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Strategic Decision

von Julian Wangler

Prolog - Wer bin ich?

Strategic Decision – Die Rückkehr der romulanischen Bedrohung

Klappentext:

Ende des Jahres 2364 beendet das Romulanische Sternenimperium seine zweite außenpolitische Isolationsphase. Kurz darauf erhebt sich die lange Zeit abwesende romulanische Bedrohung für die Föderation erneut. In den kommenden Jahren versuchen die Romulaner mit ihren schlimmsten Waffen – Intrige, List und Tücke – dem planetaren Völkerbund zu schaden und den eigenen Einfluss zu mehren.

Eine kritische Phase beginnt, in der die akute Gefahr eines erneuten kriegerischen Zusammenpralls beider Supermächte immer wieder aufflammt. Die Sternenflotte sieht sich mit verschiedenen, scheinbar nicht zusammenpassenden Aktionen des romulanischen Gegners konfrontiert. Ein schlüssiges Gesamtbild fehlt ihr.

Was niemand weiß: Der abrupte Kurswechsel des Sternenimperiums kurz nach seiner Rückkehr auf die intergalaktische Bühne ist Folge eines von langer Hand geplanten Staatsstreichs, der sich Mitte 2365 vollzieht. Seine Architekten und Strippenzieher finden sich in einem erlesenen Kreis von Personen, mit denen Captains wie Jean-Luc Picard und Benjamin Sisko im Laufe der Zeit zusammentreffen sollen. Diese Runde, angeführt vom machthungrigen Vize-Prokonsul Neral, hat kein geringeres Ziel als die Schmach von Cheron zu rächen und auf den Ruinen der Föderation der Flagge des Sternenimperiums zu hissen. Doch die Mittel, die sie auf dem Weg dorthin einsetzt, sind andere als die ihrer Vorfahren, welche sich vor zweihundert Jahren in einem offenen, heißblütigen Krieg verloren.


Romulaner sind wie Wam-Schlangen: Je schwächer Du bist, desto besser können Sie Dich riechen – und wenn dieser Geruch zu verlockend geworden sind, schlagen sie erbarmungslos zu.


– K’mpec,
Kanzler des Klingonischen Reichs



~

2352

„Ich habe wieder geträumt, Mutter.“

In ihrem einfachen und schlicht eingerichteten Haus, das sie mit ihrer Tochter bewohnte, hatte Natasha Yar das Essgeschirr vom Tisch geräumt. Nun stand sie über der Spüle und wollte die Reste des Abendessens beseitigen. Ihre Tochter Sela wischte langsam mit einem Lappen über den Tisch. Dabei wirkte sie äußerst gedankenverloren, und Tasha wusste, dass es besser war, ihre Tochter in diesem Zustand nicht anzusprechen.

Das Mädchen hatte unberechenbare Launen. Häufig schien sie mit ihrem Geist an einem ganz anderen Ort zu verweilen, vielleicht sogar in einer ganz anderen Zeit. Darüber empfand Tasha Verzweiflung, war sie doch nicht in der Lage, ihrer Tochter zu helfen. Sie versuchte sich einzureden, dass auch das vorbeigehen würde. Aber sie hegte den betrüblichen Verdacht, dass sie sich in Wirklichkeit nur etwas vormachte.

Es waren diese Träume, die Tasha am allermeisten fürchtete. Es war schon eine ganze Weile her, seit Sela zuletzt darüber gesprochen hatte. Tasha hatte gehofft, dass sie nun davon befreit wäre. Aber sie wusste auch, dass Sela vielleicht nur aufgehört hatte, ihr davon zu erzählen, weil sie wusste, wie aufwühlend es für ihre Mutter war. All das verstärkte letztlich Tashas Gefühl der allgemeinen Hilflosigkeit. Die Vorstellung, ihre Tochter könnte sich einmal so verhalten, dass sie ihrer Mutter keinen Kummer bereitete… Nein, das wäre zu schön, um wahr zu sein.

Dann erteilte sich Tasha einen stummen Tadel. Da machte sie sich Sorgen wegen ihrer möglichen Unzulänglichkeit, während ihre einzige Sorge Sela gelten sollte. Sela, die eine so zarte Schönheit war, wie eine kunstvoll gearbeitete Puppe, die so zerbrechlich unter all den vollblütigen Romulanern wirkte, dass bereits ein hartes Wort sie zu zerstören drohte. Sela war gerade so alt, dass sie noch von den letzten flüchtigen Erinnerungen an ihre kindliche Unschuld umweht wurde, während die Figur und die Bewegungen der Frau, zu der sie erst vor kurzem geworden war, noch frisch und ursprünglich wirkten. Sie trug ihre Weiblichkeit wie ein Frühlingskleid, das noch ganz neu war.

Sela hatte den Tisch sauber gewischt und nichts mehr gesagt. Offensichtlich erwartete sie, dass ihre Mutter das Schweigen beendete. Und das tat sie, früher oder später.

„Du hast mir in den letzten Wochen nicht mehr erzählt, ob Du geträumt hast.“

„Mutter, ich denke, Du weißt sehr gut, ob ich träume…und was ich träume.“

In Selas Stimme lag weder Ungeduld noch Verärgerung. Es war, als hätte sie sich einfach mit einem Zustand abgefunden, der ihr ein Gräuel war, gegen den sie aber nichts unternehmen konnte.

„Ja, natürlich. Es ist nur so, dass…“

Tasha sprach nicht weiter, weil sie das Gefühl hatte, dass Sela ihr ohnehin nicht mehr zuhörte.

Vielleicht spürte sie, dass etwas zwischen ihnen zerbrochen war. Früher hatte Tasha ihr viel erzählt, immer in Meldets Abwesenheit, irgendwann hatte sie ihre Geschichten eingestellt, weil sie Selas Unbehagen darüber spürte. Aber tief in Tasha schien es diese Geschichten nach wie vor zu geben, und Sela wünschte, dem wäre nicht so gewesen.

Ihre ganze Kindheit lang musste sich Sela immer wieder Erzählungen über ein großartiges Raumschiff namens Enterprise und seine Crew anhören. Sela hatte bis heute nicht alles davon verstanden. So hatte Tasha ihr zum Beispiel erzählt, ein gewisser Captain Picard hätte sie ‚aus der Zukunft’ her gewiesen. Die Bedeutung dieser Worte zu erfassen, war Sela nur sehr schwer möglich.

Angeblich war das Schiff ihrer Mutter, der Föderationsraumer namens Enterprise–D, irgendwie ihrem Gegenstück aus der Vergangenheit begegnet, der Enterprise–C, und das in einer alternativen Zukunft. Die Verantwortung dafür, so Tasha, trug eine Raum–Zeit–Anomalie, die niemand zu erklären vermochte. Wie auch immer es geschehen sein mochte: Dieser besagte Captain Picard schickte Tasha auf die Enterprise–C, das Schiff aus der Vergangenheit. Und jenes Raumschiff wurde, nachdem es in seine Zeit zurückreiste, von Romulanern angegriffen, im Orbit einer Welt namens Narendra III.

Bis auf einige wenige – unter ihnen Tasha – fanden fast alle Besatzungsmitglieder den Tod. Nach dem Verhör weckte sie das Interesse von Meldet, der sich in sie verliebte. Sela wollte gerne glauben, dass es sich bei ihrer Mutter genauso verhalten, dass auch sie sich verliebt hatte. Sie ging davon aus, dass sich so ihre Eltern gefunden hatten. Nur ein halbes Jahr später war sie geboren worden, als Kind einer Menschenfrau und eines Generals der romulanischen Garde.

Sela glitt durch den Raum, mit ihren bemerkenswert anmutigen Schritten, als würde sie schweben und nicht wie eine Normalsterbliche gehen. Sie blieb am Fenster stehen und blickte zum fernen Horizont. Zu dieser Jahreszeit ging die Sonne früh unter, das Firmament dunkelte sich in fließenden Stufen ab.

„Ich gehe nach draußen, Mutter.“

Diese Ankündigung überraschte Tasha. „Nach draußen? Bist Du Dir sicher?“

Diesmal drehte sich Sela halb zu ihr herum. Ihre dünnen Lippen hatten sich zu einem leichten Lächeln verzogen. „Du fragst mich ständig, ob ich mir sicher bin, Mutter. Du scheinst mir nicht übermäßig zu vertrauen. Wieso sollte ich Angst haben, durch die Straßen meiner Heimat zu gehen?“

„Du sollst keine Angst haben.“, sagte Tasha. „Das ist meine Aufgabe.“

Sela seufzte. „Bin ich eine Gefangene Mutter?“

„Nein. Ganz und gar nicht. Ich würde Dir niemals verbieten…“ Ihre Hände fuhren ziellos durch die Luft, dann sagte sie einfach: „Nein. Aber ich will nicht, dass Du Dich aufregst.“

„Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen. Es kann nicht schlimmer als meine Träume sein.“

„Dann gehe ich mit Dir nach draußen.“

„Nein. Ich möchte alleine gehen.“

„Bist Du Dir –…“

„Ja, ich bin sicher!“

Und so ging sie.



Sela war sich der Blicke bewusst, die sie verfolgten. Sie zeigte sich selten genug in der Stadt, sodass bereits ihre bloße Anwesenheit Aufmerksamkeit erregte.

Sie drehte sich noch einmal um, sah, wie ihre Mutter ihr aus dem Küchenfester zuwinkte. Um sie nicht zu beunruhigen, hob sie ebenfalls kurz die Hand und ging dann weiter.

Ihre Mutter… Obwohl sie sie nach besten Kräften versorgte, blieb trotzdem ein Gefühl der Distanz und Fremdartigkeit. Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie so empfand. Ihre Mutter hatte nie etwas getan, das ihr das Gefühl gegeben hätte, unerwünscht zu sein. Sie war eine gute und liebenswürdige Frau, die sich vielleicht etwas mehr um sie sorgte, als nötig war, und die sich vermutlich eher ein Messer ins eigene Herz stoßen würde, als die Gefahr einzugehen, dass ihrer geliebten Tochter etwas zustieß.

Sie wusste, dass sie ihre Mutter verehrte. Tasha hatte ihr nie etwas getan und würde nie zulassen, dass ihr etwas geschah… Und doch schien sie gewissermaßen ein, wenn nicht der Grund zu sein für Selas Probleme.

Wer bin ich, Mutter? Wer bin ich wirklich? Wie oft hatte sie ihr diese Frage gestellt und darauf immer eine Antwort erhalten, die alles bereitzuhalten schien, nur nicht die volle Wahrheit. Dass die große Liebe zu Meldet, ihrem Vater, Tashas Umzug nach Romulus bewirkt hätte. Dass Sela das Produkt dieser einzigartigen Verbindung sei. Diese Phrasen kamen, seit Tasha aufgehört hatte, von der Enterprise zu erzählen, immer und immer wieder.

Aber Sela war alles andere als dumm. Sie realisierte sehr schnell, dass sich die romulanische Öffentlichkeit ausgesprochen xenophob ausnahm. Ein Fremdling wurde nicht bloß angestarrt – er wurde beleidigt, er wurde verurteilt, er wurde gehasst. Ein ungeheurer Druck lastete auf einem Fremdweltler, der auf Romulus Zeit verbrachte, und je länger, desto intensiver. Sela kannte den schwermütigen Ausdruck in Tashas Augen; sie wusste, wie verschlossen diese in vielerlei Hinsicht war, und trotzdem hatte ihre Mutter über all das nie ausführlich gesprochen, sondern nur die üblichen abgedroschenen Reaktionen gebracht. Meldets Kommentare waren diesbezüglich nicht sehr viel erhellender, aber an der erhabenen, stolzen, vor nichts zurückweichenden Art, die er an sich hatte, bemerkte Sela schnell, dass ihre Mutter auf Romulus nicht die Frau der freien Stücke war, für die sie sich ausgab.

Irgendetwas, da war sie sich immer sicherer, hielten ihre Eltern, insbesondere Tasha, vor ihr geheim.

Auf der anderen Seite hatte die nicht–romulanische Hälfte Sela viele Komplikationen bereitet. Die Ärzte sagten, ihre Albträume rührten von dieser unheiligen Verbindung von menschlichem und romulanischem Erbgut. Irgendein bei Romulaner inaktives PSI–Gen sei bei der ihrer Zeugung aktiviert worden und versetze sie zeitlebens in visionsartige, virtuose Zustände, in denen sie Dinge sah, die niemand anderes vernahm. Seit ihrem fünften Lebensjahr bekam sie entsprechende Medizin, von der allem voran ihre Mutter glaubte, es lindere die Auswirkungen des PSI–Gens. Sela meinte aber nur eine marginale Verbesserung feststellen zu können. Immerhin hatten die Mediziner die Hoffnung geäußert, die Symptome würden sich in den Erwachsenenjahren abschwächen.

Tatsache war: Die Ärzte hatten keine Ahnung, was sie plagte. Und es bestand auch kein Anlass, sich damit auseinanderzusetzen. Sie war ein Hybrid, und Hybriden gab es nicht auf Romulus. Und gab es sie doch in irgendwelchen Winkeln, dann waren sie so verpönt, dass ihre Existenz quasi öffentlich geleugnet wurde. Sela wusste, was die anderen Kinder und Jugendlichen von ihr dachten. Sie hatte sich oft mit Anfeindungen auseinandersetzen müssen, vor allem nach sportlichen Aktivitäten, da sie aufgrund ihrer halbmenschlichen Physis nicht mit ihren Altersgenossen mithalten konnte.

„Kinder, die zu schwach sind, werden auf Romulus nach ihrer Geburt ertränkt.“, hatte ein Mädchen vor einigen Jahren zu ihr gesagt. „Warum haben Dich Deine Eltern nicht ertränkt?“

Die schockierende Wahrheit war: Sela wusste es nicht. Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie in diese Welt gesetzt worden war.

Ein alter Mann aus der Nachbarschaft hatte sie stets mit abweisenden Blicken gemustert. Bevor er dahinschied, sagte er Sela: „Die Familie wird auf Romulus hoch geschätzt. Deshalb hat man Dich noch nicht zu Freiwild erklärt. Solange Du Dich hinter Deinen Eltern verstecken kannst, wirst Du keine Probleme haben. Doch es wird der Zeitpunkt kommen, wo Du wirst beweisen müssen, was Du wirklich wert bist, Halbblut.“

Halbblut… Er war der Erste, aber lange nicht der Letzte gewesen, der sie so nannte. Es war eigenartig, fand das Mädchen, wie schnell man sich an Dinge gewöhnte, die einem nur zum Nachteil gereichten.

Wie dem auch sein mochte: Ihre Fragen waren unbeantwortet geblieben. Und angesichts ihrer immer größeren Probleme in dieser Gesellschaft, fand sie, war Tasha ihr es schuldig, die volle Wahrheit zu erzählen.

Wovor fürchtet sie sich nur?... Wovor?

Sela lief die Hauptstraße entlang, die quer durch die kleine Ansiedlung verlief, und sah ihr Spiegelbild im Schaufenster eines Geschäfts. Und sie sah, dass ein paar Jungen ihr folgten, die bis vor kurzem noch auf der Straße gespielt hatten. Sie hatte nicht das Gefühl, verfolgt zu werden. Die Jungen waren bloß neugierig und versuchten den Eindruck zu erwecken, zufällig in diese Richtung zu schlendern und ihr keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken.

Sela wünschte sich, es würde ihr schmeicheln oder sie wenigstens belustigen. Doch sie empfand überhaupt nichts, als wären sie ihr völlig gleichgültig.

Sie fragte sich allmählich, ob es irgendetwas auf der Welt außer ihren Mikrokosmos gab, das ihr nicht gleichgültig war.

Unvermittelt blieb sie stehen und drehte sich zu den Jungen um. Diese blieben wie angewurzelt stehen und flüsterten einander etwas zu.

„Verschwindet.“, sagte Sela.

Die Jungen zuckten zusammen und zogen sich hastig zurück.

Sie bedauerte diese Entwicklung. Um ehrlich zu sein, hätte sie nichts dagegen gehabt, wenn einer oder sogar alle bei ihr geblieben wären. Aber seltsamerweise sehnte sie sich gleichermaßen nach Gesellschaft wie nach Einsamkeit. Sie versuchte erst gar nicht, diese Anwandlung zu verstehen. Sie fragte sich, ob es ihr überhaupt möglich war, jemals etwas zu verstehen.

Die Träume, die sie hatte, umschwirrten ihr Bewusstsein wie Insekten.

Sela ging weiter, und nachdem sie die schlichten Gebäude der kleinen Stadt – sie lag übrigens auf dem Kontinent Ehrie’fvil – hinter sich gelassen hatte, war außer ihr nichts und niemand mehr auf oder neben der Straße. Die Sonne war inzwischen untergegangen, doch die beiden Monde spendeten genügend Licht, um sie den Weg erkennen zu lassen.

Doch wohin führte ihr Weg?

Vor ihr erstreckte sich eine kleine Felsgruppe, in der moosähnliche Pflanzen wuchsen und eine schwammartige Oberfläche bildeten, auf der man bequem sitzen konnte. Sie kam häufig an diesen Ort, nur um allein zu sein und über ihr Leben nachzudenken. Sie kam hierher, um nach Antworten zu suchen, nach Absolution oder… Sie wusste es selbst nicht. Antworten auf Fragen, die sie nicht einmal stellen konnte, Antworten, die sie vermutlich auch dann nicht verstand, wenn sie ihr gegeben würden.

„Warum bin ich so?“, fragte sie leise. „Warum?“

Der klare Sternenhimmel über ihr war betörend. Der Geruch des Mooses war angenehm und kitzelte ihr in der Nase. Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zu den Lichtern hinauf. Sie stellte sich vor, es wären leuchtende Augen, die auf sie herabsahen, viele Gesichter aus fernen Welten.

Sela spürte, wie ihre Augenlider schwerer wurden, und kämpfte mit aller Kraft dagegen an, obwohl es sinnlos war. Sie mochte das Gefühl nicht, einzuschlafen, aber sie konnte nicht auf Dauer wach bleiben. In der vergangenen Nacht war sie aus ihrem Traum aufgewacht und hatte seitdem nicht wieder geschlafen. Am liebsten hätte sie es vermieden, jemals wieder einzuschlafen.

Noch während ihr diese angenehme Vorstellung durch den Kopf ging, schlossen sich ihre Augen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, und ein schwarzer Nebel breitete sich in ihrem Geist aus…



Sela öffnete die Augen, und zunächst sah sie eine hoch aufragende Decke, gewölbeartig, von auratisch weißem Glanz. Überall um sie herum strömte Licht, doch hatte sie keinen Begriff, woher es kam. Sie bemerkte, dass sie den Kopf nach oben reckte und regungslos dastand, somit begann sie sich umzusehen.

Sela befand sich in einem makellosen, großen Raum, wo weder Mobiliar existierte noch irgendeine Zierung die Wände auszeichnete. Sie hatte das Gefühl, der Raum atme, lausche und werfe ihr jedes Geräusch zurück, das sie verursachte. Sie drehte sich um die halbe Achse und erkannte eine große, pfortenartige Tür und beschloss, den Raum zu verlassen. Sie ging also hinüber, legte ihre Hand auf die goldene Klinke und drückte sie herunter. Nur mühsam ließ sich die Tür öffnen…

Was aber dahinter zum Vorschein kam, war beunruhigend. Es war stockfinster. Man konnte nichts erkennen. Nur in der Ferne, etwa fünfzig Meter weiter, befand sich der strahlende Umriss einer weiteren Tür, hinter der eine Lichtquelle sein musste. Sela sah keinen anderen Weg – sie wollte hier weg –, und so überwand sie ihre Angst und ging durch die Dunkelheit zielstrebig auf die andere Tür zu. Die Decke musste auch in diesem Zimmer – oder Korridor? – hoch aufragen, denn jeder ihrer Schritte fand regen Widerhall.

Auf halbem Wege erschrak sie, denn plötzlich beschlich sie der Eindruck, nicht mehr allein zu sein. Ein eigenartiges, beängstigendes Gefühl packte sie, als ein leichter Windhauch sie erfasste. Nur für eine Sekunde. Sela war stehen geblieben und drehte den Kopf in die Richtung, aus der der Luftzug gekommen war. Dann überlegte sie, dass es vielleicht besser war, wenn sie möglichst schnell die andere Tür erreichte. Kurz bevor sie weitergehen wollte, erscholl eine leise, raunende Stimme: „In der Finsternis liegt die Stärke.“

Ein entsprechendes Gesicht oder eine Silhouette blieb ihr verborgen; Panik ergriff sie, und Sela rannte den Rest des Wegs zur anderen Tür, schlug die Klinke herunter und platzte in den nächsten Raum…

Sie konnte nicht fassen, was sie dort zu Gesicht bekam. Das Mädchen stand vor einem riesigen Haufen, getürmt bis zur Decke. Er bestand ausschließlich aus verstümmelten Leichen, denen teils Köpfe, teils Gliedmaßen fehlten. Vermutlich waren sie abgerissen. Sela erkannte die Geschändeten: Allesamt waren es Romulaner.

Dann ertönten Schritte. Hinter dem Leichenberg trat eine Gestalt hervor. Zu ihrem Erstaunen handelte es sich um einen Menschen. Ein Mann, kahl geschoren, mit harten, erbarmungslosen Zügen, in einer eigenartig schimmernden Kampfuniform. Er kam auf sie zu, sein Blick schien an ihr zu haften. Jeder seiner Schritte klackte durch die Einrichtung. Als er nur mehr wenige Meter von ihr entfernt war, ging er in die Hocke, sah sie noch einige Sekunden an…und begann zu lächeln. Es war jedoch ein Lächeln, das die Augen aussparte.

Schließlich hob er die Hand und deutete zur Seite. Sela drehte den Kopf in die dargebotene Richtung… und schrie, schrie vor Fassungslosigkeit, vor Schrecken, vor Sadismus und der Aussicht, völlig allein zu bleiben. Dort hinten waren an zwei Galgen aufgehängt worden –

Ihre Eltern…



„Hier bist Du, Sela. Ich wusste doch, dass Du nicht weit sein kannst. Deine Mutter macht sich große Sorgen.“

Als das Mädchen die Augen öffnete, sah sie ins Antlitz von Meldet. Sein Anblick flößte ihr augenblicklich wieder etwas Beruhigung ein.

Meldet trug noch seine Militäruniform. War er schon wieder nachhause gekommen? Wie lange hatte sie geschlafen?
Sela sah über ihm ins Sternenzelt und erkannte, dass die Dämmerung noch lange nicht eingesetzt hatte. Es musste mitten in der Nacht sein, was auch dafür sprach, war, dass es deutlich kühler geworden war.

Noch etwas schlaftrunken richtete sich Sela auf dem Moosuntergrund in eine sitzende Position auf. Sie betrachtete Meldet. Sie fand, dass seine Augen so leuchteten, dass sie die Monde ersetzen konnten.

„Sei mir nicht böse, Vater.“

„Natürlich bin ich Dir nicht böse. Aber weshalb bist Du weggelaufen?“

„Ich bin nicht weggelaufen.“, widersprach sie. „Hat Dir Mutter das gesagt?“

Er nickte knapp.

„Nein, ich wollte einfach nur etwas allein sein.“

„Sie macht sich große Sorgen um Dich, Sela.“

Das Mädchen stöhnte leise. „Immer macht sie das. Es gibt keinen Moment, wo sie sich keine Sorgen bereitet.“

Meldet strich ihr zärtlich über das – für Romulaner ungewöhnlich – helle, feine Haar. „Sie liebt Dich nun einmal. Genau wie ich. Weißt Du, Sela, die Liebe füreinander hat uns zusammengeführt, und sie ist es auch, die unsere Welten beieinander hält. So unterschiedlich sie auch sein mögen.“

„Aber was ist mit mir?“

„Was soll mit Dir sein? Du bist der Ausdruck für diese Liebe, meine Tochter.“, sagte Meldet mit Zuversicht in den Augen. „Du bist das Bindeglied.“

Sela seufzte. „Manchmal wünschte ich, ich könnte einfach…ganz normal sein. So wie die Anderen.“

„Niemand von uns ist normal. Genauso wenig wie das Leben normal sein kann. Es gibt für nichts eine Anleitung oder eine bestimmte Form. Und doch sind wir alle, die wir hier sind, im tiefsten Innern unseres Herzens Romulaner.“

„Auch Mutter?“

„Ja, auch Deine Mutter.“ Meldet lächelte. „Sie hat sich für dieses Leben entschieden, weil sie sich für Dich entschieden hat. Ich vertraue ihr bedingungslos. Wir sind alle Romulaner, Sela. Vergiss das nie.“

Sela deutete hinauf zu den Sternen. „Eines Tages möchte ich auch so sein wie Du. Ungebunden.“

„Jeder von uns ist gebunden.“, widersprach Meldet. „Das ist die Kunst des Lebens. Sich zu binden an selbst gegebene Gesetze. Und in einer Verantwortung seinem Volk gegenüber zu stehen. Erst daraus wird Freiheit.“

Sela runzelte die Stirn. Wenn sie auch die Worte ihres Vaters nicht ganz nachvollziehen konnte, so wusste sie, dass sein Leben zwischen zwei Polen verlief: seiner Familie und seinen Aufgaben im imperialen Militär. Seiner Liebe ganz wenigen, bestimmten Leuten gegenüber und seiner Liebe, die er alledem entgegenbrachte, was Romulus und das Sternenimperium ausmachte.

Meldet betrachtete sie eine Weile. „Du bist viel stärker als Du Dich manchmal fühlst, Sela.“, sagte er. „Auch Du kannst kämpfen. Auch Du wirst diese Welt bereichern, auf Deine ganz einzigartige Weise. Habe Selbstvertrauen. Ich habe keinen einzigen Tag an Dir gezweifelt, und ich werde es auch nie tun.“

Meldets Blick schien irgendetwas aufgefangen zu haben, und er deutete in die Richtung eines nahe gelegenen Strauches. Dort zeichnete sich die Silhouette eines fuchsartigen Geschöpfes ab. „Siehst Du dieses kleine, unscheinbare Wesen dort vorne?“, sagte er. „Es ist ein Lijilios, ein Waldbewohner. Dieses kleine Wesen ist ein Meister der Tücke. Der List. Es verbringt die meiste Zeit des Tages damit, seine potentielle Beute zu beobachten. Es denkt nach. Manche mögen sagen, dass es zu viel denkt, aber ich finde, es ist kontemplativ. Weißt Du, was das heißt, Sela? Der Lijilios ist nach innen hin konzentriert, nicht nach außen. Er beobachtet nach innen. Er ist sich stets seiner Stärken und Schwächen bewusst, horcht in sich hinein. Und irgendwann, wenn er sich sicher genug ist, dann fällt er eine Entscheidung. Der Lijilios ist kein Stümper; er zieht seine Entscheidung durch – nötigenfalls unter Inkaufnahme von Verlusten –, und zwar, weil er klug und besonnen und scharfsinnig ist, aber auch mutig. Er setzt alles ein, was ihm die Natur gegeben hat, und darauf ist er auch stolz. Er arbeitet immer in Strategien und ist immer darauf bedacht, das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Das ist seine Ehre. Er greift seine Beute – Feldmäuse, Mogais – bei Nacht an. Kurz und schmerzlos. Wenn er seine Entscheidung getroffen hat, zögert er nicht, sondern nimmt sich, was er will. Er ist sich darüber im Klaren, dass die Elemente ihm eine erhabene Rolle in der Nahrungskette zugebilligt haben: Er hat die Macht des Gedankens. Das ist seine große Stärke. Und das ist auch Deine Stärke, Sela. Du bist einzigartig. Du bist eine wahre Tochter von Romulus. Ich weiß es.“

Sela sah diese endlose Zuversicht in Meldets Augen, fühlte sich gleich viel besser – ihre Melancholie schwand spürbar. Noch eine Weile verbrachten sie an diesem abgelegenen Ort, schweigend.

Das Mädchen schwor sich in jenem Augenblick, ihren Vater niemals zu enttäuschen. Was auch kommen würde.

Nachdem sie zusammen mit Meldet nachhause zurückgekehrt war und bevor sie zu Bett ging, wandte sie sich – während ihr Vater bereits schlief – Tasha zu.

„Mutter?“

„Ja, Sela?“

„Ich wollte Dir nur sagen… Es tut mir Leid. Ich wollte Dir nicht wehtun. Ich wollte nur etwas allein sein. Aber Du sollst wissen: Nichts könnte Dich ersetzen.“

Tasha rührten diese Worte zu Tränen. Sie schloss ihre Tochter liebevoll in den Arm und streichelte ihr den blonden Schopf.

Bevor Sela aus dem Wohnzimmer verschwand, um ihren Raum aufzusuchen, sagte ihr Tasha aus der Ferne: „Sela… Dein Anderssein… Es kann eine Stärke sein. Ich kenne niemanden, der so empfindsam und klug ist wie Du. Du bringst zwei Welten zusammen. Wenn Du lernen möchtest, die Vielfalt, die Dir geschenkt wurde, zu nutzen, dann sollst Du wissen… Du hast in Deinem Vater und mir Deine größten Unterstützer.“

Sie lächelte. „Danke, Mutter.“

Zum ersten Mal – das Mädchen wusste gar nicht, wie es über sie gekommen war – empfand sie die Zuversicht, endlich ein Gleichgewicht in ihrem noch so jungen Leben zu finden. Ja, sie fühlte sich stark. Stark, ihr Anderssein zu fördern, stark ihr Anderssein nach außen hin zu verteidigen und zu behaupten.

„Von nun an wird alles anders…“, flüsterte Sela, bevor sie bereits am Morgen des neuen Tages in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
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