Schon wieder würde jemand von ihm fort gehen. Fort und nie mehr zurück kommen. Ausgerechnet Panya … Narumek brummte sanft, als ein trockenes Schluchzen aus Ayels Mund kam. Er wurde vorsichtig gedreht und aufgerichtet, und dann sanft gegen die Brust des Betreuers gedrückt. Warmer, aufrichtiger Trost erfüllte ihn. Für einen Moment wünschte er sich, für immer so bleiben zu dürfen.

„Wir haben noch Zeit“, tröstete ihn Narumek sanft. „Du musst jetzt tapfer sein und fleissig, damit wir ihr ihren letzten Wunsch noch erfüllen können. Ich weiss, dass diese Zeit sehr schwer für dich ist! Wir sind für dich da, Schatz, wenn du uns brauchst.“

Ayel nickte dankbar und schaffte es tatsächlich, nicht zu weinen. Er wollte jetzt glücklich sein, da sie es tatsächlich schaffen würden, Panya ihren letzten Wunsch zu erfüllen, er wollte sich freuen und lachen, damit SIE sich freute und lachte. Doch trotz aller guten Vorsätze, fühlte er sich noch zu leer für positive Gefühle. Er machte sich kleiner, um so tief wie möglich in den Armen verschwinden zu können, die warm und tröstend um ihn lagen. Narumeks Wange legte sich auf seinen Wuschelkopf und ein leiser Seufzer strich durch sein Haar. Ayel schloss die Augen. Langsam, ganz langsam, kehrte der Frieden zu ihm zurück.

***

Da Ayel Narumek kaum loslassen mochte, nahm der ihn kurzerhand mit in die Küche, wo die Betreuer frühstückten. Nur T’Nam fehlte noch. Während Narumek ass, sass der Junge noch immer an dessen Brust gelehnt auf seinen Knien. Er sammelte dort Energie und Kraft, um stark sein zu können, wenn er Panya begegnen würde. Ayel wollte nicht, dass seine beste Freundin traurig war, weil er sich so um sie sorgte. Und schliesslich wollte er aktiv daran mithelfen, den Planeten schneller zu drehen, damit sie Geburtstag haben konnte, auch wenn er noch keine Idee hatte, wie er das anstellen sollte. Also sass er da und grübelte, spielte dabei gedankenverloren mit dem T-Shirt des Betreuers und versuchte, an etwas Schönes zu denken.

„Da kommt er“, unterbrach unvermittelt Sarinel die Stille und deutete auf den Flur hinaus, wo sich T’Nam der Tür näherte.
„Leute“, verkündete der Betreuer noch im Laufschritt auf dem Weg zum Tisch, „ich habe fantastische Neuigkeiten! Ich habe gestern Abend noch den Rektor der Schule angeschrieben und er will uns für den Herbst die Turnhalle überlassen. Er hat gerade zurück gerufen. Die Klimaanlage und die Ventilatoren stehen schon, es fehlt nur noch die Dekoration. Zwei Bauern stellen ihren Laubvorrat vom letzten Jahr zur Verfügung und bringen ihn gegen 10:00 Uhr zur Turnhalle. Die Gärtnerei hat ebenfalls zugesagt und wird versuchen, so viele „nackte“ Jungbäume wie möglich aufzutreiben, damit wir einen Wald improvisieren können. Der Dekoshop leiht uns ein paar Herbsttiere aus Holz und Porzellan, die müssen wir aber wieder zurück geben. Der Spielzeugladen ist da spendabler, denn der spendet uns für jedes Kind ein Herbsttier aus Stoff, das sie dann behalten dürfen. Also müssen wir nur noch etwas finden, das die Kinder dazu beitragen können. Und das Beste ist: Der Rektor hat sofort dem Bürgermeister geschrieben und als der gehört hat, worum es geht, hat er das Memo an jeden Haushalt der Stadt verschickt! Es kommen stündlich Nachrichten von Leuten rein, die uns helfen wollen! Sie haben ja kaum selber was, aber sie tun, was sie können. Bis Mittag soll alles eingerichtet sein.“

Erst blieb es still, dann fegte ein Applaus der Erleichterung und Freude über den Tisch. Sogar Ayel blickte auf. Konnte wirklich sein, was er da hörte? Sein Plan nahm Gestalt an und alle machten mit? Die Hilfsbereitschaft von allen Seiten übertraf selbst die kühnsten Träume der Betreuer. Sie waren überwältigt davon, wie viele Fremde sich so für Panya einsetzten, mithalfen und so selbstlos Zeit und Güter spendeten. Narumek liess sich sogar dazu hinreissen, Ayels Kopf in die Hände zu nehmen und dem Kleinen einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Erst jetzt glaubte der Junge, was er eben gehört hatte.

„Panya wird Geburtstag feiern?“
„Das wird sie“, nickte der Betreuer und strahlte ihn an. „Das wird sie, Ayel! Deinetwegen. Dank deiner tollen Idee!“
Ayel gab das Strahlen zurück und fühlte sich auf einmal richtig hungrig. Vergessen waren die Angst und die Trauer. Freude und Glück durchströmten ihn jetzt.
„Wir müssen es ihr sagen! Schnell!“, rief er nun voller Energie und rutschte von Narumeks Schoss. „Komm!“
„Ich komme ja“, lachte der grosse Romulaner und liess sich an der Hand von Ayel in den Speisesaal ziehen.  

„Panya, Panya, wir haben eine Überraschung für dich!“, platzte Ayel heraus, kaum waren sie über die Schwelle getreten.
„Eine Überraschung?“, fragte das Mädchen verblüfft nach und sah von ihrem Brot auf.
Ihre Augen hatten einen leisen Glanz von Fieber, was vermutlich von den Medikamenten herrührte.
„Ja! Ja! Sag es ihr, Narumek!“
„Zu Befehl, mein Herr“, scherzte der gut gelaunt. „Es ist wahr, Panya, wir haben eine Möglichkeit gefunden, wie wir das Jahr schneller machen können! Also, eigentlich war es Ayels Idee. Du wirst also doch noch deinen Geburtstag feiern.“
„Wirklich?“, fragte sie etwas misstrauisch nach.
„Ja. Wir werden jetzt jeden Tag eine Jahreszeit feiern und in vier Tagen, wenn wieder Sommer ist, wird dein 10. Geburtstag sein. Bist du einverstanden?“
Panya blinzelte erst nachdenklich und rief dann: „Aber ja!“
„Gut, dann an die Arbeit, Kinder. Wir haben viel zu tun!“

***

Den ganzen Vormittag verbrachten die Kinder emsig damit, grosse Plakate mit Herbstwäldern zu malen, bunte Herbstblätter aus Papier auszuschneiden oder einfach allerlei Herbstliches zu basteln. Ayel hatte sich entschieden, ein Baumgerüst zu malen und mit Korken dann bunte Blätter an die Äste zu stempeln. Nawin machte das Gleiche mit seinen Fingerspitzen. Die Geschwister K’Amra und K’Amon bastelten Eulen und Origami-Tiere, Meryel schnitt bunte Blätter aus und heftete sie an lange Bindfäden. Der Rest der Kinder bemalte die Wandplakate mit Bäumen oder bastelten Tiere aus Tannzapfen und Kastanien, während Sarinel ihnen Herbstgeschichten vor las. Wie im Flug verging der Morgen und die Kinder steckten so tief in ihren Herbstvorbereitungen, dass sie beim Essensgong wirklich das Gefühl hatten, sich gerade auf den Erntedank vorzubereiten. Völlig erstaunt sahen sie auf und aus dem Fenster, wo die Bäume Grün und nicht Bunt trugen. Für einen kleinen Moment verstanden sie die Welt nicht mehr.
Auch der Mittagstisch war ganz dem Herbst gewidmet worden. Die Dekoration von Gelb, Orange, Rot und Braun passte hervorragend zum Menu, das in den selben Farben gehalten worden war. Klimaanlage und Ventilator sorgten für herbstliches Klima, damit das Essen nicht zu warm für den eigentlichen Sommertag war. Damit die Stimmung auch blieb, sprach Narumek das Erntedankgebet und bat die Götter und die Elemente beide darum, ihnen doch am Nachmittag gutes Wetter für das Fest zu schenken. Nach dem Essen hatten sogar die Betreuer Mühe daran zu denken, dass es in Tat und Wahrheit noch Sommer war.

T’Nam, der für den Herbst zuständig war, fuhr kurz nach dem Essen weg, um all die Zeichnungen und Basteleien zur Turnhalle zu bringen. Im Heim unterdessen, wurde aufgeräumt, die Zähne geputzt und schliesslich traf man sich im Flur, bereit zum Aufbruch ins versprochene Herbstland, wo das Erntedankfest stattfinden würde. Den Kindern war aufgetragen worden, sich warme Sachen anzuziehen und sich nach Möglichkeit an Herbstfarben zu orientieren. Mit Herzblut bei der Sache, tummelte sich nun, kurz vor der Abfahrt, ein glücklicher Haufen Herbstlaub vor der Tür. 
Um zu verhindern, dass die armen Kinder in ihren Jacken und Winterschuhen verschmachteten, wurde im Shuttle die Klimaanlage aufgedreht. So konnten sie sich gleich daran gewöhnen, dass sie den Nachmittag bei kühlen Herbsttemperaturen verbringen würden. So waren sie bereits etwas darauf eingestimmt, als das Shuttle schliesslich vor der Turnhalle stoppte. Die munteren Gespräche und Spekulationen darüber, was sie im Herbstland wohl erwarten mochte, verstummten abrupt. In allen Herbstfarben waren die vielen grossen Fenster der Halle ab geklebt worden und liessen erahnen, mit was für einer Farbenpracht sie wohl im Inneren aufwarten würde. Ayel schüttelte die Hände, um nicht mit dem ganzen Körper hibbeln zu müssen. Er hielt die Spannung kaum noch aus. 

T’Nam erwartete sie im Eingangsbereich bereits, wo die Haken für die Jacken der Besucher standen. Einige Kinder schlüpften bereits artig aus den selben, nur um dann verwirrt feststellen zu müssen, dass sie sie wieder anziehen sollten.

„Da wo wir hingehen“, erklärte D’Aruni, „werdet ihr die Jacken brauchen! Ihr wisst doch, wie kühl es im Herbst schon ist. Und klappt die Kragen hoch, damit euch der Wind nicht an den Hals bläst; ihr wollt euch doch nicht erkälten!“
Artig klappte auch Ayel seinen Kragen hoch und zog die Ärmel lang. Er war seit dem letzten Herbst ein Stück aus der Jacke heraus gewachsen.
„Und? Wie sieht es aus?“, wollte Sarinel voller Vorfreude wissen.

T’Nam schüttelte erst unzählige male den Kopf, bevor er endlich ein „Es ist unbeschreiblich!“ hervor brachte. Um weitere Worte verlegen, entschloss er sich, einfach die Tür zu öffnen und ihnen zu zeigen, was innerhalb eines halben Tages erschaffen worden war. Die Gruppe glaubte, vor ihnen würden die Tore zum Paradies geöffnet.

„Es ist tatsächlich Herbst!“ Panya flüsterte es beinahe, so verblüfft und beeindruckt war sie von dem Anblick. Mit strahlenden Augen wandte sie sich an Ayel. „Und das hast DU für mich gemacht?“
„Ähm“, geriet der überrumpelt ins Stottern, „also, ja. Also nein. Also … irgendwie schon nicht. Ich meine … Hab ich das?“
Er wandte sich etwas hilflos an Narumek, der hinter ihm stand.
„Das hat er“, nickte der Betreuer Panya zu. „Er hat nicht alles alleine gemacht, aber ohne ihn hätte es das hier alles nicht gegeben.“
„Oh, Ayel?!“

Die Umarmung war so fest, dass sie ihm fast weh tat. Doch er verstand sie und er war gerade selber viel zu glücklich, als dass er das Mädchen deswegen abgeschüttelt hätte. Der Anblick, der sich ihnen bot, nahm ihm fast den Atem. Wo früher das innere Nichts einer Turnhalle gewesen war, blieb kein Quadratzentimeter mehr, der nicht Herbst war. Ein Wald aus Bäumen füllte den Raum, die Töpfe, in denen sie standen, von kniehoch aufgeschüttetem Laub verdeckt. Die Fenster waren mit gelb-, rot- und orangenen Tüchern bedeckt, an denen bunte Herbstblätter aus Filz, Moosgummi und aller Arten Papier angebracht waren. Auch von der Decke hingen lange Fäden mit Blättern dran, Papierdrachen, Vögel und allesamt flatterten und wiegten sie sich im Wind, der von gut versteckten Ventilatoren durch die Halle blies. Die halbe Stadt musste den Vormittag gebastelt haben, denn zu den Zeichnungen und Basteleien der Heimkinder, gesellten sich unzählige Werke unbekannter Hände und deckten die Wände vollständig ab. Überall wo man hinsah, war es bunt, fröhlich und so herbstlich, wie sie es noch nie in ihrem Leben draussen in der Natur gesehen hatten.

Raschel. Raschel. Raschel.
Fast ehrfürchtig stapften die Kinder durch das dichte Laub in die Mitte der Turnhalle, um sich einmal im Kreis zu drehen und umzusehen. Panya, Ayel und Nawin hatten wieder ihre übliche Kette gebildet und gingen versetzt im Gänsemarsch. Während die älteren zwei Kinder gut voran kamen, musste sich der kleine Vierjährige beinahe durch das Blättermeer pflügen, so hoch hatten die Bauern ihre Ernte aufgeschüttet. Noch hörte man nichts ausser das Brummen der Ventilatoren und Klimaanlagen, das Rascheln der Blätter und das Surren der Dekoration. Auch die Kinder machten keinen Mucks, staunten mit offenen Augen und Mündern und drehten sich im Kreis. Zu gross waren noch Überraschung und Verblüffung. Stumm aber glücklich freuten sie sich über den Wald aus echten Jungbäumen, deren grünes Blattwerk bunt bemalt, oder durch Bastelblattwerk ersetzt und ergänzt worden war. Porzellanfigürchen der hiesigen Fauna thronten kunstvoll auf den Ästen, da und dort ergänzt von einem Gesellen aus Plüsch oder Holz.
Auch die Betreuer waren überwältigt und strichen sich, je nach Charakter, offen oder verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln. Das hatte keiner von ihnen erwartet! Bis zu diesem Zeitpunkt hatte immer die Befürchtung sie begleitet, dass die Improvisation nicht überzeugend genug gelingen könnte. Alles wäre vergebens, würde Panya nicht tief genug im Herbst versinken, so dass sie diesen Nachmittag als verbrachte Jahreszeit würde akzeptieren können. Doch was hier für sie bereitet worden war, übertraf selbst die kühnsten Träume der grössten Optimisten.

„Weisst du“, sprach Ayel seine Freundin an und flüsterte fast, da er die Stille nicht durchbrechen mochte, „was mir hier am Besten gefällt?“
„Was?“
„Der Geruch!“
Nawin fasste das als Aufforderung auf, so tief wie möglich den Duft von Blättern, Bäumen und noch Unbekanntem einzuatmen. Dann stiess er einem Seufzer gleich die Luft aus und piepste glücklich: „Hier riecht es so kellerbunt!“
„Kellerbunt?“, fragte D’Aruni glucksend nach.
„Ja, so wie im Keller, aber ganz bunt!“
„Ich glaube“, lächelte sie, „ich verstehe, was du meinst.“
Meryels spitzer Schrei zerschnitt den Dialog. Sie hatte ängstlich die Hände zum Kopf gereckt und bog sich wie eine Banane von einem Laubhaufen weg. Sie musste auf etwas getreten sein.
„Ist was darunter?“, wollte T’Nam wissen und das Mädchen nickte verschreckt. „Sieh nach?“
Nur das verschmitzte Lächeln des Betreuers liess sie den Mut finden, ganz langsam in den Haufen zu greifen und im Unbekannten zu wühlen. Zum Vorschein kam …
„Ein Plüsch-Set’leth! Oh, wie süss!“

„Es hat für alle von euch ein Stofftier hier versteckt, das ihr dann mit nach Hause nehmen dürft“, erklärte T’Nam den verblüfften Kindern.

Während Meryel ihren Fund mit einem Quietschen an ihr Herz drückte, brach das glückliche Chaos in der Halle aus. Man stob in alle Himmelsrichtungen auseinander, Arme voller Laub wurden in die Luft geworfen, die Kinder wühlten sich durch die Blätterberge, robbten in Laubhaufen hinein oder rollten sich einfach glücklich über den dicken, weichen Teppich aus Blattwerk. Während Nawin sich fröhlich in einem duftenden Laubhaufen einbuddelte, jagten sich Ayel und Panya um die Bäume herum nach. Unzählige davon hatte die Gärtnerei in wenigen Stunden hergeschafft und tatsächlich einen richtigen, kleinen Wald geschaffen. Jemand hatte jetzt auch ein Tonband eingeschaltet und so erfüllten neben den glücklichen Geräuschen der Kinder, auch Vogelgezwitscher und Tierlaute die Halle. Ayel hatte sich tatsächlich einmal verblüfft umgedreht, weil er glaubte, das blökende Uanha würde direkt hinter ihm durch das Laub springen. Für ihn, und nicht nur für ihn, war die Simulation absolut perfekt! Nicht eine Sekunde mehr dachte er daran, dass er sich in Tat und Wahrheit in einer grossen Halle befand. Es roch nach Herbst, es klang nach Herbst und auch der Wind, der ihm ohne Unterlass kühl um die Nase wehte, trug seinen Teil dazu bei.

„Ayel, hilfst du mir?“ Nawin, dem die Aufregung zu gross geworden war, hoppste auf ihn zu und nestelte verzweifelt an seiner Hose.
„Na, na, na“, sprang Narumek lachend herbei, „das ist kein richtiger Wald, du kleiner Schlingel! Komm mit …“ Er hob den Jungen auf die Arme und stakste auf gut Glück Richtung Wand. „Sarinel, wo ist denn hier der Ausgang!?“
„Dort drüben, hinter der gelben Fledermaus mit den violetten Augen.“ Tatsächlich waren unter all den Kunstwerken, Tüchern und Farben weder Türen noch Fenster mehr zu erkennen. Den schrillen Mäuseengel allerdings fand er auf Anhieb. „Die hat man bestimmt absichtlich dort hin gehängt …!“
Narumek nickte das lachend ab und beeilte sich, den jetzt zappelnden Vierjährigen aus der Halle zu bringen.

***

Panya und Ayel hatten sich in der Zwischenzeit auch auf die Suche nach Stofftieren gemacht. Viele Leute mussten welche gespendet haben, denn jedes Kind hatte bereits eines oder sogar mehrere ausgebuddelt. Araya hatte gleich einen ganzen Kreis aus Herbsttieren um sich versammelt, während Nang noch abwägte, für welches der vielen, verschiedenen Baumläufer, dem irdischen Eichhörnchen nicht unähnlich, sie sich entscheiden sollte. Tatsächlich fanden auch die beiden besten Freunde noch ein Stofftier für sich: Ein Hasenpaar in Braun und Weiss, das sich ganz in einer Ecke versteckt, unter einem unscheinbaren Laubhaufen befunden hatte. Ayel entschied sich für Braun, während sich das Mädchen über den weissen Hasen freute. Sie hatten sich gerade entschieden, als Nawin zurück kam und direkt auf sie zu watete, den Betreuer einige Schritte hinter sich. Der Kleine grinste breit über beide Wangen, die, wie die von Ayel und Panya, vom Wind und der Kälte bereits grünlich schimmerten.

„Alles klar, Nawin?“, wollte Ayel wissen und der Wuschelkopf nickte glücklich.
„Ja! Hab im Vorbei gehen einen Keks vom Tisch gemopst“, verkündete der Kleine verschmitzt, als er Ayel und Panya erreicht hatte. „Einen mit Beeren, aber nichts sagen! Narumek weiss das nicht …“
„Aber jetzt weiss ich es“, verkündete jener hinter ihm.

Nawin riss erschrocken die Hände zum Mund, drehte sich nach jenem um, grinste verschmitzt und hoppste dann, vor Schreck und Vergnügen gleichzeitig kreischend, in grossen Sätzen über den dicken Blätterboden davon, während der Betreuer ihm klatschend hinter her jagte. Ayel und Panya lachten den Beiden hinterher und beschlossen dann, sich die Baumkronen genauer anzusehen. Sie hatten längst noch nicht alles entdeckt, was sich in den Ästen der Jungbäume verbarg. Neben den Tierfiguren aus Porzellan und Holz, entdeckten sie jetzt nach und nach auch ihre eigenen Bastelarbeiten vom Vormittag. Sie kamen an den Origami-Eulen der Geschwister vorbei, trafen auf Kastanientiere und die Blätterketten von Meryel und bewunderten Igel aus Tannenzapfen und Zahnstochern. Ein richtiges kleines Herbstmuseum war hier entstanden. Sogar weitere Plüschtiere hockten dort oben in den Zweigen. Einige noch ganz neu, wie es schien und von anderen hatte sich wohl das eine oder andere Kind unter schwerem Herzen getrennt. Die Armen geben immer am meisten, klangen Ayel Narumeks Worte im Ohr. Er verstand sie nicht, aber es hatte wohl etwas damit zu tun, dass in dieser sehr armen Stadt trotzdem so viele Geschenke zusammen gekommen sein mussten. Ihm hätte es sogar ohne jene hier sehr gut gefallen, trotzdem drückte er den Hasen an sein Herz und nahm Panyas Hand. Diese Hand, die er so gerne festhielt. Sie war kühl, genau wie seine und so war er dankbar, als T’Nam sie nach vier Stunden, die sich kaum wie solche angefühlt hatten, zusammen rief und zum grossen Tisch bat, der an der Kopfwand der Turnhalle stand.

Ganz dem Erntedankfest nachempfunden, bog sich das Möbelstück unter Früchten, Obst und Herbstgerichten. Kuchen, Plätzchen, Spezialitäten und warmer Tee warteten auf die Romulaner, die ihren Hunger erst jetzt bemerkten. Vielleicht lag es an der Luft, dem Herbstduft oder einfach der Aufregung, dass das Mittagessen bereits wieder vergessen war, doch die Kinder konnten sich kaum ruhig halten, angesichts der Gaben. Narumek, der der Leiter der Betreuer war, bestand aber darauf, dass der Tradition folgend, erst das Erntedankgebet gesprochen wurde. Es war, neben der Winter -und Sommersonnenwende, das grösste und wichtigste Dankgebet, das die Elemente persönlich bekamen. Also rissen sich die Kinder zusammen, beteten artig mit und dankten den Göttern und besonders den Elementen, für die reiche Ernte der Herbstmonate. Dann, endlich, wurden die Wolldecken verteilt und die Kuchen angeschnitten.

Ayel, ganz Gentleman, hatte für sich, Panya und Nawin eine Decke geholt und unter einem besonders grossen Bäumchen ausgebreitet. Durch die Klimaanlage und den ständigen Wind, waren die Blätter ziemlich ausgekühlt und machten eine Unterlage nötig. Wie ein fliegender Teppich sank sie an den Stellen ein, wo sich die Kinder zum Vespern hinsetzten. Ayel glaubte, noch nie an einem tolleren Ort gegessen zu haben. Nawin hatte gleich zwei verschiedene Kuchen gleichzeitig in den Händen und biss mal vom Einen und mal vom Anderen ab. Auch er selbst und Panya hatten mehr auf den Tellern, als sie verschlingen konnten, doch so viele verschiedene Leckerbissen wie hier, konnte sich das arme Waisenhaus zum Erntedank nicht leisten. Darum sagte auch niemand was, wenn die Kinder hamsterten und schlangen. Man gönnte es ihnen von Herzen, wenigstens ein einziges Mal alle Wünsche bedient zu bekommen.

***

Pappsatt und glücklich schlossen sich die Drei nach der Essenspause der kleinen Gruppe an, die eine Wanderung durch den Wald beschlossen hatte. Die hatten er und Panya zwar schon gemacht, doch so blieben sie in Bewegung und warm. T’Nam hatte irgendwann die Ventilatoren ausgeschaltet, so dass es zwar noch herbstlich frisch, aber nicht mehr so windig war. Es sollte sich heute bestimmt niemand erkälten. Ayel war froh, das Drachenfliegen mit Panya schon vorher genossen zu haben, denn Tomek und Nang verpassten das nun. Auch ein anderes Tonband lief jetzt und stimmte sie auf den Abend ein, der draussen im Freien zwar noch hell und gelb war, in der Halle jedoch schon in Rot und Orange auf der Umgebung lag. Auch die Tierstimmen hatten sich verändert. Andere Vögel zwitscherten jetzt und da und dort schu-hute bereits eine Eule in den Wald. Die Kinder hatten sich fertig ausgetobt und wurden ruhiger, nur Nawin war noch aktiv auf der Suche nach einem Stofftier und raschelte sich geräuschvoll durch jeden Haufen, den er fand. Ayel und Panya sahen ihm lächelnd dabei zu, bis das Mädchen plötzlich zu schwanken begann.

„Panya?!“
Besorgt hielt er sie am Arm fest und noch bevor sie sass, waren D’Aruni und T’Nam zur Stelle. Sie mussten das kranke Kind nie aus den Augen gelassen haben.
„Danke, Ayel“, nickte die Betreuerin und half dem Mädchen hoch. „Komm, wir haben hier einen Platz für dich, wo du dich ausruhen kannst.“

Ayel folgte den Dreien zu einer Ecke der Halle, wo etwas entfernt neben dem Verpflegungstisch, auch eine Strandmuschel aufgestellt worden war. Viele Wolldecken in bunten Herbstfarben bildeten ein kuscheliges Nest, in dem sich die Neunjährige jetzt einrollte um zu Ruhen. Ayel blieb treu an ihrer Seite, legte sich ins duftende Laub und träumte zur Decke hoch, während sich seine Freundin erholte. Weisse und hellblaue Tücher bildeten einen leicht bewölkten Himmel nach und sperrten die Gerätschaften und Gerüste der Hallendecke aus. Sanft lag der rot-orangene Abendschatten auf dem Stoff. Ayel wurde ebenfalls etwas schläfrig, während er da hoch starrte und der Dekoration beim Wiegen zu sah. Ein herrlicher Tag! Und das Beste an ihm war: Panya war so glücklich.

***

Es war ein sehr trauriger Moment für ihn, als eine Stunde nach dem warmen Abendessen, das sie wieder auf den Decken eingenommen hatten, T’Nam die Kinder zusammen rief und verkündete, dass der Herbsttag nun zu Ende sei. Wie gerne hätte er gleich hier an Ort und Stelle übernachtet. Auch Panya rappelte sich verschlafen und enttäuscht aus den Decken hoch. Während die Betreuer noch Essen für sie einpackten, klopfte Ayel ihr und Nawin Brüderlich alle Blätter von der Kleidung. Eines davon steckte er jedoch ein und nahm es mit.
So still, wie sie die Halle betreten hatten, marschierten sie nun auf den Ausgang zu. Ein seltsam surreales Gefühl überkam Ayel in der Eingangshalle. Es fühlte sich falsch an, kein Laub mehr unter den Füssen zu haben, es roch nach Putzmitteln und war viel zu hell, obwohl es schon spät am Abend war. Ein starkes Gefühl des Vermissens überkam ihn und als er sich umdrehte, bemerkte er, dass er längst nicht der Einzige war, der sich voller Sehnsucht zur Halle umgedreht hatte. Dort schloss T’Nam gerade die Tür und sperrte die wunderbare Landschaft ein. Ayel gab es einen Stich ins Herz.

„Machs gut, du schöner Wald“, rief Nawin über die Schulter zurück und winkte, „wir kommen morgen wieder zum Spielen!“

Die Betreuer widersprachen ihm nicht und so wurde auch Ayel nicht bewusst, dass dieser tolle Herbst nur für einen einzigen Tag reserviert gewesen war. Auch er war von dem verzweifelten Wunsch beseelt, hier jeden Tag den Herbst verbringen zu können, zu Essen, zu Spielen, zu Entspannen, bis jener dann vom Winter würde abgelöst werden. Doch der kam in diesem besonderen Jahr ja schon morgen …

Panyas wieder warme Hand in seiner, liess er auf der Rückfahrt zum Waisenhaus den Tag noch einmal Revue passieren. Das Basteln, das Mittagessen, der Nachmittag im Wald, vespern auf fetten Laubhaufen, Entspannen unter dem Blätterdach. Geschenke, fantastisches Essen, Spass und Frohsinn im Übermass und diese glücklichen Augen Panyas, die schon seit dem Mittag keinen Schleier von Schmerzen mehr darin hatten. Er lächelte ihr zu und bekam es zurück, was ihn bis in alle Glieder mit Wärme füllte. Was für eine tolle Freundin! Er war so glücklich.

Die Kinder waren noch so auf Herbst eingestellt, dass sie sogar, ohne es zu merken, ihre langen Winterpyjamas aus dem Schrank holten und anzogen. Ayel wünschte der strahlenden Panya über den Flur eine gute Nacht und kroch dann glücklich in sein Bett. Wie schwer und müde er war, spürte er erst, als er lag. Der braune Hase roch noch angenehm nach Laub und brachte ihn sofort zurück in die Halle, wenn er die Augen schloss. War er gestern noch davon überzeugt gewesen, der Sommer wäre seine liebste Jahreszeit, hatte er sich eben umentschieden: Der Herbst, fand er nun, war doch das Tollste am Jahr! 

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