TrekNation

Das ultimative Archiv deutscher Star Trek Fanfiction!

Return to Grace

von Julian Wangler

Kapitel 3 - Vom Weg abgekommen

1. Februar 2376

Wissen Sie, mein guter Doktor, viele Leute haben sich daran gewöhnt, uns Cardassianern zum Vorwurf zu machen, dass wir so wurden wie wir wurden. Sie urteilen uns ab. Ich sehe und höre es überall. Für den Rest des Alpha-Quadranten sind wir doch heute nicht mehr als Faschisten, die über lange, lange Zeit sehenden Auges auf den Abgrund zugelaufen sind…bis sie in ihn hineinfielen. Und die Geschichte gibt Jenen, die uns Vorhaltungen machen, ja auch Recht. Immerhin wissen wir doch, wie sie ausging.

Trotz dieser kaum zu ertragenden Schuld, in die wir unsere Hände getränkt haben und von der ich nicht sicher bin, ob wir sie je wieder loswerden, bin ich mir nicht sicher, ob die Stereotype und Klischees über uns, die heute vermutlich noch mehr Konjunktur haben als die Armenküche in Locanda City, richtig sind. Ob sie fair sind.

Sind Sie mit der Zeit der Großen Wende vertraut? Vermutlich kaum, denn die Datenbanken der Föderation werden nicht gerade vor Informationen über diese Epoche überquellen. Es war vor so ziemlich genau fünfhundert Jahren – man stelle sich vor: zu einer Zeit, wo die Menschen noch die Meere ihrer Welt bereisten. Unser Volk war verarmt, unsere Ressourcen aufgebraucht und unsere Ökosysteme durch den Klimawandel sowie die Exzesse unserer Vorfahren zerstört. Seuchen suchten Millionen heim und zwangen die Überlebenden, ein Leben der Disziplin, Enthaltsamkeit und Vorsicht zu führen. Mächtige Familien horteten und vergeudeten unsere raren Rohstoffe und brachten Cardassia an die Schwelle der Vernichtung. Also, das war ganz sicher ein Abgrund, und unser Rendezvous mit dieser urgewaltigen Schlucht schien festzustehen. Ich würde sogar behaupten, unsere Zivilisation hatte auf dem Wandteppich der kosmischen Geschichte ein Ablaufdatum erhalten. Wir waren zum Aussterben verdammt worden.

Doch dann kam das Militär um die Ecke und veränderte alles. Reichtum und Erbe zählten plötzlich nichts mehr; die alte Klassengesellschaft wurde eingerissen. Der Reichtum wurde neu verteilt, eine neue Gleichheit entstand, wie sie das cardassianische Volk beinahe vergessen hatte. Zusammen mit dieser Egalität entstand eine Leistungsgesellschaft, die das Versprechen barg, das jeder etwas erreichen könne, wenn er nur fleißig war und jeden Tag hart arbeitete – zum Wohle des Gemeinwesens. Das war das Versprechen des neuen Staates. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie viel Hoffnung es Cardassia gab.

Ich denke, es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass dieser Staat uns vor dem Vergehen bewahrte. Er ernährte und beschützte uns. Mit der Zeit verschwanden die Bedrohungen für unsere schiere Existenz. Die Apokalypse war abgewendet worden. Es muss ein unglaublicher Optimismus vorgeherrscht haben.

Wann aber kamen wir vom Weg ab? Wann wird aus guter Absicht böse Tat, und wann wird daraus wiederum eine moralisch verkommene Absicht? Ich bin mir nicht sicher, wo die Wasserscheide verläuft; vermutlich sind die Grenzen fließend. Persönlich glaube ich, dass jene visionären Frauen und Männer im Militär, die dereinst die Gesellschaft umbauten, nicht die Übeltäter waren, für die wir sie heute gerne halten wollen. Sie hatten rechtschaffene Überzeugungen und Ideale gehabt; sie hatten das Elend gesehen, welches uns zu exterminieren drohte. Ich vermute, es war der übermächtige Staat, den sie erschufen, der irgendwann sein Eigenleben entwickelte.

Staaten sind wie Lebewesen, aber solche von einer anderen Sorte. Als der Staat die Gefahren verlor, die ihm seinen Existenzgrund verliehen hatten, suchte er nach neuen Gefahren – und er fand sie im Äußeren wie im Inneren. So wurden jene Leute in der cardassianischen Gesellschaft zur Gefahr, die die anhaltende Notwendigkeit der militärischen Herrschaft hinterfragten. Jene wurden zur Gefahr, die noch immer der Religion unserer hebitianischen Vorfahren anhingen. Jene wurden zur Gefahr, die nicht das dachten, was vorgeschrieben war. Die Cardassianer waren, nach allem Schrecklichen, das sie erlebt hatten, ein Volk, das beschützt werden wollte: vor Bedrohungen, vor dem Hunger, vor großen Fehlern. Eigentlich waren wir wie gepeinigte, verängstigte Kinder. Wir fanden im Staat die neue Obrigkeit, die uns sagte, was richtig und was falsch war. Und in dem Maße, wie wir bequem wurden, vorbehaltlos zu glauben, was der Staat uns sagte, verloren wir unsere Fähigkeit zu hinterfragen, ob es der richtige Weg war, andere Welten zu annektieren und auszunehmen, um unsere großartige, neue Gesellschaft weiter prosperieren zu lassen. Heute wissen wir, wohin all das führte.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Es steht außer Frage, dass wir einen verhängnisvollen Pfad eingeschlagen hatten, schon damals. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er zwangsläufig hierher hätte führen müssen. Kann ich, wenn ich es bei Lichte betrachte, eine rote Linie durch die letzten fünfhundert Jahre ziehen, die bis zu den ausgebrannten Ruinen von Locanda City nach dem Dominion führt? Nein. Denn das wäre zu einfach. Und kann ich es den Leuten, die vor Jahrhunderten lebten und von einem besseren Leben – von Rettung – träumten, verübeln, dass sie eifrige Untertanen ihres Erlöserstaates wurden? Kann ich sie dafür verurteilen? Nein. Denn es wäre einfach nicht fair.

Garak
Rezensionen