TrekNation

Das ultimative Archiv deutscher Star Trek Fanfiction!

Return to Grace

von Julian Wangler

Kapitel 1 - Immer in der Pflicht

Irdische Zeitrechnung: Frühjahr 2371

Enabran Tain, ehemaliger und mächtiger Vorsitzender des Obsidianischen Ordens, saß am Schreibtisch seines Arbeitszimmers im Refugium seiner Villa, die im Herzen der Rogarin-Provinz auf Arawath stand, und gönnte sich einen Moment des Innehaltens. Für ihn war das untypisch, denn für gewöhnlich war er ein Pläneschmieder, ununterbrochen arbeitete sein Kopf, ständig war er in Bewegung. So war er schon immer gewesen, er konnte gar nicht anders.
Doch als er nach zweieinhalb Dekaden als Oberhaupt des Ordens vor einigen Jahren den Ruhestand antrat, da hatte er tatsächlich noch angenommen, dass die stürmischen Zeiten endgültig hinter ihm lägen. Vor seinem geistigen Auge hatte das Bild eines zufriedenen, alten Mannes Gestalt angenommen, der jeden Morgen seinen Fischsaft trank, gemütlich durch den prächtigen Garten seines Anwesens schlenderte und dort unter freiem Himmel den Tag verbrachte, indem er ein gutes Buch las, sich mit feinem Essen verköstigen ließ oder Freunde zu sich einlud.
So hatte er sich eine Altersresidenz außerhalb des hektischen, allenthalben pulsierenden Cardassia Prime gesucht, eine wunderbare Villa im Grünen, wo es einem an nichts fehlte. Mila war natürlich mitgekommen. Zwar hätte er ihr gar nicht erst die Wahl gelassen, doch dass sie aus freien Stücken einwilligte, mit ihm nach Arawath umzuziehen, hatte ihn natürlich umso zufriedener gemacht.
Die Dinge hätten so schön sein können. Ein goldener Lebensherbst hätte es sein können, der ihn erwartete. Aber als die Monate seit seiner Pensionierung dahinrauschten, hatte Tain erkannt, dass es das Bild eines anderen Mannes gewesen war, das er gesehen und fälschlicherweise für sein eigenes gehalten hatte. Er war nicht belesen, er war kein Mann des Müßiggangs, und auch, wenn er in den zurückliegenden Jahren stark zugenommen hatte, konnte er sich wahrlich nicht als Gourmet bezeichnen, der eine Befriedigung daraus ziehen konnte, andauernd nur Leckereien in sich hineinzustopfen. Und Freunde zum Einladen hatte er erst recht keine.
Kurzum: Mit dem Rentnerdasein konnte er nichts anfangen – es war wie ein Käfig aus koladanischen Diamanten, der träge und das Hirn weich machte. Schnell war es geschehen, dass sein altes Leben ihn wieder eingeholt hatte. Das Leben vor seiner Pensionierung. Das einzige Leben, das er je gekannte hatte. Und ganz abgesehen davon war er überhaupt viel zu ungeduldig, um einfach nur herumzusitzen und auf den Tod zu warten.
So hatte er wieder angefangen, aktiv zu werden, sich umzuhören und einzumischen. Zuerst war es nur eine zaghafte Rückwendung zum Orden gewesen. Über seine nach wie vor hervorragenden Kontakte und Netzwerke in die Organisation hatte er sich darüber informiert, welchen Aufgaben der Geheimdienst nachging, was sich seit seinem Weggang verändert hatte, und wie es um das Verhältnis zum Zentralkommando bestellt war.
Doch der Übergang war fließend gewesen; Tain hatte kaum gemerkt, wie er sich immer mehr in das zurückverwandelte, was er vor seinem Ausstieg gewesen war: in einen Strippenzieher und heimlichen Lenker. Nein, er hatte nicht aufhören können. Etwas Derartiges auch nur anzunehmen, war töricht gewesen. Heute sah er die Dinge klar: Er würde die Pflichten erledigen, die er im Namen von Staat und Gesellschaft eingegangen war, bis er irgendwo als einsamer Greis starb. Doch dieser Tag lag noch fern. Es gab noch so viel für ihn zu tun, und er konnte es gar nicht erwarten.
Im Hier und Jetzt aber genehmigte sich Tain einen kurzen Augenblick der Ruhe. Sein Blick lag auf dem verblassten Holofoto, das in einem bronzefarbenen Rahmen vor ihm stand, angestrahlt von der Nachmittagssonne, die in schrägen Quäntchen durch die hohen Fenster seines Arbeitszimmers sickerte. Das Foto zeigte, was stets seine größte Schwäche gewesen war. Doch anders als die Freunde, die er nie besaß, hatte er diese Schwäche zugelassen, selbst wenn er das schließlich wieder bereute. Auf dem Bild war er als stattlicher, schlanker Mann vor beinahe dreißig Jahren zu sehen. Er stand neben einem Knaben, um dessen Schultern er seinen Arm gelegt hatte. Eine offensichtliche Geste der Zuneigung, die ihn vollends entlarvte. Deshalb hatte er das Foto auch stets unter Verschluss gehalten. Es war die einzige Aufzeichnung, die dokumentierte, was sein Leben außer seinem Dienst für Volk und Vaterland hervorgebracht hatte: einen Sohn. Elim. Elim Garak.
Natürlich hatte Tain als Mann in seiner Position nicht zulassen können, dass er verwundbar wurde, indem die Öffentlichkeit von seiner – obendrein unehelichen – Vaterschaft erfuhr. Also ersann er einen Plan, immerhin war er doch ein Pläneschmieder. Um Garaks Leben herum wurde eine sorgsame Lüge gesponnen. Er wurde einem Wartungsarbeiter für Monumente und Denkmäler im Tarlak-Sektor der Hauptstadt und dessen Frau untergeschoben, die beide in einer Kellerwohnung im Hause Tains wohnten, wo sie sich perfekt kontrollieren ließen. Tain zeigte frühzeitig Interesse an dem jungen Garak und wurde zu ‚Onkel Enabran‘, einem strengen Förderer des Burschen.
Manchmal unternahm er mit ihm Ausflüge durch die Stadt und testete seine Aufmerksamkeit. Zu seiner Zufriedenheit entwickelte sich der Junge trotz einiger Scherereien, die er sich leistete, gut. Wenn er einmal etwas angestellt hatte, machte Tain deutlich, worum es ihm ging: Er war nicht böse über die Tat selbst, sondern allein deshalb, weil Garak sich hatte erwischen lassen. Gleichwohl waren die Strafen und Disziplinierungsmaßnahmen, die Tain ersann, um den Jungen abzuhärten, drakonisch: Er sperrte ihn beispielsweise für Stunden in einen kleinen, dunklen Raum oder in einen Schrank, wohlwissend, dass er zu Klaustrophobie neigte. Garaks ‚Eltern‘ konnten sich dagegen natürlich nicht wehren; hätten sie das getan, hätte er ihr Leben mit einem Anruf beim Orden fundamental und für alle Zeit ändern können.
Obwohl Tains Maskerade perfekt funktionierte, bekam er immer wieder das Gefühl, dass der kluge Garak mit seinem feinen Gespür für die Wirklichkeit erahnen konnte, dass sie mehr miteinander verband als ein Mentor-Schüler-Verhältnis. Vermutlich war es dieser eine Tag auf dem Land gewesen, den sie zusammen verbrachten, als der Junge etwa fünf Jahre alt war. Es war der Tag, an dem das Foto entstanden war. Ihr einziger Tag. Tain erinnerte sich noch genau: Garak war auf den Rücken eines Reithundes geklettert und war wieder abgeworfen worden. Ein Dutzendmal hatte er es probiert – immer mit demselben Ergebnis. Seine verbissene Hartnäckigkeit hatte Tain stolz gemacht. Garak war nachhause gehumpelt, und er hatte er sich dazu hingerissen gefühlt, seine Hand zu halten.
Dieser Tag hatte fortgewirkt. Er war im Herzen des Jungen gespeichert worden. Irgendwann stellte Garak, inzwischen ein werdender Mann, ihn zur Rede. Er sagte Tain in einem privaten Moment, er glaube, dass er sein Vater sei. In diesem Moment war Tain hin und her gerissen gewesen. Er war berührt vom Scharfsinn und den Instinkten seines Jungen gewesen, zugleich aber auch entsetzt, dass ausgerechnet Garak, bloß ein Pubertierender, seine Lüge durchschaut hatte.
Tain reagierte mit brutaler Ehrlichkeit. Er sagte ihm etwas, das sein Sohn in den kommenden Jahren bei intimen Gesprächen immer wieder zu hören bekommen sollte: dass er eine Schwäche sei, die er sich nicht leisten konnte; dass er keine Alternative gehabt hatte als seine Vaterschaft zu verheimlichen. Tain nahm Garak das eherne Versprechen ab, stets Schweigen über ihre Verbindung zu bewahren. Er war nicht sein Sohn. Tain hatte keine Kinder.
Als Garak schließlich das Erwachsenenalter erreicht hatte, wartete Tain nicht länger. Er organisierte seine Rekrutierung durch das Bamarren-Institut, eine Eliteschule des Ordens. Nachdem dieser Weg eingeschlagen war, konnte Tain ihm den Stempel aufprägen, den er immer für den Jungen im Sinn gehabt hatte.
Eine Zeitlang lief es gut. Aus Garak wurde ein Agent, der mit großer Präzision, Geschick und absoluter Leidenschaftslosigkeit Aufträge im vitalen Interesse des cardassianischen Staates verrichten konnte – innerhalb und außerhalb der Grenzen der Union. Seine Verhöre waren brillant und förderten in der Regel immer produktive Ergebnisse zutage. Auf diese Weise schaffte er es mit ein paar anderen Agenten, zu Tains Protegé und engem Berater zu werden. Vater und Sohn waren unter dem Deckmantel des Ordens vereint.
Doch dann kamen die Dinge eines Tages, wie sie kommen mussten: Garak beging einen kapitalen und unverzeihlichen Fehler, und dann fiel er, fiel sehr, sehr tief. Tain, inzwischen kurz vor seiner Pensionierung, war in einem Ausmaß von ihm enttäuscht worden, das jeder zweiten Chance entbehrte. Da hatte er den Jungen nach seinem Vorbild zu formen versucht, und wie hatte Garak es ihm gedankt? Mit Verrat. Indem er auf alles spuckte, was Tain ihm geboten hatte. Sogar die Zukunft seines Mentors hatte er mit seinem Fehler akuter Gefährdung ausgesetzt. Fast hätte er Tain selbst ins Verderben gerissen. Garaks Scheitern setzte Tain unter Zugzwang, ihn von sich abzustoßen. Er hätte Garak töten können, doch dieser widersetzte sich.
Also blieb nur eine Möglichkeit übrig: den inzwischen jungen Mann aus cardassianischem Gebiet ins Exil zu schicken. Eine Verbannung auf Lebzeiten war unumgänglich gewesen. Tain riss eine weitere Brücke seines Lebens ab; er würde Garak niemals vergeben, was dieser auch tat, um sein Vertrauen zurückzugewinnen. Tain bereute bitter, jemals ein Kind in die Welt gesetzt zu haben und schwor sich, niemals wieder Verwundbarkeiten und offene Flanken zuzulassen. Er wurde noch härter zu sich selbst, wiewohl seine Karriere bereits ihrem Ende entgegensah.
Natürlich hatte er aus der Ferne Garaks weiteres Leben beobachtet. Sein Exil hatte im letzten Jahr der cardassianischen Besatzung Bajors begonnen, doch nur dieses eine Jahr hatte ausgereicht, um ihn zu prüfen. Auf Terok Nor hatte ihm der selbstsüchtige Präfekt Gul Dukat das Leben mehr als schwer gemacht – aus durchaus nachvollziehbaren Motiven, denn während seiner Zeit als aktiver Agent war Garak immerhin federführend bei der Verhaftung und späteren Exekution von Richter Procal gewesen, dem Vater Dukats.
Trotz dieser Widrigkeiten hatte Garak sich wie eine zähe cardassianische Wühlmaus durchgebissen. Er war dem Tod entronnen, bislang zumindest. Sein besonderes Talent, sich selbst neu zu erfinden, hatte es ihm nach dem Abzug der Cardassianer aus dem bajoranischen System gestattet, sich fortan als Schneider auf der Station zu verdingen, die inzwischen Deep Space Nine genannt wurde. Wohlan, er war ein Verwandlungskünstler, und inzwischen hatte es fast den Anschein, dass er dabei war, ein paar Freundschaften zu schließen. Vor allem zu diesem idealistischen, jungen Doktor Bashir, der sich bemerkenswert für Garaks Wohlergehen eingesetzt hatte, als es zu Problemen mit seinem Implantat kam.
Ich hoffe, Du hast Deinen Frieden mit Dir gemacht, Elim., dachte Tain. Es ist Deine einzige Chance. Denn ich kann leider nichts mehr für Dich tun. Einen Sohn habe ich nicht.
Nachdem er in Pension gegangen war, hatte er für einen kurzen Moment überlegt, ob es jetzt vielleicht möglich war, Garak irgendwie zurückzuholen. Nicht, dass er jetzt bereit gewesen wäre, Garak zu vergeben. Er wusste nicht, wie und warum der absurde Gedanke zu ihm gekommen war, doch für einen winzigen Augenblick hatte er ernsthaft mit ihm gespielt. Natürlich hätte er Garak nicht mehr nach Cardassia bringen können – so etwas war vollkommen ausgeschlossen –, doch in der Abgeschiedenheit der Arawath-Kolonie hätten sie womöglich gemeinsam leben können.
Dann aber erkannte Tain, dass er nicht reif war für das Leben eines gewöhnlichen Rentners. Dass er sich lediglich neu sortierte und dann weitermachte, wo er aufgehört hatte. Die wirklich großen Leistungen, realisierte er bald, warteten noch darauf, getan zu werden. Cardassia, sein geliebtes Cardassia, brauchte ihn nach seiner Überzeugung heute wie noch nie zuvor. So blieb Garak, wo er war, und Tain ging weiter jenen Pfad, den bereits der große Ulan Corac so treffend als Das Ewige Opfer beschrieben hatte. Ende der Geschichte? Oh nein, aber irgendwann würde die Geschichte absehbar so enden.
Es klopfte an der Tür. Instinktiv ließ Tain das Foto wieder in einer Schublade verschwinden. Er hatte dieser Tage einige Besuche ehemaliger Untergebener bekommen (nervige Pflichtbesuche ohne jegliche Bedeutung), aber diesmal war es nur Mila. Bei ihr nützte es nichts, wenn er das Foto versteckte – sie kannte sowieso beinahe alle seine Geheimnisse, von daher auch die Aufnahme mit dem Jungen und das, wofür sie stand.
So gerne Tain seine treue Haushälterin mochte, würde sich ihre Kenntnis all seiner Schwächen womöglich eines Tages negativ auf ihre weitere Anstellung auswirken. Vielleicht war er seit Garaks Exil radikal geworden, aber er wollte unter keinen Umständen mehr zulassen, dass ihm seine potenziellen Schwachstellen wieder in die Quere kamen. Und wenn er dafür harte Entscheidungen treffen musste, war es eben so. Das war der Preis. Doch heute war der Tag, da er sich um Milas Zukunft kümmern musste, noch nicht gekommen.
„Enabran.“, sagte die Haushälterin in ihrem ruhigen, höflichen Ton. „Deine Gäste sind da.“
„Schon jetzt? Sie sind zu früh hier.“
„Korinas sagte, Ihr seid für vierzehn Uhr verabredet gewesen.“
Hatte er etwas durcheinander gebracht? Früher hatte seine Terminmaschinerie wie am Schnürchen funktioniert. Sein Gedächtnis war sagenhaft gewesen; er hatte sich nie etwas falsch gemerkt. Das muss besser werden.
„Gut, sag ihnen, dass ich gleich da sein werde. Biete ihnen solange einen Schluck Kanar an. Nimm einen von den besseren Jahrgängen.“
„Aber sicher.“ Mila verschwand wieder aus dem Zimmer.
Tain öffnete noch einmal die Schublade und warf einen Blick auf den Vater und den Jungen – schaute auf ein Leben, das er nie gehabt hatte. „Ich hoffe, Elim…“, raunte er. „Wenn Du einmal in meinem Alter bist und auf alles zurücksiehst, dann wirst Du es verstehen.“
Er war noch nicht aus seiner Pflicht entbunden. Enabran Tain hatte große Pläne für Cardassia.
Rezensionen