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Fliegen lernen

von Laurie

Kapitel 1

Es gab das Gesetz des Lebens.
So grausam und so gerecht.
Man musste wachsen oder dafür bezahlen,
dass man derselbe blieb.

~ Norman Mailer



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Es ist Spock, der ihn aufsucht – nicht andersherum.

Sie haben kaum miteinander gesprochen, seit man ihnen die Nachricht überbracht hat. Nicht vor dem Gedenkgottesdienst, nicht währenddessen, und später erst recht nicht. Wann hätten sie Zeit finden sollen, um ihre Gedanken auszutauschen, wenn sie umringt waren von der halben Sternenflotte und wenn eine wichtige Persönlichkeit nach der anderen sie in ein Gespräch verwickelte, um ihnen mitzuteilen, dass der Tod eines Mannes, den sie kaum gekannt hatten, ihnen ach so leid tat? Und vor allem – worüber hätten sie sprechen sollen? Über das Gefühl der Leere, das Gefühl, nur noch einbeinig durchs Leben zu gehen? Über die Weigerung, sich selbst jetzt einzugestehen, dass dieser verdammte Vorfall auf der Enterprise-B tatsächlich geschehen war? Über die schlaflosen Nächte, über sie sinnlosen Tränen?

Nichts davon brächte Jim zurück.

Leonard hat mit Spock reden wollen, das schon. Er hat das Gefühl, als würde das bisschen Stabilität, das ihm das Schicksal noch gelassen hat, zerbrechen, wenn er es nicht täte; und trotzdem kann er es nicht. Der Arzt in ihm flüstert etwas von Verdrängungstaktik und psychischen Wunden, der Freund in ihm macht sich Sorgen um Spock und Bones ... Bones rollt sich in einer Ecke zusammen und blendet die Welt aus und wartet darauf, dass Jim vor ihm auftaucht, ihn mit seinem typisch draufgängerischen Grinsen aus seiner Starre reißt und ihn mit in ein neues Abenteuer zerrt. In eines, das einen besseren Ausgang hat.

Zwei Wochen sind vergangen, seit ein schluchzender Scotty auf seiner Türschwelle zusammengebrochen ist und Leonard damit den Schock seines Lebens verpasste, und in diesen zwei Wochen hat er nicht mehr als eine Handvoll Wörter mit Spock gewechselt. Die ersten drei davon haben sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Jim ist tot. Ohne Einleitung, ohne Vorwarnung. Spock hatte es ohnehin schon gewusst. Genauso, wie Leonard nun mit untrüglicher Sicherheit weiß, dass Spock vor seiner Tür steht, als der penetrante Summton die bleierne Stille durchschneidet. Er kann es nicht erklären, er weiß es einfach. Jim und Spock hatten diese ganz besondere Art der Verbindung, ja, aber auch Leonards und Spocks Schicksale sind seit der Katra-Geschichte enger miteinander verknüpft, als ihm manchmal lieb ist. Manche Erlebnisse hinterlassen ihre Spuren, und die Seele einer anderen Person zu tragen, gehört gewiss dazu.

Das Band, das sich dadurch zwischen ihnen gebildet hat, ist seitdem ein wenig verblasst, aber immer noch stark genug, um ihn spüren zu lassen, wenn Spock sich in seiner Nähe befindet.

„Herein.“

Er bringt das eine Wort kaum über die Lippen, und er erkennt seine eigene Stimme kaum wieder. Ist das wirklich er – so hoffnungslos, so gebrochen klingend?

Bei Gott, er fühlt sich so alt.

Spocks Schritte sind uncharakteristisch zögerlich, als er ins Zimmer tritt, das kann Leonard hören. Er macht sich nicht die Mühe, den Kopf zu wenden, sondern verharrt in der Position, die er seit Tagen kaum verändert hat: flach auf dem Rücken auf seinem Bett liegend, die Arme um die Brust geschlungen, matt an die Decke starrend.

Die zögernden Schritte halten in ausreichendem Abstand inne. „Störe ich, Doktor?“

Früher hätte er darauf mit einem bissigen Kommentar oder zumindest einer kleinen Stichelei reagiert, aber früher wurde längst vom unbarmherzigen Lauf des Universums verschluckt, und er bringt die Energie dazu nicht auf.

„Nein, Spock ... Setzen Sie sich.“

Vage gestikuliert er in die Richtung, in der er den Tisch vermutet. Er ist nicht verwundert, als Spock keine Anstalten macht, seiner Einladung – Bitte? Forderung? – Folge zu leisten. Mit einem Seufzen dreht Leonard den Kopf, und das sich ihm bietende Bild lässt ihn die Schmerzen vergessen, die diese ungewohnte Bewegung verursacht.

Spock steht mitten im Zimmer, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und betrachtet ihn ernsthaft und völlig ausdrucklos. Es ist ein so vertrauter Anblick, dass Leonard einen Kloß im Hals spürt. Wenn man über die Falten in Spocks Gesicht hinwegsieht, über die ersten grauen Haare und über die falsche Farbe der Uniform ... dann könnte man fast meinen, sich wieder auf der Enterprise zu befinden, damals, als alles angefangen hat, damals während der Fünf-Jahres-Mission, damals, als ... Als es noch drei gegeben hat, nicht nur zwei.

Für einen kurzen, verräterischen Moment verschwimmt der Raum, und Leonard reibt sich energisch über die Augen. Nicht jetzt, nicht hier. Nicht, wenn er endlich dem Mann gegenübersteht, der genau weiß, wie er sich fühlt, und der den Verlust besser ermessen kann als jeder andere.

Logik, keine Gefühle ... alles eine Lüge. Spock trauert, und dieses eine Mal denkt Leonard nicht daran, ihn wegen der – zumindest für ihn – offensichtlichen Zurschaustellung seiner allzu menschlichen Emotionen aufzuziehen. Sie sind darüber hinausgewachsen, schon seit Langem. Es ist nur ein weiteres Zeichen dafür, dass die Vergangenheit endgültig vergangen ist.

Langsam setzt Leonard sich auf, den Protest seiner Muskeln ignorierend. Spock hat sich nicht von der Stelle gerührt; er steht einfach nur da, eine schmale Gestalt in einem Meer von Trauer.

„Spock.“

Der Angesprochene öffnet den Mund, doch bevor er das aussprechen kann, wofür es keine Worte gibt, unterbricht Leonard ihn.
„Stehen Sie da nicht so herum, Sie machen mich nervös.“ Einladend klopft er auf die Matratze neben sich. „Setzen Sie sich.“

Spocks Augenbraue hebt sich, ganz leicht nur, aber das ist mehr, als Leonard sich erhofft hat.
„Es wäre unangemessen ...“

„Verdammt, Spock, immer noch?“ Er lässt keine Anklage in seine Stimme fließen und nichts von dem Sarkasmus, mit dem er Spock früher gerne menschliche Regungen zu entlocken versucht hat – nur Resignation und Müdigkeit. „Setzen Sie sich, um Himmels willen.“

Früher hätte er vielleicht ein Sie grünblütiger Kobold hinzugefügt oder eine jener anderen Beleidigungen, die nie so verletzend gemeint waren, wie sie für Außenstehende erscheinen mochten, aber früher ... ist längst vorbei.

Spocks Augenbraue kriecht ein wenig höher, und dieses vertraute Mienenspiel sorgt dafür, dass Leonard sich unwillkürlich entspannt – nur, um seine Muskeln in überraschter Erleichterung wieder anzuspannen, als Spock den Abstand zwischen ihnen mit wenigen Schritten zurücklegt und sich vorsichtig auf der Kante des Bettes niederlässt, gerade weit genug von ihm entfernt, um den Anschein von Formalität aufrechtzuerhalten.

Unter normalen Umständen gilt es geradezu als kultureller Fauxpas, sich eine Sitzfläche mit einem Vulkanier zu teilen, doch was war bei ihnen schon jemals normal? Ohnehin macht es keinen Unterschied mehr.

„Doktor, ich ...“, beginnt Spock, und im gleichen Augenblick spricht auch Leonard, „Spock, hören Sie“, und ihre Worte überlagern einander und ersterben in einem peinlichen Schweigen.
Leonard verkneift sich ein Seufzen und versucht es ein zweites Mal: „Ich wollte mich bei Ihnen melden, gleich nach dem Gottesdienst ... aber ich konnte es nicht. Es ging einfach nicht. Nennen Sie es von mir aus unlogisch, aber ... es ging nicht.“

Spock blickt ihn nicht an, als er darauf eingeht. „Nein, Doktor, diese Verhaltensweise ist nicht als unlogisch einzustufen. Auch ich empfand gewisse Schwierigkeiten dabei, auf die Personen zuzugehen, die meinen emotionalen Zustand am ehesten nachvollziehen können.“

Emotionaler Zustand ... Wie verzweifelt muss ein Vulkanier sein, um das Wort „emotional“ in Verbindung mit seinem Befinden zu benutzen, selbst wenn es sich dabei um einen medizinischen Fachbegriff handelt? Leonard will nicht darüber nachdenken, und noch weniger will er sich mit seinem eigenen emotionalen Zustand beschäftigen. Er möchte mit Spock reden, vielleicht Erinnerungen mit ihm austauschen oder, wenn es dazu noch zu früh ist, einfach nur gemeinsam mit ihm schweigen.

„Na ja, Sie haben es besser gemacht als ich. Sie sind hergekommen“, sagt er düster, denn ja, es tut weh, dass ausgerechnet der sonst so distanzierte Spock den ersten Schritt gemacht hat, der eigentlich ihm als Arzt überlassen gewesen wäre.

„Ich hielt es für nötig, mich von Ihrem Wohlbefinden zu überzeugen.“

Diesmal lässt sich das Seufzen nicht unterdrücken. „Ich kann nicht behaupten, dass es mir gut geht, aber das wird schon wieder. Irgendwann geht es immer vorüber. Was ist mit Ihnen? Ich weiß nicht genau, wie Vulkanier mit Trauer umgehen ...“

Amanda wüsste es, doch Amandas Leben ist inzwischen zu Ende gegangen, und Leonard bezweifelt, dass Spock mit jemand anderem über sein Empfinden sprechen würde und gesprochen hat. Mit wem auch – Saavik? Den anderen ehemaligen Mitgliedern ihrer über die halbe Galaxie verstreuten Crew? Wohl kaum.
Er hätte wissen müssen, dass Spock früher oder später zu ihm käme. Und – hat er nicht sogar darauf gehofft?

Noch immer sieht Spock ihn nicht an, und das ist in Ordnung. „Ich habe in den letzten Tagen viel Zeit mit Meditieren verbracht und bin zuversichtlich, dass ich mein mentales Gleichgewicht bald wiedergefunden haben werde.“

Mentales Gleichgewicht? Es wird immer besser.

„Das ist Unsinn, Spock, und Sie wissen das. So schnell geht das nicht, vulkanische Konstitution hin oder her. Geben Sie sich Zeit. Wir alle werden Zeit brauchen.“

„Doktor-“

„Leonard“, verbessert er. Er versucht seit Jahren, Spock dazu zu bewegen, seinen Vornamen zu verwenden, bisher mit so wenig Erfolg, dass er beinahe schon wieder aufgegeben hat. Allerdings nicht heute – heute will er Leonard sein, heute muss er Leonard sein.

„Leonard.“ Spock zögert, ehe er es ausspricht, als sei er sich nicht sicher, was ihn danach erwarten wird. Zur Hölle, Leonard weiß es selbst nicht. Was ist jetzt für sie alle zu erwarten?

Damit jedenfalls, was dann kommen soll, hat er garantiert nicht gerechnet.

„Würden Sie mir eine Gedankenverschmelzung mit Ihnen erlauben?“

Leonard starrt ihn an, und zum ersten Mal, seit er das Zimmer betreten hat, erwidert Spock seinen Blick. Die dunklen Augen sind weit geöffnet und hinter der sorgfältig aufrechterhaltenen Kontrolle so verletzlich, dass er sich jeden zynischen Kommentar verkneift und sich auf ein vorsichtiges „Wieso?“ beschränkt.

Spock neigt den Kopf, und für den Bruchteil einer Sekunde fühlt Leonard sich wieder wie damals auf der Enterprise, wenn der Wissenschaftsoffizier sich alle Mühe gegeben hat, komplizierte wissenschaftliche Sachverhalte so zu erklären, dass auch der mürrische Erste Medizinische Offizier sie verstand. Ab und an hat das tatsächlich geklappt, ab und an gelang es ihnen, ihre Sticheleien lange genug einzustellen, um als Team reibungslos miteinander zu arbeiten ... Nur hat es damals noch einen Jim gegeben, der sie beide immer auf die richtige Bahn lenkte, wenn es nicht klappte.

„Es könnte ... von Vorteil sein.“

Diesmal gibt es keine Erklärungen, nur ein ungewohntes Zögern. Und wieder, was ist an ihrer Situation schon normal?

Leonard beschließt, dass er es gar nicht so genau wissen will. Wenn Spock ihn um etwas Derartiges bittet, muss er einen guten Grund dafür haben, ansonsten würde er es nicht vorschlagen – er weiß um Leonards Abneigung gegen „vulkanischen Gedanken-Hokuspokus“, wie er es nennt, spätestens seit jenem unangenehmen Vorfall in der Krankenstation des brutalen Spielgeluniversums. Selbst die Tatsache, dass Leonard Spocks Seele getragen hat, hat wenig an diesem Widerwillen geändert.

Es liegt an ihm – Spock würde sich, ganz im Gegensatz zu seinem rücksichtslosen Gegenstück aus dem Spiegeluniversum, niemals über seinen Willen hinwegsetzen –, und er entscheidet sich für die wohl logischste Möglichkeit: Er vertraut Spock, er hat keine andere Wahl. Wenn er Spock nicht trauen kann, dann niemandem.

„Machen Sie’s.“

Spock zieht die Augenbraue hoch, diesmal richtig, und das vertraute Bild ist genug, um jede Sorge zu zerstreuen. Der Vulkanier streckt die Hand aus, seine Finger finden Leonards Katrapunkte und ganz selbstverständlich öffnet Leonard seinen Geist für ihn. Nach allem, was sie miteinander durchgemacht haben, gibt es nichts mehr, was er vor Spock verstecken müsste; im Gegenteil, er empfindet den früher so verhassten mentalen Kontakt als beinahe beruhigend.

In der Gedankenverschmelzung gelingt ihnen das, wofür Sprache nicht ausreicht. Verständnis ... Trost ... das Wissen, nicht alleine mit der alles verschlingenden Trauer dazustehen ... die Bürde teilen zu können ... Es ist schmerzhaft und befreiend zugleich. Spocks Geist ist Leonard fast so bekannt wie sein eigener – er hätte jeden ausgelacht, der ihm zu Beginn der Fünf-Jahres-Mission verraten hätte, dass es einmal so weit käme – und er merkt, wie sich etwas in ihm zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten entspannt. Geteiltes Leid ist halbes Leid, so heißt es doch, und zumindest diesmal trifft das vollständig zu.

Ja, Spock hat recht gehabt: Es hilft. Und es ruft Leonard ins Bewusstsein, was er in seiner bilden Trauer der letzten Tage nicht hat sehen können, vielleicht sogar nicht hat sehen wollen: Er ist nicht alleine. Sie haben einen wichtigen Menschen aus ihrer Mitte verloren, eine wichtige Stütze und in gewisser Weise die Person, die sie zu denen gemacht hat, die sie sind. Aber sie sind nicht alleine, noch nicht, und sie sollten das zu schätzen wissen.

Eine Familie ist nie wieder intakt, wenn ihr ein Mitglied entrissen wird – doch selbst ein dreibeiniger Hund kann wieder laufen lernen, irgendwie. Sie müssen nur herausfinden, wie.

Leonard verliert sich in der stummen Unterstützung, die Spock ihm bietet und die er gleichzeitig selbst dem alten Freund zurückgibt. Er hat jedes Zeitgefühl verloren, als Spock die Verbindung beendet. Sie sitzen einige weitere endlos lange und dennoch nicht unangenehme Momente schweigend nebeneinander, zwei Personen, deren Band zueinander durch den Verlust einer dritten Person umso stärker geworden ist, ob sie es wollen oder nicht. Leonard sucht nach etwas, das er sagen kann, irgendetwas, das etwas von der alten Sicherheit wiederherstellen wird – doch es stellt sich heraus, dass er es nicht muss. Spock ergreift das Wort vor ihm, und irgendetwas an dem, was er ausspricht, bringt die Welt wieder ins Gleichgewicht, zumindest ein wenig.

„Ich vermisse Jim“, sagt er. Es ist ein einfacher Satz, nicht die Art von vulkanischem Zungenbrecher auf gehobenem Sprachniveau, die man so oft von ihm zu hören bekommt; und die schlichte, so menschliche Feststellung treibt Leonard die Tränen in die Augen. Er hat in den letzten beiden Wochen so oft geweint, dass er dem müde sein sollte, aber seltsamerweise fühlt es sich dieses Mal nicht so bedrückend an wie zuvor.

„Ich weiß, Spock“, flüstert er. „Ich auch.“
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