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Trick or Treat

von Emony

Kapitel 2

Die wenigen Tage bis Halloween vergingen wie im Flug. Jim hatte mit dem Unterricht und dem Training bereits alle Hände voll zu tun, dennoch hatte er sich – wie einige seiner Freunde – dazu bereit erklärt, sich an den Vorbereitungen für die Halloween-Feier zu beteiligen. Dazu gehörte selbstverständlich eine geradezu umwerfende Party, zu der sämtliche Kadetten eingeladen waren.

Zum Spukhaus wurden, wie bereits seit Jahren, unbenutzte Kellerräume der Wohnheime umfunktioniert. Allein die Lage unter der Oberfläche war prädestiniert dafür. Es roch von Natur aus ein wenig modrig dort unten und es war vor allem dunkel. Für ein wenig feuchten Nebel im Spukhaus würde eine Anlage sorgen, die Jim bereits bei einem entsprechenden Service gemietet hatte, ebenso wie Trennwände, um die Großraumflächen in kleinere Kammern zu verwandeln.

Der gesamte Campus war hier und da mit kleinen Dekorationsartikeln bestückt. Selbst in Captain Pikes Büro stand eine kleine Kürbislaterne auf dem Schreibtisch. Jim war tags zuvor bei ihm gewesen, um ihn über die Vorbereitungen auf dem Laufenden zu halten und hatte dabei den ausgehöhlten Kürbis mit der frechen Fratze bemerkt. „Der erinnert mich an Sie, James“, hatte Pike belustigt geäußert. Wie auch immer Pike das gemeint haben mochte, Jim dachte lächelnd an den Moment zurück. Er war froh, einen Mentor wie Christopher Pike zu haben.

Am Halloweenmorgen war Jim schon recht früh aufgestanden. Es war eine der inzwischen fast schon selteneren Gelegenheiten, bei denen er tatsächlich in seinem eigenen Bett geschlafen hatte. Gary machte sich immer wieder darüber lustig, dass Jim doch einfach direkt bei seinem Freund Leonard einziehen solle, da sie ohnehin ständig zusammenhingen. Allerdings wusste Jim, dass Leonard wahnsinnig werden würde, müsste er sich ein Quartier mit ihm teilen. Davon abgesehen hatte er, wie eben seit gestern auch, gelegentlich seine Tochter für ein paar Tage zu Besuch. Und das sollte ihm auch von Herzen gegönnt sein.

Einen rund drei Kilogramm schweren Kürbis im Arm haltend erreichte Jim schließlich Leonards Quartier und betätigte den Türmelder. Zu behaupten, er wäre nicht zumindest ein bisschen nervös, Joanna kennenzulernen, wäre glatt gelogen. Obwohl ihm Leonard so viel von ihr erzählt hatte und er durch Fotos wusste, wie sie aussah, verschlug es ihm beinahe die Sprache als die Tür schließlich zur Seite glitt und die Sicht sowohl auf Leonard als auch auf das Mädchen preisgab, das in seiner unmittelbaren Nähe stand. Leonard hatte die rechte Hand locker auf ihrer Schulter. „Guten Morgen“, grüßte sein Freund ihn.

„Morgen, Bones.“ Er machte einen Schritt in das Quartier und ging vor Joanna in die Hocke. „Es freut mich dich endlich kennenzulernen, Joanna.“

Das Mädchen lächelte verkrampft und suchte Schutz bei seinem Vater. Das war das erste Mal für Jim, dass ein weibliches Wesen ihn nicht auf Anhieb charmant fand. Ein wenig zermürbte ihn ihre Reaktion, doch er war entschlossen sie nicht sofort aufzugeben.

„Ich hab dir einen Kürbis mitgebracht“, fuhr Jim fort und hielt ihr das Geschenk entgegen. „Wir können ihn gerne später zusammen aushöhlen und ihm ein Gesicht schnitzen.“ Joanna nickte langsam und wagte sich einen Schritt aus Leonards Schatten heraus, um den Kürbis entgegen zu nehmen. Allerdings fiel er ihr beinahe aus den kindlichen Händen, da sie offenbar nicht mit dem massiven Gewicht gerechnet hatte. Jim und Leonard griffen beide gleichzeitig nach dem Kürbis, damit er nicht zu Boden fiel und aufplatzte. Dabei berührten sich ihre Hände für einen allzu flüchtigen Moment, woraufhin ein ungewohntes Kribbeln Jims Nervenbahnen durchströmte.

„Ganz schön schwer“, raunte Leonard. „Komm, Jojo, wir stellen ihn erstmal auf dem Couchtisch ab.“ Das Kind gehorchte und ließ sich von seinem Vater dabei helfen, den Kürbis sicher zu besagtem Tisch zu tragen und darauf abzustellen. „Bedanke dich bitte bei Jim.“

Joanna drehte sich zu Jim um, der noch in der Nähe des Eingangs stand und beide wortlos beobachtet hatte. Der Schatten von Leonards Berührung war noch einen kleinen Moment auf seiner Haut zu spüren. Das seltsame Gefühl war neu für Jim. Er beschloss jedoch, nicht genauer darüber nachzudenken, da es heute darum ging Joanna für sich zu gewinnen. Also schenkte er dem süßen brünetten Mädchen sein schönstes Lächeln. „Danke“, brachte sie dann der Form halber zustande. Jim hatte sich etwas mehr Begeisterung erhofft und seufzte innerlich. Das könnte ein verdammt langer Tag werden.

„Joanna, Jim hat heute viel mit dir vor“, erklärte Leonard ihr dann. „Ich hab dir doch erzählt, dass er ein Spukhaus vorbereitet. Er wird es dir bestimmt gerne zeigen. Das wird sicher spannend.“ Er winkte Jim zu sich, so dass sie nebeneinander auf dem Sofa Platz nehmen konnten und zog Joanna auf seinen Schoß. Sie schmiegte sich sofort an ihren Vater. „Hör mal, mir ist bewusst, dass du böse auf mich bist, weil ich heute keine Zeit für dich habe. Aber Jim ist der beste Ersatz … und er kann nichts dafür, dass ich arbeiten muss.“

„Ist mir egal“, war ihre launische Antwort darauf.

Nun wusste Jim auch, weshalb sie ihn nicht begrüßt hatte. Warum sie keine Anstalten machte zumindest zum Schein freundlich zu sein. Und Jim konnte nur allzu gut verstehen, wie sie sich fühlte. Er hatte es ebenfalls gehasst, wenn seine Mutter keine Zeit für ihn gehabt hatte und er sich stattdessen mit Frank – seinem Stiefvater – hatte abgeben müssen. Allerdings war Jim fest entschlossen, Joanna eine gute Zeit zu bescheren. Er hatte sie fest in den Tag eingeplant und allerhand mit ihr vor. Sie würde gar keine Zeit für Langeweile haben und hoffentlich vergessen, dass ihr Vater arbeiten musste.

„Wir sollten jetzt erstmal etwas frühstücken gehen“, schlug Leonard vor und sprach damit nicht nur seine Tochter, sondern auch Jim an. „Und danach muss ich unbedingt ein paar Lebensmittel besorgen, bevor mein Dienst beginnt.“

Joanna zuckte mürrisch die kleinen Schultern und rutschte vom Schoß ihres Vaters, um sich Schuhe anzuziehen.

„Sie braucht einfach etwas, um aufzutauen“, flüsterte Leonard in seine Richtung. Jim nickte lediglich und konnte nur hoffen, dass sein Freund recht hatte.

§§§

Keine halbe Stunde später saßen die drei in einem kleinen französischen Café der Innenstadt San Frans außerhalb des Campus‘ und genossen ein ausgiebiges Frühstück. Jims Blick flog immer wieder zwischen Leonard und Joanna hin und her. Die Ähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen, selbst die mürrischen Charakterzüge schien das Mädchen von seinem Vater geerbt zu haben. Sie war ganz anders als Jim sie sich vorgestellt hatte. Das Eis zu brechen würde nicht leicht werden. Andererseits hatte er schon härtere Schalen geknackt, nämlich Leonards.

„Hey, Joanna“, begann Jim schließlich, „hast du dir schon eine Verkleidung für heute Abend überlegt?“

„Ich hab keine Lust mehr mich zu verkleiden.“

Jim erzwang ein Lächeln, während Leonard seiner Tochter über den Kopf streichelte. Es sollte eine beruhigende Geste sein, stattdessen wich sie seiner Berührung nach einem kurzen Moment aus und warf ihrem Vater einen giftigen Blick zu. „Ach, komm schon“, bemühte sich Jim abzulenken, ehe Leonard sie zurechtweisen konnte. „Ohne Verkleidung macht der Abend doch gar keinen Spaß. Ich hab zwei Freundinnen, die dich in alles verwandeln werden, was du dir vorstellen kannst.“

„Das kann niemand.“

Jim nickte überzeugt. „Oh doch, diese beiden können das. Vertrau mir.“

„Joanna“, wandte sich auch Leonard mit erzwungener Geduld an sie, „du kannst versuchen, das Beste aus dem Tag zu machen, oder ihn dir selbst ruinieren, indem du jeden von Jims Vorschlägen ablehnst. Schau dir das Angebot doch erstmal an. Und wer weiß, vielleicht hast du dann ja doch noch deinen Spaß.“

Weiterhin eingeschnappt zuckte Joanna wieder einmal die Schultern. „Ich bin eh allmählich zu alt für ein Kostüm.“

Jim gab sich empört. „Man ist nie zu alt für Halloween. Richtig, Bones?“ Ausgerechnet auf Zustimmung des größten Halloween-Muffels zu vertrauen, war natürlich leichtsinnig von Jim. Aber er musste darauf bauen, dass Leonard seiner Tochter zuliebe zustimmen würde.

Und zu Jims großer Erleichterung nickte sein Freund und pflichtete ihm bei, auch wenn er nie ein großer Halloween-Fan gewesen war. „Heute Abend werden sich ganz viele Leute verkleiden und ein Großteil davon ist sogar deutlich älter als du, Jojo.“

Das Kind zog eine Schnute, zuckte einmal mehr mit den Schultern und trank dann seinen Kakao aus.

Im Grunde konnte Jim sich wirklich gut in Joanna hineinversetzen. Sie war verletzt, weil ihr Vater sie versetzt hatte. Als ein Fremder in ihrem Leben war Jim daher natürlich ein ganz lausiger Ersatz, vollkommen egal, wie sehr er sich bemühte. Joanna hatte sich auf ein langes Wochenende mit ihrem Vater gefreut.

Nach ihrem gemeinsamen Frühstück machten sie sich auf den Weg noch weiter in die Innenstadt, um Lebensmittel zu besorgen. Joanna schlurfte im Supermarkt lustlos neben dem Einkaufswagen her, den ihr Vater durch die Gänge schob, während Jims Verstand auf Hochtouren arbeitete. Es musste doch etwas geben, womit er Joanna zumindest mal ein kleines Lächeln abringen konnte. Er erwartete keineswegs, dass sie ihn sofort mochte, aber ihre Laune etwas anzuheben, wäre wenigstens ein Anfang.

„Such dir Cerealien raus, Jojo. Die sind da hinten in dem Regal“, wies Leonard seine Tochter an und zeigte ein paar Regalgänge weiter. Joanna gehorchte und folgte dem Fingerzeig ihres Vaters. Sobald sie außer Hörweite war, wandte sich er an Jim. „Es tut mir leid, Jim. So kenne ich sie gar nicht. Sie ist sonst wirklich sonnig und liebenswert.“

„Sie ist stinksauer auf dich“, erwiderte Jim und legte seinem Freund mitfühlend eine Hand auf die Schulter. „Keine Bange, ich bin sicher, sie taut noch auf. Der Tag ist noch jung und es gibt noch allerhand für Halloween vorzubereiten.“

Leonard seufzte sichtbar erleichtert. „Trotzdem hab ich ein schlechtes Gewissen, weil du sie hüten musst.“

Jim wollte erwidern, dass sie nicht der erste launische Mensch war, um dessen Zuneigung er kämpfen musste. Sie war eben eine McCoy und demnach nicht ganz einfach. Für Jim war das kein Problem. „Das wird schon. Ich bin optimistisch.“ Okay, das war geschwindelt. Er war sich nicht sicher, ob es ihm gelingen würde Joanna aufzuheitern. Aber er würde sich eher im Kampf einem Klingonen stellen, als Leonard bezüglich seiner Zweifel die Wahrheit zu sagen.

Joanna kam zurück zu ihnen, eine knallbunte Packung Frootloops im Arm. „Vergiss nicht die laktosefreie Milch, Pa.“

„Die hab ich inzwischen immer daheim“, ließ er sie wissen und warf Jim ein kleines Lächeln zu. Dieser war nämlich ebenfalls laktoseintolerant.

Jim erwiderte das Lächeln und hielt den Blick zu seinem Freund einen Augenblick länger fest, als es angemessen war, ehe er etwas verlegen den Augenkontakt abbrach. „Wie wäre es, wenn wir uns fürs Wochenende mit mexikanischem Essen eindecken?“, schlug er dann zur Ablenkung vor.

„Hört sich gut an“, stimmte Leonard zu. „Geh du die Bohnen und den Mais für die Tortillas holen, Joanna und ich besorgen den Salat und die Paprika. Wir treffen uns dann in der Fleischabteilung.“

Jim nickte, kam aber nicht umhin mitzuhören, wie Joanna sich prompt bei ihrem Vater darüber beschwerte, dass Jim über das Essen bestimmte. Allerdings bekam er nur Fetzen dessen mit, was Leonard darauf erwiderte. Womöglich war es besser, wenn er das Wochenende nach dem heutigen Tag in seinem eigenen Quartier zubrachte und zur Abwechslung lernte, anstatt bei Leonard rumzuhängen. Vor allem, wenn Joanna ihn nicht um sich haben wollte.

Während seine Gedanken um das bevorstehende Wochenende kreisten, suchte er rasch die Konservenabteilung auf und holte dort wie vereinbart die Bohnen und den Mais. Auf dem Weg zum Treffpunkt kam er an der Abteilung mit dem Süß- und Knabberkram vorbei und schnappte sich zwei große Tüten mit Nachos und dazu verschiedene Dippsoßen. Er war ein wenig überladen, als er Leonard schließlich fand und sämtliche Sachen einfach in den Einkaufswagen fallen ließ.

„Sieht gesund aus“, feixte der Arzt. „Vergiss nur den Tequila nicht.“

Gesagt, getan. Jim eilte davon und kehrte mit einer Flasche goldenen Tequilas zurück und einem Netz frischer Orangen. „Sieht das gesünder aus?“, fragte er spaßeshalber und Leonard gluckste daraufhin tief, sobald er die Orangen bemerkte.

„Ja, schon besser.“

Leonard hatte inzwischen das Hackfleisch geholt, außerdem hatte er Hähnchenbruststreifen und ein paar andere Zutaten besorgt.

„Jojo, was meinst du, was wir noch für ein mexikanisches Wochenende brauchen?“, wandte sich Jim direkt an sie, um sie miteinzubeziehen. Sie sollten sich nicht ausgegrenzt fühlen.

„Wir haben noch keine Wraps.“

Auch die Wraps fanden kurz darauf ihren Weg in den gemeinsamen Einkaufswagen und die drei stellten zufrieden fest – nun ja, Joanna war so zufrieden, wie sie eben an diesem Tag sein konnte –, dass sie alles Nötige hatten und am Wochenende wohl nicht verhungern oder verdursten würden.

§§§

Nach einem kurzen gemeinsamen Mittagessen verabschiedete sich Leonard von ihnen und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Jim und Joanna sahen gleichermaßen bedauernd zum Fenster hinaus und folgten ihm mit ihren Blicken, bis er außer Sichtweite war. Nun war Jim in der Tat auf sich allein gestellt.

„Also, Joanna, wie wäre es, wenn wir jetzt mal beim Spukhaus vorbeischauen? Da gibt es noch eine Menge zu tun, damit es heute Abend wirklich gruselig wird.“

„Von mir aus …“ Ihre Worte wurden wieder von diesem Schulterzucken begleitet, das Jim ihr inzwischen wirklich übelnahm.

Sein erster Impuls war, etwas zu ihr zu sagen, aber er überlegte es sich anders und presste stattdessen die Lippen aufeinander. Egal was er ihr sagen würde, es würde die Situation nicht verbessern. Und er wollte vor allem vermeiden, etwas zu sagen, was seine Beziehung zu ihr nachhaltig beeinträchtigen könnte.

§§§

Auf dem Weg zur Cochrane Hall gewann Jim zum ersten Mal an diesem Tag den Eindruck, dass Joanna vielleicht doch noch auftauen würde. Sie bestaunte die Kürbisse, geschnitzte und naturbelassene gleichermaßen, die den Weg zum Spukhaus säumten. An einer Eiche ganz in der Nähe, deren Blätter im Wind raschelten, baumelten Skelette herab. Joanna suchte automatisch Jims Nähe, was ihm ein kleines Lächeln abverlangte. Als sie das Wohnheim schließlich erreichten und direkt auf die große Doppeltür zugingen, ging Joanna sogar soweit, dass sie Jims Hand ergriff und festhielt. An den Backsteinwänden des Gebäudes krabbelten ausgesprochen real aussehende Riesenspinnen auf und ab, die den Eindruck vermittelten das Haus einzuspinnen.

Am Himmel über ihnen türmten sich tiefdunkle Wolken auf, die zunehmenden Wind mit sich brachten. Jim hoffte nur, dass es nicht anfangen würde zu regnen. Schließlich wollte er später mit Joanna Süßigkeiten sammeln gehen. Vorerst waren sie innerhalb des Gebäudes jedoch sicher. Jim beschloss, sich ein Problem nach dem anderen anzunehmen.

Die Dekoration nahm im Innern des Gebäudes nicht ab, ganz im Gegenteil. Das Licht der Korridore flackerte, unheimliche Geräusche, die wie Geisterflüstern klangen, drangen aus versteckten Boxen. Schilder, die zur Umkehr rieten, Pentagramme zeigten oder Totenschädel abbildeten und Grabsteine säumten ihren weiteren Weg. Der Korridor war weiterhin mit Kürbissen und schwarzen Kerzen in allen möglichen Größen gesäumt. Seine Freunde hatten bisher wirklich gute Arbeit geleistet. Es wurde jedoch allerhöchste Zeit, dass er seinen Teil dazu beitrug.

Im Untergeschoss angekommen wurden sie prompt von einem Sarg begrüßt, der aufrecht an einer der Wände gelehnt stand. Plötzlich öffnete sich der Sargdeckel knarrend und ließ ihnen einen halbverwesten Körper entgegenstürzen, den Jim geistesgegenwärtig auffing. Joanna ging derweil mit einem spitzen Aufschrei hinter ihm in Deckung. Selbstverständlich war der Körper nur eine Attrappe, aber sie wirkte verdammt echt. Selbst Jims Herzschlag hatte sich für einen kurzen Moment verdoppelt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Sensorbereich bereits aktiv war.

„Jo, alles in Ordnung?“ Er wandte sich besorgt zu dem Mädchen um.

Dieses erzwang ein Lächeln und nickte. „Ja, ich denke schon.“

Das helle Lachen einer Frau näherte sich ihnen. Der Körper verschwand von allein wieder in dem Sarg, der sich schloss und wieder so dastand als wäre nichts geschehen.

„Oh du hättest dein Gesicht sehen sollen“, sagte die Orionerin, als sie die beiden schließlich erreichte, und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. „Unbezahlbar.“

„Das war deine Idee, oder?“, erwiderte Jim nur und schloss seine nickende Freundin zur Begrüßung in die Arme. „Du bist unverbesserlich.“

„Ach, gönn mir den Spaß. Die meisten Scherze hier hast du dir ausgedacht. Der Sarg war meine Idee und ich wusste, dass ich dich nur vor der Feier damit überraschen kann.“ Sie nahm das Mädchen hinter Jim zur Kenntnis. „Und wer bist du?“

„Joanna McCoy.“

„Bones’ Tochter“, ergänzte Jim. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich für Halloween bereits vergeben bin.“

„Ich dachte nicht, dass du damit ein kleines Mädchen gemeint hast. Aber gut, mit dieser Konkurrenz kann ich leben.“ Sie schenkte Jim ein strahlendes Lächeln.

„Joanna, das ist meine Freundin Gaila“, stellte Jim sie schließlich vor.

Die Orionerin wandte sich wieder an das Mädchen. „Und wo hast du deinen Dad gelassen, Joanna?“

„Der muss arbeiten.“

Gaila nickte verständnisvoll. „Hast du Lust, Kürbisse mit mir zu schnitzen? Wir brauchen sicher noch ein Dutzend.“

Joanna sah Jim an, wollte sein Einverständnis. Er nickte lächelnd, wurde jedoch gleich darauf ernst. „Aber du bleibst bei Gaila. Dein Vater bringt mich um, wenn ich dich verliere.“ Gaila und Joanna seufzten daraufhin gleichermaßen genervt. Joannas Augenrollen erinnerte ihn auf unglaubliche Weise an Bones. „Dann werde ich mal Gary zur Hand gehen, ehe er dort hinten von der Leiter stürzt.“

Gaila folgte Jims Fingerzeig. Gary Mitchell stand in der Tat ganz oben auf einer wackelig aussehenden Leiter und hängte ein Spinnennetz an die zweieinhalb Meter hohe Zimmerdecke.

Jim wusste, dass sein Freund Gary mitunter an Höhenangst litt. Selbstverständlich wollte dieser das nicht zugeben, um keine Schwäche vor den übrigen Kadetten zu zeigen. Jim hatte es jedoch recht früh erkannt und löste seinen Kumpel daher ab. Abgesehen davon hatte Jim von der Spitze der Leiter aus einen perfekten Überblick über die Kellerhalle und konnte Joanna somit im Auge behalten. Es war nicht so, dass er Gaila nicht vertraute, aber Joanna war unter seiner Aufsicht. So viel Verantwortung hatte ihm bislang niemand anvertraut. Und er wollte dieses Vertrauen auf keinen Fall enttäuschen.

Er konnte sehen, dass Gaila und Joanna sich zu Uhura gesellten. Kurz darauf vergrub Joanna ihre kleinen Hände in einem Kürbis, um das Fruchtfleisch herauszuholen. Der Kürbis war so groß, dass Joanna bis zu den Ellbogen in dem orangenen Monstrum steckte. Sie verzog dabei das Gesicht, als müsse sie einen Menschenschädel aushöhlen. Allerdings wich der Ekel in ihrem Gesicht Triumph, als sie zwei Hände voll Fruchtfleisch empor förderte. Die drei lachten und alberten während der Arbeit herum, so dass Jim ihnen am liebsten Gesellschaft leisten würde. Aber er hatte genug anderes zu tun. Schließlich wartete neben den Spinnen noch ein ganzer Karton voller Fledermäuse darauf, an die Decke gehängt zu werden.

§§§

Die Sonne ging schließlich unter, auch wenn sie hinter der dunklen Wolkenfront ohnehin nicht mehr zu sehen war. Der Asphalt und die Wiesen waren nass vom Regen, der inzwischen niedergegangen war. Jim und Joanna verließen das Spukhaus deutlich nach Gaila und Uhura. Die beiden hatten sich irgendwann mit der Begründung verabschiedet, sich schließlich noch für die Party verkleiden zu müssen.

Allerdings hatten die beiden Jim auch angeboten, Joanna zu schminken. Damit hatte er insgeheim fest gerechnet. Er hatte geahnt, dass die beiden nicht widerstehen könnten und das Mädchen schnell ins Herz schließen würden. Und so kam es, dass sie schließlich im Quartier der beiden Frauen waren und Jim dabei zusah, wie aus dem hübschen kleinen Mädchen eine wirklich unheimliche Untote wurde.

Gaila hatte sich in diesem Jahr als Hexe verkleidet, was perfekt zu ihrer ohnehin grünen Haut passte. Das restliche Make-Up war sehr düster gehalten, die eine oder andere Warze war in ihrem Gesicht ‚gewachsen‘. Ihr Kleid war lang und schwarz mit weit ausgestellten Ärmeln. Der dazu passende spitze Hut lag noch auf der Kommode.

Uhuras Kostüm war etwas schwerer zu erraten. Nun ja, Jim konnte es überhaupt nicht erraten. Es war so typisch für Uhura, sich nicht allzu offensichtlich zu verkleiden. „Was stellst du eigentlich dar?“, fragte Joanna sie dann zu seiner Erleichterung und Jim konnte sich die Blöße ersparen, dass er es nicht erraten konnte.

„Ich bin eine Vampirjägerin“, erklärte Uhura lächelnd und deutete auf die kleinen Utensilien, die zum Beweis am Gürtel ihrer khakifarbenen Cargohose baumelten; ein Kruzifix, ein Fläschchen – vermutlich gefüllt mit Weihwasser -, und einige Holzpflöcke.

Natürlich hätte Jim darauf kommen können, wenn er sich denn ein wenig mit Mythen beschäftigt hätte, was nicht unbedingt der Fall war.

„Als was verkleidest du dich, Jim?“, wollte Joanna schließlich von ihm wissen.

Er wackelte mit seinen vollen Augenbrauen. „Mike Myers“, antwortete er dann und fing sich daraufhin nichts als verwirrte und fragende Blicke ein. „Ach, kommt schon, habt ihr noch nie von Mike Myers gehört?“ Als die drei unisono die Köpfe schüttelten, setzte Jim sich auf Gailas Bett und begann, ihnen von seiner liebsten Horrorgeschichte zu erzählen. Dabei senkte er absichtlich seine Stimme und ließ sich reichlich Zeit mit der Erzählung. Als er geendet hatte, sah er in drei zutiefst gebannte und auch schockierte Gesichter.

§§§

Der Streifzug durch die Stadt war trotz des starken Windes und dem androhenden Unwetter ein voller Erfolg. Joanna hatte Jim im Verlauf des Abends jedoch gebeten, die unheimliche Maske abzunehmen. Im Halbdunkel der Stadt waren seine Augen darunter kaum erkennbar gewesen, was Joanna tatsächlich Angst machte.

„Ist deine Tasche voll?“, fragte Jim irgendwann. Sie waren rund zwei Stunden unterwegs gewesen. So allmählich bekam er Durst und auch etwas Hunger und wollte zurück ins Spukhaus. Er hatte seinen Freunden versichert, zumindest für eine oder zwei Stunden vorbeizukommen. Joanna würde sich bestimmt auch amüsieren. Immerhin waren sämtliche Kadetten kostümiert, das Spukhaus bot Gänsehaut pur und es gab viele leckere Snacks. Auf Alkohol würde er in diesem Jahr jedoch verzichten müssen.

Die kleine Untote an seiner Seite nickte strahlend. „Ja, ich hab genug.“ Sie nahm ihn wieder bei der Hand. „Danke, dass du das mit mir gemacht hast.“

„Ich hoffe doch, du gibst mir was ab?“, schmunzelte Jim und drückte ihre kleine Hand zärtlich.

„Hm, ich weiß noch nicht“, feixte sie und schmiegte sich an seine Seite. „Vielleicht, wenn du mir später noch so eine tolle Gruselgeschichte erzählst.“

Jim gluckste tief. „Kann ich gerne machen. Hast du schon mal von Freddy Krüger gehört?“

Joannas Augen leuchteten in Vorfreude auf. Jim war unfassbar froh, dass sie sich im Verlauf des Abends geöffnet hatte. Letztlich hatte er sie wohl doch mit seinem Charme überzeugen können.

§§§


Auf der Party wurden sie lautstark von Marilyn Mansons ‚Sweet Dreams‘ begrüßt. Diesmal fielen sie auch nicht auf den Sarg am Eingangsbereich herein, der ihnen zum zweiten Mal an diesem Tag den darin verborgenen Leichnam entgegenschleuderte.

Joanna hatten ihren Spaß auf der Party, ganz wie Jim gehofft hatte. Sie machte beim Apfelfischen mit, ließ sich von mehr als einem Dutzend Attrappen erschrecken, die überall verteilt herumstanden und bewunderte die Kostüme der Kadetten.

„Das ist das beste Halloween, das ich je hatte“, rief sie gegen die Musik an, während Jim mit ihr tanzte.

In ‚Sweet Dreams‘ mischte sich schließlich das Knarren einer alten Tür, gefolgt von Schritten, Donnergrollen und dem fernen heulen eines Wolfes. Michael Jacksons ‚Thriller‘ lief schließlich an, woraufhin Gaila – in ihrer unmittelbaren Nähe – einen Freudenschrei ausstieß, ihren Hexenhut in weitem Bogen fortwarf und zu tanzen begann. Ehe Jim und Joanna sich versahen, verfielen sämtliche Kadetten auf der Tanzfläche in eine Art Line Dance. Das ungleiche Paar trat ein wenig zur Seite und sah staunend zu, wie Gaila die Tanzgruppe anführte. Jim begann im Rhythmus zu klatschen und Joanna schloss sich ihm begeistert an. Uhura erschien neben Gaila und fiel ebenfalls in die Tanzschritte ein. Jim fragte sich, wann um alles in der Welt sie das einstudiert hatten? Bevor er sich einen Reim darauf machen konnte, zogen ihn die beiden Frauen gleichsam auf die Tanzfläche zurück. Joanna folgte ihm sofort. Ehe sie sich versahen, tanzten auch sie mit dem Rest und lachten ob der teils bizarren Tanzschritte, die jedoch recht schnell gelernt waren, da sie sich nach einer Weile wiederholten.

Die Stunden gingen allzu schnell vorbei. Als Jim irgendwann aufs Chrono schaute, stellte er entsetzt fest, dass es kurz vor Mitternacht war. Bones würde ihn umbringen, wenn er wüsste, dass Joanna noch wach und vor allem auf dieser Party war. Daher verabschiedete er sich in aller Eile von seinen Freunden, schnappte sich Joanna, die an Uhura gelehnt fast eingeschlafen war, während Gary eine Gruselgeschichte erzählte. Offenbar waren seine Geschichten nicht so gut wie Jims, was diesem selbstredend ein gewisses Maß an Genugtuung verschaffte. Besonders, da Gary so ziemlich Jims einziger Konkurrent war.

„Ich bin noch gar nicht so müde“, murmelte Joanna an Jims Schulter, der sie inzwischen trug, da sie ihm zu langsam war und er wirklich schnell zurück in Bones‘ Quartier wollte. Sie gähnte herzhaft, was ihre Aussage zunichtemachte.

„Aber ich bin platt“, erwiderte Jim und streichelte ihren Rücken. Inzwischen war es fast windstill geworden, dafür war ein ziemlich dichter Nebel vom Pazifik heraufgekrochen und hatte sich während der letzten Stunden über den Campus gelegt. Jim konnte kaum drei Meter weit sehen. Zum Glück kannte er sich gut aus und fand auch so schnell zum Wohnheim der Mediziner.

§§§

Joanna putzte sich brav die Zähne, nachdem sie ihr Kostüm gegen einen Pyjama eingetauscht und sich abgeschminkt hatte. Nun ja, ein kleiner Rest Make-Up war noch zu sehen, aber der würde mit der morgendlichen Dusche verschwinden. Für die Nacht würde es wohl ausreichen, mutmaßte Jim.

„Erzählst du mir jetzt noch von diesem Freddy?“, wollte Joanna wissen und kuschelte sich in das Bett ihres Vaters.

Jim setzte sich zu ihr. „Also gut, aber dann ist Feierabend. Dein Pa kommt in weniger als einer Stunde und dann solltest du wirklich schlafen.“

„‘m kay“, nuschelte sie und kroch ein wenig näher an Jim heran, so dass sie ihren Kopf auf seine Brust legen konnte. Sobald sie beide gemütlich lagen, dimmte Jim das Licht im Schlafzimmer auf fünfzehn Prozent und begann mit seiner Erzählung.

§§§

Als Leonard schließlich vollkommen erschöpft von seiner Schicht heimkam, fand er nicht nur Joanna sondern auch Jim schlafend in seinem Bett vor. Zu zweit nahmen sie mehr als die Hälfte des Bettes ein, dennoch brachte er es nicht über sich, Jim zu wecken, der tief in der Mitte des Bettes schlief, und auf die Couch zu dirigieren. Zu sehen, dass Jim sich schützend an Joanna schmiegte, wärmte sein Herz trotz aller Müdigkeit. Es schien, als hätten sie einander doch noch schätzen gelernt, was Leonard kaum überraschte. Es war keineswegs leicht, Jim nicht zu mögen. Er hatte es ja selbst versucht und war dabei kläglich gescheitert.

Leonard ging zurück ins Wohnzimmer und betrachtete argwöhnisch das Sofa. Er bekam stets Nackenschmerzen, wann immer er länger darauf schlief. Es war einfach zu klein für ihn. Also ging er wieder zurück nach nebenan ins Schlafzimmer. Eigentlich sollte die Entscheidung nicht so schwerfallen. Es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass er sich ein Bett mit Jim teilte. Aber es war das erste Mal, dass Joanna es mitbekam und es war vor allem das erste Mal, dass er sich zu Jim legte und nicht anders herum. Andererseits war das sein Bett und er war absolut hundemüde!

„Ach, was soll’s“, brummte er vor sich hin, zog sich rasch die Arbeitsklamotten aus bis er nur noch Unterwäsche trug und kroch neben Jim ins Bett. Nachdem der erste Moment, der etwas befremdlich wirkte, vorüber war, fühlte es sich erstaunlich gut an, in ein vorgewärmtes Bett zu liegen. Manchmal war es viel zu leicht, sich an gewisse Veränderungen zu gewöhnen. Insgeheim fürchtete Leonard, dass er irgendwann nicht mehr ohne Jim an seiner Seite schlafen konnte. Trotzdem legte er zögerlich seinen linken Arm um Jim, so dass er mit der Hand auch Joanna auf der anderen Bettseite berühren konnte, und schloss die Augen.

Das leise „Nacht, Bones“ keine dreißig Sekunden später hörte Leonard schon nicht mehr.


E N D E
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