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Schlafender Tiger

von Omikron

Kapitel 1

„Tag neunundvierzig unserer Tiefenraummission“, begrüßte Captain Ryan die Brückenbesatzung, als er seinen ersten Offizier ablöste. „Und? Schon unbekannte Welten entdeckt? Neues Leben? Irgendwas?“
„Sie werden staunen, Sir“, antwortete Commander Reynold seinem CO.
„Tatsächlich?“
„Allerdings. Unsere Sensoren haben ein Objekt aufgefangen, etwas kleiner als die Acheron. Es ist metallisch, also vermutlich ein Raumschiff, bewegt sich aber so langsam, dass wir von einem Kometen ausgehen könnten. Ich habe einen Kurs setzen lassen.“
Syvok übernahm seine Station und hörte seinen Vorgesetzten zu, ohne sich in ihre Unterhaltung einzumischen. Gewohnheitsmäßig drehte er das Licht über seiner Station ein wenig zurück um nicht geblendet zu werden und eine bessere Sicht auf die Anzeigen zu haben. „Ein Komet hier draußen? Das müsste ein interstellarer Einzelgänger sein.“
Ryan informierte die Crew und holte sich eine Kanne Kaffee, bevor die Acheron das Objekt endlich mit den Mittelstreckensensoren abtasten konnten. „Es ist ein Raumschiff“, berichtete Reynold und wandte sich seinen Instrumenten zu. „Minimaler Energieaustoß.“ „Eine Art Tarntechnologie?“, mutmaßte der Navigator.
„Nein. Es treibt einfach im Raum, vermute ich mal. Vielleicht ein Wrack.“ Binnen einer Viertelstunde hatte sich die Acheron auf Echtzeitkommunikationsreichweite genähert.
Grob befahl Ryan der Kommunikationsoffizierin: „Rufen!“
„Es antwortet nicht.“
„Zurück auf Impuls. Geben Sie mir ein Bild auf den Hauptschirm!“ Syvok drehte seinen Stuhl so, dass auch er die vergrößerte Aufnahme des fremden Schiffes sehen konnte. Es hatte eine zerkratzte, schmutzig graue Außenhülle ohne Fenster. Etwa mittschiffs befand sich ein fünfteiliger Frachtcontainer, der den Hauptrumpf etwa zur Hälfte umfasste. Das Heck wurde von einer Antriebseinheit dominiert, die aber abgeschaltet war. Zur Seite hin befanden sich zu Syvoks Erstaunen vier kleinere Solareinheiten. Gerade als Syvok seinen Captain auf die potentielle Gefahrensituation hinweisen wollte, sagte dieser: „Ist das eines von unseren Schiffen?“
„Es ist kein Frachtschiff der Sternenflotte“, entgegnete der Vulkanier. „In diesem Sektor ist auch keines unserer Schiffe als vermisst gemeldet.“
„Natürlich nicht“, konterte Reynold. „Es war ja auch noch nie ein Mensch so weit draußen.“
„Sie irren sich, Commander“, gab Syvok zurück.
„Ach ja? Welcher Mensch wäre dann schon mal hier draußen gewesen?“, fragte er bissig.
„Die Besatzung dieses Raumschiffs.“
„Wer sagt Ihnen, dass das Menschen sind?“
„Eine simple logische Schlussfolgerung, Commander. Der Bauweise nach ist es ein altes irdisches Schiff, also besteht die Besatzung höchstwahrscheinlich aus Menschen.“
Commander Reynold hasste es, eine Debatte zu verlieren, weswegen er nicht locker ließ.
„Sagten Sie nicht gerade, das wäre keines unserer Schiffe?“
„Ich sagte, es wäre kein Frachtschiff der Sternenflotte, was auch vollkommen korrekt ist.
Dieses Modell wird seit Jahrhunderten nicht mehr gebaut. Es ist ein frühes Schiff der DYBaureihe.“
„Hören sie doch auf, uns einen Bären aufzubinden“, mischte sich Ryan ein. „Kein Schiff ohne Warpantrieb könnte sich jemals so weit von der Erde entfernen.“
„Ich habe das Schiff untersucht und mit der Datenbank verglichen. Es ist eine DY-100. Kein Warpantrieb, nur Nuklearreaktor. Gebaut wurden diese Raumschiffe von 1970 bis 2000 Ihrer Zeitrechnung.“
Ryan grübelte ein wenig und beschloss: „Das wird ja immer unheimlicher. Geben Sie zur Vorsicht gelben Alarm … wenn dieses Schiff wirklich so alt ist, gehört es in ein Museum und nicht in den Weltraum. Können Sie identifizieren, welches Schiff das ist?“ Die Steuerfrau brachte die Acheron längsseits, woraufhin die Scheinwerfer der Acheron das fremde Schiff anleuchteten und einen Schriftzug auf der zerschrammten Oberfläche ausmachten. „S.S. Botany Bay“, las der Captain ab. „Sagt mir überhaupt nichts.“
„Das Schiff ist nicht in der Datenbank verzeichnet.“
Plötzlich rief Commander Reynold: „Captain, ich entdecke Lebenszeichen von dem Schiff. Vierundsiebzig, aber alle extrem schwach. Glaube kaum, dass die von Menschen stammen.“
„Wir gehen rüber und sehen uns das genauer an“, beschloss Ryan. „Sagen Sie Fontana und dem Doc, dass sie sich in den Transporterraum schwingen sollen!“ Zu Syvok und Reynold, die beide erwartungsvoll zu ihrem Captain aufsahen, sagte er: „Ihr beide bleibt hier. Es ist immerhin eine Gefahrensituation. Commander Reynold, haben Sie einen Historiker in Ihrem Team?“
„Nein. Nicht mehr.“
„Na schön. Dann schicken Sie mir eben einen Wissenschaftler mit in den
Transporterraum. Irgendjemanden, der sich im zwanzigsten Jahrhundert auskennen könnte.“

************

„Was wollen Sie denn hier?“
Immer wieder toll, wenn man so freundlich von seinen Vorgesetzten begrüßt wird. „Commander Reynold hat mir befohlen, mich dem Außenteam anzuschließen, Sir“, antwortete Rosa übertrieben förmlich.
„Kennen Sie sich denn im 20. Jahrhundet aus?“
„Ich besitze ein Motorrad aus dem 20. Jahrhundert“, entgegnete sie wahrheitsgemäß.
„Das ist seine üble Rache, weil er selbst nicht mit darf“, brummte Ryan, griff sich einen Ausrüstungsgürtel und betrat die Transporterplattform. Rosa befahl er den viel zu schweren Utensilienkoffer zu tragen. Interessanterweise hatte sich nach einem Scan der Botany Bay eine atembare Atmosphäre gebildet und sich die künstliche Schwerkraft aktiviert. Als endlich auch noch Doktor Warren ankam und in aller Seelenruhe sein Arbeitsgerät vorbereitete, wurde das Team gebeamt.
Zuerst war es stockdunkel. Dann leuchteten die Taschenlampen der beiden Sicherheitsleute den kleinen Raum aus. „Den Deckplänen zufolge ist das hier die Kommandozentrale“, erklärte Rosa.
„Danke“, brummte Ryan und sagte zu Fontana: „Schauen Sie mal, ob Sie irgendwo einen
Lichtschalter finden.“ Als die Beleuchtung aktiviert war, suchte das Außenteam Deck für Deck ab, aber von der Crew entdeckten sie niemanden. Ihnen, die sie alle auf einem modernen Sternenschiff der Föderation lebten und arbeiteten, auf dem man schnell vergessen konnte, dass man sich überhaupt im Weltraum befand, erschien dieses Schiff befremdlich und antiquiert wie ein alter Schraubendampfer, der die Weltmeere der Erde befuhr. Die Stromleitungen der Botany Bay waren noch einfache Metalldrähte, isoliert durch Kunststoff. Auch sonst fanden sich überall technische Systeme, die seit Jahrhunderten niemand mehr verwendete. Hinter einem Metallschott, das sich durch etwas Gewaltanwendung öffnete, befand sich ein Raum, der sowohl als Messe, als auch als Schlafraum diente. Platz gab es hier nicht zu verschwenden. „Sehen Sie sich das an!“, rief Ryan plötzlich.
Rosa war sofort zur Stelle und bemerkte das kleine Bücherregal, das der Captain entdeckt hatte. „König Lear, 1984, die Geschichte zweier Städte, eine Bibel und gleich zwei
Ausgaben von Paradise Lost. Diese Sammlung könnte Commander Syvok gehören.“
„Was wollen Sie mir damit sagen?“, fragte Ryan.
„Ach, gar nichts.“ Rosa blickte sich weiter um. Weder Messe noch Kombüse sahen so aus als wären sie in den letzten paar Jahren mal benutzt worden. Schließlich ging das Team weiter und kam auf das Hauptdeck des alten Schiffes. Rosa entfernte sich ein wenig von den anderen. Das Hauptdeck war ein in die Länge gestreckter, offener Raum, der größer wirkte als er tatsächlich war. Es war noch immer recht dunkel an Bord, weswegen sie das ferne Ende des Decks gar nicht mehr ausmachen konnte. Das Schiff war sicher antiquiert und äußerst erstaunlich, aber wo mochte nur die Crew stecken? Die Botany Bay war offenbar ein Erdenschiff aus längst vergangener Zeit. Aber selbst wenn ihre ganze Besatzung schon vor langer Zeit gestorben war, mussten sich doch zumindest irgendwo Leichen finden lassen. Rosa leuchtete eine unauffällige, in die Wand eingelassene Nische ab. Was ist das denn? Mit der typischen Neugierde einer Forscherin trat sie auf die Teile zu, die aussahen wie riesige herausziehbare Schubläden. Was sie aber verwunderte, waren die Kontrolltafeln, die daneben angebracht waren. Was sich im Inneren befand, konnte Rosa nicht sehen, denn die gläserne Scheibe war von einer dünnen Eisschicht beschlagen, die Rosa vorsichtig mit dem Ärmel ihres Uniformhemds entfernte. Zum Glück trage ich eine langärmlige Uniform. Plötzlich schreckte Rosa zurück. „Doc, kommen Sie schnell her!“
„Dem kann ich auch nicht mehr helfen“, meinte Warren, nachdem er das verweste
Gesicht betrachtete. „Sein Gefrieraggregat ist ausgefallen.“
„Wollen Sie mir sagen“, schaltete sich Ryan ein „dass die Crew hier tiefgekühlt in
Behältern liegt?“
„Es scheint mir so“, antwortete der Arzt. „Zumindest die, die überlebt haben.“ „Sir!“, kam ein Ruf vom anderen Ende des Raums. „Sir, der hier bewegt sich!“
Zugleich liefen sie alle zu dem Wachmann, der vor einer weiteren Wandnische stand. Rosa versuchte einen Blick auf den Mann zu erhaschen, der dort lag, während sein Körper zuckte wie im Todeskampf. „Irgendetwas stimmt mit der Auftaumatrix nicht!“, rief Warren.
„Wir müssen ihn rausholen!“, sagte Rosa.
„Das könnte ihn umbringen.“
„Stirbt er nicht sowieso gerade?“
Mit einem Blick holte sich der Arzt das Einverständnis seines Captains ein und öffnete dann die Gefriereinheit.

************

„Was ist dann passiert?“, fragte Syvok nachdem Rosa etwa eine Minute geschwiegen hatte. Zwar war er bereits mit dem Essen fertig, dennoch wollte er gerne Rosas Bericht vollständig hören. Syvok hörte lieber ihrer lebhaften Erzählung zu als später einen recht trockenen Missionsbericht zu lesen.
„Dieser Mann sah aus wie eine Gottheit.“ Syvok glaubte, einen Anflug von Schwärmerei in ihrer Stimme ausmachen zu können. „Er hat hunderte Jahre im Kälteschlaf verbracht und lag im Sterben. Trotzdem sah er gesünder und besser aus als wir beide zusammen.“
Unwahrscheinlich, dachte Syvok, verkniff es sich jedoch. „Wie sah er denn aus?“
„Ich glaube, er ist Inder. Zumindest hatte er schwarze Haare und einen dunklen Teint.
Als er aufgewacht ist, hat er begonnen zu husten und keine Luft mehr bekommen. Der Doktor hat ihm Medizin verabreicht, auf die hin er wieder eingeschlafen ist. Sein Zustand blieb aber weiter kritisch, weswegen wir ihn zurück auf die Acheron transportiert haben.“ „Und wie-“ Syvok wurde von einer schiffsweiten Durchsage unterbrochen.
„Alle Führungsoffiziere sofort zur Konferenz in die Krankenstation kommen!“
Syvok stand sofort auf und verschwand. Rosa lächelte ohne gekränkt zu wirken. So ist er einfach. Er kommt gar nicht auf die Idee, dass das jemanden verletzen könnte.

************

„Er ist tot.“ Mehr sagte der Chefarzt der Acheron nicht über den leblosen Körper auf dem
Biobett. Die Anzeige, die die Herzschläge des Patienten überwachte, war zu einer geraden
Linie geworden und gab einen lang gezogenen Pfeifton von sich. Es gab zwar noch Gehirnaktivität, aber ein Wiederbelebungsversuch war bereits gescheitert.
„Wie konnte das passieren?“, fragte Ryan den Arzt.
„Ich weiß es nicht“, gestand Warren und setzte sich niedergeschlagen auf ein anderes Bett. „Er war auf dem Weg der Besserung. Herzschlag und Atmung hatten sich stabilisiert. Aber auf einmal wurde sein Zustand schlechter. Ich habe alles getan, aber schließlich ist er gestorben. Ich kenne die Todesursache nicht. Vielleicht haben sich in den letzten dreihundert Jahren neue Keime und Viren gebildet, die für uns ungefährlich sind, die er aber nicht verträgt.“ Nach einer kurzen Pause des Schweigens fügte Warren bedenkend hinzu: „Es könnte allerdings auch sein, dass es einfach nicht möglich ist, so lange zur leben.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Dieser Mann war über zweihundertfünfzig Jahre eingefroren. Vielleicht kann der Mensch so etwas gar nicht überleben. Es könnte eine Grenze geben, die wir einfach nicht überschreiten dürfen.“
Reynold trat nun an die Leiche heran. „Was sollen wir jetzt mit den anderen tun? Wenn wir sie auch aufwecken, könnte es ihnen gehen wie diesem Mann. Wenn wir sie aber in den
Kapseln lassen, wird eine nach der anderen versagen.“
„Ich könnte die Stasiseinheiten warten und reparieren“, schlug Fontana vor. „Trotzdem sind wir diesen Leuten eine Antwort schuldig, wieso ihr Captain tot ist.“ „Na wenn ich das wüsste“, rief Warren wieder.
„Untersuchen Sie ihn“, befahl der Captain. „Ich will wissen, was ihn getötet hat.“
„Aye.“ Einer nach dem anderen verließ die Krankenstation, während Warren die Autopsie vorbereitete. Als er den Toten anblickte, hatte er das Gefühl, er hätte einen nur schlafenden Patienten vor sich. Es war nicht so, dass Warren oft Patienten an den Tod verlor, aber wenn es doch passierte, machte es ihm immer schwer zu schaffen. Eine einfache Blutprobe sollte mir schon weiterhelfen. Vorsichtig näherte er sich mit der Ampulle dem Hals der Leiche, als sich plötzlich eine Hand um sein Handgelenk schloss. Warren schrie auf, wollte zurück. Aber wer ihn da auch immer festhielt, ließ nicht locker. Ein dumpfes Pochen zeigte die Herzschläge des Patienten, der abrupt seine Augen aufschlug. Warrens Blick kreuzte den des vermeintlich Toten, der seine Hand eisern umklammert hielt. Seine Augen schienen ihn durchbohren zu wollen, bevor er ganz langsam mit tiefer, drohender Stimme sagte: „Mein Blut brauche ich noch, Doktor Warren.“

************

„Gut dass Sie hier sind, Captain“, sagte Warren, als der Kommandant dicht gefolgt von
Syvok zurück auf die Krankenstation stürmte. „Der Kerl bringt mich noch zum Herzinfarkt.“
„Sagten Sie nicht, er wäre tot?“
„Mausetot, Sir.“
„Also für mich sieht der ziemlich lebendig aus“, zischte Ryan und wandte sich dann dem
Patienten zu, der mittlerweile aufrecht auf dem Biobett saß und mittels einer
Bewegungsübung seine Arme und seinen Nacken kreisen ließ. Ryan räusperte sich, dennoch dauerte es noch eine Weile, bis sich der andere ihm zuwandte. „Ich bin Captain
Jack Ryan. Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Captain Ryan“, sagte der Fremde und grüßte ihn durch ein sanftes Nicken des Kopfes.
„Befinden wir uns etwa im Weltraum oder auf der Erde?“
„Wir befinden uns auf der U.S.S. Acheron, meinem Raumschiff.“
„Sagen Sie mir, welches Jahr haben wir?“
„2256 nach dem Kalender der Erde.“
Der Fremde schloss die Augen und nickte mehrmals heftig. „Ich habe fast so etwas erwartet.“
„Wann sind Sie denn gestartet?“, fragte diesmal Syvok.
„Das müsste um die Jahrtausendwende gewesen sein“, entgegnete der Fremde.
„Wir wissen noch immer nicht, wie wir Sie ansprechen dürfen? Wie lautet Ihr Name?“
Seine Mundwinkel zogen sich leicht zusammen. „Ich heiße Ricardo Nehru. An Bord der Botany Bay war ich der Cheftechniker, weswegen ich auch als erster erweckt wurde.“ Plötzlich schlug seine Stimme um. Aus einem freundlichen Plauterton wurde ein fast bedrohlich wirkender Bass: „Nun sagen Sie mir: Wo sind die anderen? Wo ist meine Familie?“
Ryan wich einen Schritt zurück. „Die anderen befinden sich noch im Kälteschlaf auf der Botany Bay. Allerdings muss ich Ihnen mitteilen, dass elf der Stasiskapseln ausgefallen sind. Ihre Insassen sind tot.“
Nehru nahm die Nachricht mit Fassung auf. „Das war nach einer so langen Reise zu erwarten.“
„Nun verraten Sie mir etwas, Mister Nehru. Erklären Sie mir Ihren kleinen Zaubertrick. Wie zur Hölle haben Sie es geschafft, für fast fünf Minuten klinisch tot zu sein und dann meinen Chefarzt angreifen zu können?
„Ach Captain. Wenn ich jemanden angreife, sieht das anders aus.“
Syvok konnte nicht umhin, sich allein von der Aussprache seiner Worte bedroht zu fühlen. „Das beantwortet nicht unsere Frage.“
„Ich habe es geschafft, zweihundertfünfzig Jahre lang tot zu sein und plötzlich wieder zu erwachen. Diese fünf Minuten dürften Sie doch nicht in Erstaunen versetzen.“

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„Und was hat er noch gesagt?“, drängte ihn Rosa.
Syvok berichtete: „Der Captain wollte noch einiges über seine Vergangenheit wissen. Aber Mister Nehru sagte, er sei momentan zu schwach. Er braue Ruhe und Nahrung. Was ich bedenklich finde ist, dass Ryan ihn auf sein Bitten hin den Zugang zu unserem
Bordcomputer gewährt hat.“
„Was soll denn daran bedenklich sein?“
Entgegen seiner Gewohnheit gab Syvok Rosa keine Antwort, sondern begann eine Computersuche zu programmieren. „Wer auch immer dieser Mann ist: Er hat irgendetwas zu verbergen. Sieh her: Es gibt keine Aufzeichnungen vom Flug der Botany Bay. Sie wurde noch nicht einmal gebaut, wenn man nach den Geschichtsdokumenten geht.“ „Vielleicht hat man ein anderes Schiff umbenannt“, rätselte Rosa.
„Nein. Die anderen neun Schiffe dieses Typs sind dokumentiert und die meisten heute noch in Museen ausgestellt. Die Botany Bay wurde also vermutlich im Geheimen gebaut.
Zu dieser Zeit gab es nicht viele, die dazu in der Lage gewesen wären.“
„Denkst du an jemand bestimmten?“
„Mister Nehru hat uns keinen bestimmten Starttermin mitgeteilt, aber es dürfte gegen Ende der 90er Jahre gewesen sein. Zu einer Zeit als die eugenischen Kriege zu Ende gingen. Du weißt, wie es weiterging: Die siegreichen Mächte beschlossen, dass sich so etwas niemals wiederholen dürfte. Sie jagten die Augments und exekutierten über tausend von ihnen.“
„Augments?“
Syvok unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen. Wie wenig die Menschen doch von ihrer eigenen Geschichte wussten. „Genetisch optimierte Menschen, dem Homo Sapiens in allen Belangen überlegen“, erklärte Syvok kurz den wenig bekannten Begriff.
„Aber die Siegermächte konnten nicht alle Augments fangen. Eine Gruppe von neunzig Kriegsverbrechern entkam ihnen. Es würde mich nicht wundern, wenn wir es mit diesen zu tun hätten. Ich suche nach den Steckbriefen der damaligen Vereinten Nationen.“
„Ist er das?“, rief Rosa nach einiger Zeit und deutete auf das Computerdisplay. Syvok vergrößerte das Bild, das einen Menschen in roter Militäruniform vor der Friedenskonferenz von Singapur zeigte. Zwar sah er etwas anders aus als der Mann, der auf der Krankenstation lag, aber es war eindeutig der selbe Mensch. Diese eiskalten Augen hätte Syvok jederzeit wieder erkannt. Er stammte tatsächlich aus der Erde des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber er war kein Ingenieur. Und er hieß nicht Ricardo Nehru.

************

Zum zweiten Male betätigte Rosa den Türsummer. Nichts tat sich. Langsam machte sich Rosa Sorgen. Vielleicht hatte Doktor Warren seinen Patienten doch schon zu früh entlassen. Möglicherweise wusste er aber auch einfach nicht, was der Summton bedeutete. Rosa klopfte an die Tür, wie sie es in alten Filmen gesehen hatte und kurz darauf verkündete eine Stimme aus dem Inneren: „Reinkommen!“ Sie klang so befehlsgewohnt, dass sie von einem Admiral hätte kommen können. Rosa ließ sich nicht länger bitten, zog die Uniform gerade und trat ein.
„Verzeihung“, stieß sie sofort aus und machte einen Schritt rückwärts.
„Bleiben Sie ruhig“, entgegnete die tiefe Stimme des Mannes, der mit entblößtem
Oberkörper einarmige Klimmzüge machte. Als Stange hatte er die erste Sprosse einer Notfallleiter aus der Deckenverkleidung gezogen. Ohne Hast beendete er seine Übung und setzte sich dann auf das Bett. „Sie sind Lieutenant Rosa Stephens, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete sie und ein Lächeln deutete sich auf ihrem Gesicht an. „Woher wissen
Sie das?“
„Wissen ist Macht.“ Seine Stimme verriet, dass er dies aus erster Hand wusste. Rosa fand sie sowohl erschreckend als auch unwiderstehlich anziehend. „Sie sollten daher immer versuchen, sich möglichst viel Wissen anzueignen.“
„Deswegen bin ich bei der Sternenflotte“, sagte Rosa ein wenig unbeholfen.
„Gut. Sie sind also Forscher. Gibt es auch eine Kriegsflotte?“
„Nein“, antwortete Rosa. „Die Sternenflotte übernimmt die Aufgabe der
Friedenssicherung im Raum der Föderation.“
Der Mann beugte seinen Oberkörper nach vorne. „Und wie fanden Sie die Botany Bay?
Als Forscher oder als Krieger?“
„Ich verstehe nicht ganz.“
Schon begann seine Geduld nachzulassen. „Wurden Sie ausgesandt, um dieses Schiff zu finden oder stolperten Sie zufällig darüber?“
„Zweiteres“, versicherte ihm Rosa. „Wir hatten gar keine Ahnung, dass es dieses Schiff überhaupt gab.“
Der Mann, der sich als Nehru ausgab, schien mit der Antwort zufrieden zu sein. „Die Vorstellung hat durchaus ihren Reiz“, gestand er. „Sagen Sie mir: Aus welchem Grund forschen Sie?“
„Es geht hauptsächlich darum, unser Wissen zu vergrößern. Wir schicken die Daten auf die Erde, wo sie von tausenden Wissenschaftlern analysiert und-“
Abrupt schnitt er ihr das Wort ab und stand auf: „Nein, nein! Darum geht es eben nicht. Sie sollen dieses Wissen nicht nur sammeln, sondern es auch nutzen! Es geht um die Erweiterung Ihres eigenen Horizonts. Sie sollen sich selbst verbessern, nicht das Weltall. Sie als Mensch müssen sich weiter entwickeln, sonst sterben Sie, ohne jemals die grundlegende Wahrheit begriffen zu haben!“
Rosa rutschte etwas nach vorne und versuchte, in den Abgründen seiner Augen zu lesen.
Aber es war nicht möglich. Er schien gar keine Regung zu zeigen. „Welche grundlegende
Wahrheit?“
Gestikulierend erklärte er: „Gott ist tot. Das sagte Friedrich Nietzsche, den ich ganz nebenbei als eines meiner persönlichen Vorbilder sehe. Ich persönlich glaube nicht einmal, dass Gott jemals gelebt hat. Nach Ihrem Tod werden Sie also nicht ins Jenseits oder in den Himmel einfahren. Ich weiß nicht, ob Ihre Kultur immer noch an diesen Schwachsinn glaubt, aber zu meiner Zeit war er weit verbreitet. Ihre einzige Möglichkeit, Unsterblichkeit zu erlangen ist es, Ihre Gene weiterzuvererben und Ihren Kindern alles beizubringen, was Sie wissen. Und zu diesem Zwecke sollten Sie immer darauf bedacht sein, sich möglichst hoch zu entwickeln.“
„Ist das auch der Grund, weswegen Sie die Erde verlassen haben? Weil man Ihre
Ansichten dort nicht duldete?“
„Es war eine düstere Zeit auf der Erde.“ Er kehrte ihr den Rücken zu. „Es gab viele große Kriege, aus denen die Menschheit mit strahlender Größe hätte hervorgehen können. Sie hat es vorgezogen, klein, unbedeutend und … begrenzt zu bleiben. Wir wollten diese Welt nicht und sie uns nicht. Deswegen haben wir uns von der Erde abgewandt und ein Exil in den Weiten des Alls auf uns genommen.“
„Wir könnten Sie auf die Erde zurückbringen“, bot Rosa an.
„Wieso sollte ich zurück auf die Erde wollen, wenn mir die ganze Galaxis offen steht?“ Lange Zeit herrschte Schweigen zwischen den beiden, bis Ricardo schließlich fragte:
„Wieso sind Sie hier?“
„Um zu forschen.“
„Ich meinte, weswegen Sie in meine Kabine gekommen sind? Was wollten Sie überhaupt hier?“
„Aus dem selben Grund“, antwortete Rosa. „Um zu forschen. Sie sind ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Ich finde Sie faszinierend.“
„Ich habe mir die Besatzungsliste angesehen, Rosa Stephens. Ihre Akte ist erstaunlich.
Sie werden dort als außerordentlich widerspenstig beschrieben. Als pflichtvergessen, aufsässig und starrsinnig. Sie tragen ja noch nicht einmal die für Sie vorgesehene Uniform, die ich übrigens ganz reizend fände. Trotzdem haben Sie es in nur sechs Jahren zum Lieutenant gebracht. Wie kommt das?“
„Ich schätze mal, ich bin einfach gut.“
„Bemerkenswert“, sagte Ricardo. „Zielstrebig, aber mit eigenem Willen. Frauen wie Sie wirken anziehend auf Männer wie mich.“
„Männer wie Sie?“
„Männer, die sich nehmen, was sie gerne haben wollen!“

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