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Logik ist der Beginn der Weisheit, nicht ihr Ende

von Laurie

Kapitel 1

Commander Spock und Lieutenant-Commander McCoy – Doktor, wie er mit Vorliebe und bei jeder Gelegenheit betonte – konnten einander nicht leiden, das war eine Tatsache.

Es galt ebenfalls als erwiesene Tatsache, dass Captain Kirk dem Kennenlernen seiner beiden engsten Vertrauten voller Zuversicht entgegengesehen hatte – und dass seine Hoffnung auf eine friedliche Zusammenarbeit der beiden so unterschiedlichen Offiziere grandios scheiterte.

Später gab es verschiedene Gerüchte, die sich um das Entstehen der legendärsten Freund-/Feindschaft an Bord rankten. Manche behaupteten, dass McCoy Spock erst am dritten Tag nach der Ankunft des eigenwilligen Arztes auf der Enterprise zum ersten Mal als grünblütiger Kobold bezeichnet hatte, andere dagegen gaben ihm nicht einmal einen halben Tag. Als sicher galt nur eines: Spock und McCoy waren eine explosive Kombination, und gab man einen temperamentvollen jungen Captain, eine Krisensituation oder eine Diskussion über kulturelle Unterschiede zu dieser Mischung hinzu ... nun, dann hieß es in Deckung gehen und abwarten, bis die Sturmwolken sich verzogen hatten.

Die Wahrheit war nicht, dass sie einander hassten, wie ein unvorsichtiger Fähnrich einmal mutmaßte. (Von vulkanischer Sichtweise aus war Hass unlogisch und eine Zeitverschwendung, von McCoys Sichtweise aus waren derartigen Gefühle lächerlich und hatten nichts auf dem Flaggschiff der Sternenflotte, oder auf irgendeinem Schiff, verloren.)

Die Wahrheit war auch nicht, dass sie keinen Respekt voreinander hatten, das keineswegs. (Beide erkannten die Fähigkeiten des anderen an und verließen sich, wenn es sein musste, in Extremsituationen aufeinander; sie waren ein Teil derselben Crew, sie hatten keine andere Wahl, als den Beitrag zu würdigen, den der jeweils andere zum Erhalt des reibungslosen Lebens an Bord beitrug.)

Es entsprach ebenfalls nicht der Wahrheit, dass McCoy xenophob war und versuchte, Spock mit allen Mitteln zu vergraulen, im Gegenteil. (Xenophobie war McCoy zutiefst zuwider; wäre es anders gewesen, hätte er während der Fünf-Jahres-Mission mehr als nur ein großes Problem gehabt und wäre nie Xenobiologe geworden. Außerdem brauchte Jim den grünblütigen Kobold, das war eine traurige Tatsache – die Wahrscheinlichkeit, dass dieser unverantwortliche Idiot es schaffte, sich selbst umzubringen, verringerte sich deutlich, wenn Spock sich in seiner Nähe befand.)

Die Wahrheit war eher, dass mit diesen beiden Männern zwei Persönlichkeiten aufeinanderprallten, die kaum unterschiedlicher hätten sein können, zumindest auf den ersten Blick, und dieser Umstand sorgte mit hübscher Regelmäßigkeit für legendäre Streitgespräche, Beleidigungen und Sticheleien. McCoy war zu temperamentvoll und Spock zu kontrolliert, McCoy zu emotional und Spock zu logisch, McCoy zu unkonventionell und Spock ein zu großer Verfechter der Vorschriften. Kleine Reibereinen ergaben sich wie von selbst, wann immer die beiden sich im selben Raum befanden. Eine bissige Bemerkung hier, ein verbaler Seitenhieb da ... Meistens dienten ihre Meinungsverschiedenheiten zur Belustigung der Alpha-Crew, manchmal riefen sie Unverständnis und Gereiztheit hervor, und ganz selten wünschten sich alle Anwesenden, dass Doktor Piper den Posten als Erster Medizinischer Offizier nie aufgegeben hätte.

Mit der Zeit wurde es minimal besser, aber eben nur minimal. Unter allen Mannschaftsmitgliedern galt es als offenes Geheimnis, dass Wetten darüber abgeschlossen wurden, wann der beherrschte Spock endgültig die Contenance verlieren würde, bis aufs Blut gereizt durch den mit erstaunlich wenig Selbsterhaltungstrieb ausgestatteten McCoy, oder wann der Captain ein Machtwort spräche.

~°~


Jim Kirk indes, ein Mann, der nicht ohne Grund zum jüngsten Captain der Sternenflotte ernannt worden war und der sich mühelos gegen jeden noch so angriffslustigen Klingonen verteidigen konnte, stieß in dieser andauernden Schlacht langsam, aber sicher an seine Grenzen.

Es war nicht so, dass das Verhalten seines Ersten Offiziers und seines Ersten Medizinischen Offiziers die Moral der gesamten Crew schädigte, das nicht, zumindest nicht mehr; dafür hatte er nach einem besonders unschönen Streitgespräch gesorgt. Der genaue Wortlaut seiner Ermahnung, hervorgestoßen im schärfsten Kommandoton, war ihm entfallen; im Wesentlichen war es um für Offiziere der Sternenflotte unangemessenes Verhalten gegangen, um Insubordination, um keine Diskussionen auf der Brücke mehr, außer, sie tragen etwas zum Gelingen einer Mission bei, ansonsten lasse ich Sie beide an der nächsten Sternenbasis versetzen, habe ich mich klar ausgedrückt, meine Herren? Vielleicht hatten auch Bemerkungen wie Ist ja schlimmer, als Babysitter für meine Neffen zu spielen, meine Güte eine Rolle gespielt; und vielleicht war da auch ein wenig Reue angesichts der verletzten Mienen seiner Freunde gewesen, gemischt mit Belustigung darüber, dass die beiden einander in ihrem Schuldbewusstsein zum ersten Mal zustimmten.

Von diesem Tag an jedenfalls gab es keine lautstark auf der Brücke ausgetragenen Diskussionen mehr, keine Beleidigungen in der Öffentlichkeit, kein Untergraben der Autorität des jeweils anderen. Dieses Problem war beseitigt, andere bestanden nach wie vor, und das störte Jim mehr als alles andere.

Er verlangte ja nicht viel, wirklich nicht. McCoy und Spock mussten nicht plötzlich im jeweils anderen den verloren geglaubten Seelenverwandten finden oder jeden Abend friedlich miteinander Schach spielen, das auf keinen Fall; aber war es denn zu viel verlangt, dass ihre Beziehung auf mehr aufbaute als auf einer wackeligen Basis widerstrebenden Respekts? War es zu viel verlangt, dass die beiden vielleicht, ganz vielleicht irgendwann Freunde werden konnten?

~°~


„Bones ist ein guter Kerl“, versicherte er Spock bei einem seiner unauffällig-zwischen-den-Fronten-vermitteln-Gespräche. „Ich hätte ihn nicht aufs Schiff geholt, wenn ich nicht vollstes Vertrauen in ihn hätte.“

„An den fachlichen Kenntnissen des Doktors besteht kein Zweifel“, sagte Spock, steif und unnahbar wie damals, als sie einander zum ersten Mal getroffen hatten, lange, bevor sich die besondere Freundschaft zwischen ihnen entfaltet hatte und sie zum gefürchtetsten Kommandoteam der gesamten Flotte hatte werden lassen.

„Ja, aber es geht um mehr als das. Bones ist ein guter Arzt; und er ist ein guter Mensch. Ich brauche ihn ebenso, wie ich Sie brauche, Spock. Ich brauche jemanden, der den Mut hat, meine Entscheidungen zu hinterfragen und der, wenn es darauf ankommt, immer zuerst Arzt ist und erst danach ein Offizier.“

Darauf erwiderte Spock nichts; er hatte Jims wahre Intention längst erkannt und hielt die versteckte Überzeugungsarbeit für unlogisch.

~°~


„Spock ist der beste Erste Offizier, den ich jemals hätte finden können“, behauptete Jim. „Er ist loyaler, als du denkst, und auch menschlicher, als du denkst. Du willst es bloß nicht sehen. Gib ihm eine Chance, Bones.“

McCoy schürzte die Lippen und schwieg. An den fachlichen Qualitäten ihres vulkanischen Besatzungsmitglieds hatte selbst er nichts zu bemängeln, objektiv betrachtet zumindest. Subjektiv gesehen dagegen war er weiterhin der Meinung, dass er mögen und nicht mögen konnte, wen er wollte, und außerdem hatte er Jims wahre Intention längst erkannt und hielt die versteckte Überzeugungsarbeit für idiotisch.

~°~


Nach mehreren, allesamt erfolglosen Unterhaltungen dieser Art gab Jim es auf. Vielleicht, dachte er hoffnungsvoll, müsste er einfach dem heilenden Lauf der Zeit vertrauen und darauf, dass das Zusammenleben auf engstem Raum irgendwann für genug Verständnis sorgte, um eine Freundschaft zu ermöglichen – vorzugsweise, bevor ihre Mission endete.

Ein geschickt eingefädeltes gemeinsames Abendessen hier, eine zusammen bestrittene Außenmission dort, ein Forschungsprojekt des Bio-Medizinischen Bereichs, das sowohl Spock als auch McCoy betraf ... damit würden sich die Mauern bestimmt abtragen lassen. Vielleicht verbarg sich in dieser naiven Hoffnung sogar ein Funken Wahrheit, ganz würde Jim das nie herausfinden.

Der Durchbruch nämlich ging nicht auf sein Konto, zumindest nicht direkt. Nicht unterschwelligen Manipulationsversuchen war dieser Umbruch, das gravierendste Umdenken, geschuldet, sondern, in typisch dramatischer Jim-Kirk-Manier, einem Speer in den Bauch.

~°~


Später würde sich Spock vor allem an den Ausdruck völliger Überraschung auf dem Gesicht des Captains erinnern, als der Abgesandte links neben dem Sprecher des erstmals von der Föderation kontaktierten Volkes ihm den Speer in den Bauch stieß.

Es geschah zu schnell, um die Bewegung abwehren zu können, und es war zu unerwartet, um darauf vorbereitet zu sein. Die Verhandlungen waren von Anfang an von einer angespannten Atmosphäre geprägt gewesen, das schon, denn ihre Gesprächspartner entpuppten sich als misstrauisches Volk, gezeichnet von Stammeskriegen und Attentaten durch Rebellen; mit diesem barbarischen Akt der Gewalt hatte dennoch niemand rechnen können. Was dann folgte, las sich wie das Drehbuch eines dieser altmodischen Horrorfilme, die ab und an bei den regelmäßigen Filmeabenden auf der Enterprise gespielt wurden.

Die zwei Sicherheitsmänner, aus Gründen des Respekts unbewaffnet, sahen sich ebenfalls attackiert; das Rot ihres Blutes war selbst durch ihre Uniformen hindurch nur zu beängstigend gut sichtbar. Rot überall, auf dem Schaft des Speeres, auf Kirks Uniform, auf Spocks Armen und Händen, sogar in seinem Gesicht ...

In der anfänglichen Hektik konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, wie sie aus dieser Notlage herauskamen. Vielleicht eines von Scottys Wundern in letzter Sekunde; vielleicht schlicht und einfach eine dieser unlogischen, romantisierten Launen des Schicksals. Der Staub um sie herum verschwand, ersetzt durch die klimatisierte Luft des Transporterraums, und das Schreien entsetzter Dorfbewohner blendete in einen mit kontrollierter Panik hervorgestoßenen Schwall an medizinischen Befehlen über. Nur der Geruch nach Blut verschwand nicht, im Gegenteil, die sterile Umgebung schien ihn zu verstärken.

Anweisungen folgen hin und her, Forderungen und Flüche, ein irrsinnig schneller Wettlauf durch die Korridore saugte Spock die letzte verbliebene Luft aus der Lunge, und überall war das Blut. Blut, das die falsche Farbe hatte ... Es hätte grün sein sollen, es hätte Spocks Blut sein müssen. Er hatte geschworen, Jim zu beschützen, sowohl als Freund als auch in seiner Funktion als Erster Offizier ... und er hatte versagt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Zukunft seines Freundes und Captains in die Hände des Mannes zu legen, dem er an diesem Tag von allen Besatzungsmitgliedern am wenigsten in die Augen blicken wollte.

„Spock, steh’n Sie nicht da rum!“, blaffte McCoy ihn an, bereits halb im Operationssaal. Die Spur aus Blut auf dem Boden wies ihm den Weg, und es lag so viel Autorität in seiner Stimme, dass Spock automatisch gehorchte. „Lassen Sie sich von Schwester Barrymore untersuchen, und zwar sofort! Und dann verschwinden Sie und stellen sicher, dass mit dem Schiff alles in Ordnung ist, das wird Jims größte Sorge sein, wenn er wieder aufwacht!“

Der letzte Teil wurde ihm praktisch durch die geschlossene Tür zugebrüllt. Spock, ausgeschlossen und mehr denn je ein Außenseiter, starrte einige Momente lang auf die versiegelte Fläche, die ihn von Jim trennte. Das geschäftige Treiben der Krankenstation umspülte ihn, das Blut wurde weggewischt, und erst, als die letzten Tropfen verschwunden waren, besann er sich auf die Logik in McCoys Worten. Er musste dafür sorgen, dass mit der Enterprise alles in Ordnung war, wenn Jim wieder aufwachte. (Wenn, hatte McCoy gesagt, nicht falls.) Er durfte Jim kein weiteres Mal enttäuschen.

„Mr Spock?“

Er ignorierte Schwester Barrymores vorsichtige Nachfrage und hastet zielstrebig auf die nächste Kommunikationsschaltfläche zu.

Blut auf dem Boden, Blut auf Jims Hemd, Blut auf seinem Gesicht ... Er müsste das Blut abwaschen, aber nicht jetzt.

„Spock an Brücke.“

„Brücke, DeSalle hier. Commander, ist der Captain ...?“

„In Behandlung“, sagte Spock. Niemand dort oben auf der Brücke kannte ihn gut genug, um von diesen wenigen Wörtern auf die untypische Enge in seiner Kehle zu schließen.

Aufgeregtes Gemurmel drang durch die Leitung. Er schnitt es energisch ab. „Status des Schiffes, Lieutenant?“

„Alle Systeme funktionieren normal.“ Das war Sulu, trotz seiner offensichtlichen Sorge kompetent wie immer.

„Verlassen Sie den Orbit, Mr Sulu. Kurs 213-Markierung-79. Gehen Sie auf Warp zwei.“

„Aye, Sir.“

Unausgesprochene Beklemmung waberte von der Brücke aus durch das Kommunikationssystem, aber bevor sie sich manifestieren konnte, beendete Spock die Verbindung. Hinter ihm ließ Schwester Barrymore mit einem demütigen Seufzen einen Scanner über seinen Rücken gleiten.

„Mr Spock, Ihre Vitalwerte sind erhöht“, bemerkte sie in diesem zugleich sanften und energischen Ton, den nur Krankenschwestern bis zur Perfektion beherrschten. „Ich werde Ihnen ein Medikament-“

„Das ist nicht nötig, Schwester.“ Natürlich war es unhöflich, jemandem mitten im Satz das Wort abzuschneiden, doch die Erinnerung an seinen blutenden, leblosen Captain wog schwerer als alle Höflichkeitsformeln.

McCoy hatte sein Personal gut trainiert; Schwester Barrymore wagte tatsächlich den Versuch eines Protestes, anstatt sofort klein beizugeben. „Aber ...“

„Schwester, wie Sie sehr wohl wissen, liegt die physische und auch psychische Leistungsfähigkeit von Vulkaniern deutlich über derjenigen von Menschen. Ihre Sorge ist unbegründet und überflüssig.“

Selbst die Furcht vor einer der berüchtigten Schimpfpredigten ihres Chefs kam nicht gegen den in seiner Ausdruckslosigkeit so einschüchternden Blick des Vulkaniers an. Resigniert zuckte Barrymore mit den Schultern. „In Ordnung. Aber ziehen Sie sich wenigstens um, klar?“

Spocks Antwort beschränkte sich auf ein knappes Nicken. Als hätte er auch nur für den Bruchteil einer Sekunde vergessen können, dass sein eigenes Hemd und seine Haut noch immer von Jims Blut besudelt waren ...

Unwillkürlich drehte er sich zu den verschlossenen Türen des Operationssaals um, hinter denen Jims Leben vom Talent eines mürrischen Arztes aus Georgia abhing – eine Vorstellung, die ihm alles andere als behagte, obwohl er um McCoys nicht zu unterschätzende Fähigkeiten wusste.

Schwester Barrymore folgte seinem Blick. „Wir kriegen das wieder hin“, sagte sie leise. Es klang, als gelte diese Versicherung ebenso sehr ihr selbst wie Spock. „Wir können nichts tun, als zu warten. Der Captain hat genug fähige Hände um sich herum, die sich um ihn kümmern.“

Ein Hochziehen der Augenbraue, weder bestätigend noch kritisch, einfach nur, um irgendwie auf diese gutgemeinten, jedoch völlig nutzlosen Phrasen zu reagieren; dann wandte Spock sich ab und verließ die Krankenstation.

~°~


Exakt sieben-Punkt-vier Minuten später öffneten sich die Türen erneut für ihn. Zielstrebig wie immer schritt Spock in den Raum, gekleidet in eine frische Uniform und in der Hand ein PADD, an dem er den Missionsbericht formulieren könnte, während er darauf wartete, dass die Waagschale des Schicksals sich für eine Richtung entschied, so oder so.

Es stand außer Frage, dass er diese endlosen Stunden der Ungewissheit in seinem Quartier oder auf der Brücke verbrachte. Sicher, streng betrachtet war seine Anwesenheit hier unlogisch, denn Jims Überlebenschancen erhöhten sich dadurch sicherlich nicht; aber Jim war auch derjenige, der Spock vor einigen Monaten sanft darauf hingewiesen hatte, dass Logik nicht immer das letzte Wort haben musste. Er von allen Personen würde dieses für einen Vulkanier untypische Verhalten verstehen. Außerdem – wer hatte behauptet, dass Loyalität nicht logisch war?

Auf der Brücke wären seine Dienste nicht vonnöten; Sulu, DeSalle und der Rest der Brückencrew hatten alles unter Kontrolle und war angewiesen worden, sich sofort bei Spock zu melden, sollte sich auch nur die geringste Abweichung von der Routine ergeben. Wirklich, unter diesen Umständen hatte Spocks Handlungsweise durchaus ihre Berechtigung ... und wenn es sich nicht unbedingt für einen Commander gehörte, praktisch durch die Gänge des Schiffes zu rennen, um ja keine Zeit zu verschwenden, nun, so wischte er diese Tatsache als irrelevant zur Seite.

Die Krankenwärter und Schwestern, die nicht im Operationssaal oder mit der Obduktion der beiden toten Sicherheitsmänner beschäftigt waren, warfen ihm mitleidige Blicke zu, allerdings nur, wenn sie ganz sicher sein konnten, dass er es nicht bemerkte. Wie er dort auf einem der unbequemen Stühle im Wartebereich saß, den Kopf mit stoischer Gelassenheit über sein PADD gebeugt und den Rücken so steif durchgestreckt, dass der alleinige Anblick schmerzte, unterschied er sich kaum von den Freunden oder Angehörigen, mit denen man Tag für Tag zu tun hatte. Sorge und Trauer waren universelle Gefühle, egal, wie man sie ausdrückte: Sie waren immer da, lauerten in den Ecken deines Bewusstseins und warteten nur darauf, dass du ihnen hilflos ausgeliefert wurdest. Selbst Vulkanier waren nicht gegen ihre Kräfte immun, auch wenn sie am liebsten den Anschein erweckten, als sei alles in bester Ordnung.

Niemand war dumm genug, Spock zu fragen, ob er tatsächlich in Ordnung war. Sie ließen ihn in Ruhe, machten einen Bogen um ihn, wann immer es möglich war, und schworen im Stillen, nie wieder Scherze über die angebliche Gefühlslosigkeit ihres Ersten Offiziers zu machen.

Als vier Stunden später ein abgekämpft wirkender Doktor McCoy aus dem Operationssaal trat, gefolgt von einer gleichermaßen erschöpften Christine Chapel, räumte das übrige Personal respektvoll und so unauffällig wie möglich den Wartebereich. Persönliche Nachrichten, gute wie schlechte, ließen sich am besten in der Abgeschiedenheit zerbrechlicher Privatsphäre entgegennehmen.

Sobald er die beiden Menschen bemerkte, legte Spock sein PADD zur Seite und erhob sich. In ihren Gesichtern spiegelte sich nichts als Erschöpfung; selbst er, ein Meister darin, menschliche Regungen zu erfassen, konnte nicht auf den Erfolg oder Misserfolg der Operation schließen.

„Doktor“, grüßte er und nahm auch Chapels Anwesenheit mit einem knappen „Schwester“ zur Kenntnis. Nur seine Körperhaltung, die noch steifer wirkte als gewöhnlich, verriet dem aufmerksamen Beobachter seine innere Anspannung. Blut auf Jims Hemd, Blut auf dem Boden, Blut auf Spocks Händen ... Es war so viel Blut gewesen.

Dieses eine Mal ließ McCoy ihn nicht warten, immerhin das. Kein Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen aus der Krankenstation verschwinden, kein Besorgt, Spock? Ist das nicht eine menschliche Emotion? Nein, McCoy kam direkt zum Punkt.

„Wollen Sie die Kurzfassung hören oder die lange Version?“, fragte er ohne Umschweife, noch ehe er vor Spock Halt gemacht hatte. Die Erschöpfung verstärkte seinen Akzent, zog die Vokale in die Länge und machte es schwer, ihn zu verstehen.

Spock verschränkte die Hände hinter dem Rücken, eine unbewusste und in ihrer Routine vertraute Geste. „Bitte teilen Sie mir alle relevanten Ergebnisse mit.“

McCoy schien ihm nicht einmal zugehört zu haben. Mit der ihm eigenen Kunstfertigkeit ignorierte er Spock, um seinem Unmut Luft zu machen. „Die Kurzfassung besteht darin, dass uns die natürlichen Blutkonserven ausgegangen sind und Jim uns fast unter den Händen weggestorben ist. Dreimal. Wenn Sie mehr wissen wollen, fragen Sie Christine.“

Und mit diesen Worten drehte er sich um und stolzierte auf sein Büro zu – so gut man in seinem erschöpften Zustand eben stolzieren konnte. Eigentlich war es eher eine Art wütendes Schlurfen, und ohnehin war Spock zu sehr mit der Analyse der letzte Sätze beschäftigt, um darauf zu achten. Unter den Händen weggestorben. Nicht gut; seine menschliche Hälfte krümmte sich innerlich unter der Last der Bedeutung dieser Worte. Fast. Das war besser, viel besser. War Erleichterung ein logisches Gefühl? Ein menschliches? In diesem Moment interessierte es ihn nicht.

„Leonard?“, rief Christine dem Arzt hinterher. Er reagierte nicht, und seufzend wandte sie sich Spock zu. „Wenn Sie den ausführlichen Bericht hören wollen ...“

Er nickte. Seine medizinischen Kenntnisse würden nicht ausreichen, um alle Fachbegriffe und Prozeduren einordnen und beurteilen zu können, aber es war nur logisch, alle zur Verfügung stehenden Fakten zu sammeln.

„Gut ...“

Er wusste, dass Christine Chapel sich in seiner Nähe nicht übermäßig wohlfühlte, schon gar nicht, nachdem der Psi-200-Virus sie zu gewissen unangenehmen Enthüllungen gezwungen hatte, und er bewunderte sie umso mehr für ihr Talent, in Situationen wie dieser ihre persönlichen Gefühle beiseitezuschieben. Während sie ihm den vollständigen Bericht gab, war sie mit jeder Faser ihres Körpers die Krankenschwester: kompetent, sachlich und selbstbewusst, keine von der Trauer um ihren verstorbenen Verlobten und von unerfüllbarer Liebe getriebene Frau.

Aufmerksam hörte Spock ihr zu, neigte an geeigneten Stellen zustimmend den Kopf und hakte ein- oder zweimal nach.

Als Christine verstummte, wusste Spock genauestens über die Verletzungen des Captains Bescheid und konnte erst jetzt das volle Ausmaß des Unglücks ermessen. Es war sehr knapp, hatte Christine gesagt. In diesem Fall hatte es sich dabei nicht einmal um eine der unnötigen Übertreibungen gehandelt, die die Menschen um der Dramatisierung willen so gerne verwendeten.

Es war sehr knapp. Zu knapp. Sich zu schwören, es nie wieder so weit kommen zu lassen, zählte nicht als Wiedergutmachung für sein ursprüngliches Versagen. Ihn hätte der Speer treffen sollen, nicht Jim.

„Es war nicht Ihre Schuld, das am allerwenigsten“, sagte Christine leise, als hätte sie – wie man auf der Erde sagte – seine Gedanken gelesen. „Es ist nur Ihrer schnellen Reaktion zu verdanken, dass der Captain überhaupt noch eine Chance hatte.“

Spock zog leicht die Augenbraue hoch, verkniff es sich jedoch, diese Aussage näher zu analysieren. Mit seiner Schuld würde er sich in seiner nächsten Meditation auseinandersetzen; vorerst gab es dringlichere Aufgaben.

Erneut sprach Christine aus, was er dachte. „Wenn Sie wollen, können Sie den Captain jetzt sehen. Ihre Anwesenheit wird gut für ihn sein.“

Spock neigte den Kopf. Dass sie einander wann immer möglich Gesellschaft leisteten, wenn einer von ihnen die Gastfreundschaft der Krankenstation für längere Zeit in Anspruch nehmen musste, hatte sich im letzten Jahr eingebürgert – ein Umstand, der längst nicht mehr für verwunderte Blicke sorgte. War Kirk in der Krankenstation, traf man auch Spock dort an und umgekehrt, so einfach war es. Selbst Doktor McCoy hatte widerstrebend zugegeben, dass die Nähe des jeweils anderen seinen beiden starrköpfigsten Patienten guttat.

„Ich danke Ihnen, Schwester.“

Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln, und er machte eine mentale Notiz, die Leistung des medizinischen Personals in seinem nächsten Bericht an die Admiralität zu würdigen, falls der Captain es nicht tat.

„Und ich sehe mal nach Doktor McCoy ... Operationen wie diese sind immer schwierig für ihn, und diesmal war es besonders heftig.“

Die Sorge in ihrer Stimme ließ Spock innehalten. Es war mehr als die Sorge einer Krankenschwester um ihren Vorgesetzten; es war die Sorge einer aufmerksamen jungen Frau um einen Freund, eine Sorge, die ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen alles andere als unbegründet war.

„Es ist Doktor McCoys Beruf, auch in emotional auszehrenden Situationen wie der heutigen volle Leistung zu erbringen“, bemerkte er nüchtern; und später würde er sich fragen, wieso er die Sache nicht auf sich belassen hatte. Was interessierte ihn McCoys ausreichend bekannte emotionale Instabilität, wenn dort hinter den verschlossenen Türen des Erholungsraumes Jim lag?

„Sicher, und er hat volle Leistung erbracht, sonst wäre die OP anders verlaufen“, sagte Chapel, ungewohnt heftig. Spock hob eine Augenbraue an. Interessant, diese Loyalität McCoy gegenüber, dieser Drang, ihn zu verteidigen. Weil er selbst Loyalität als logisch betrachte, gab es dagegen nicht einmal etwas einzuwenden.

„Aber wissen Sie, es hat schon seinen Sinn, dass es Ärzten normalerweise aus Gründen der Befangenheit nicht erlaubt ist, Angehörige zu behandeln. Hier auf diesem begrenzten Raum lässt sich diese Regelung kaum umsetzen, man muss sich auf denjenigen verlassen, der gerade da ist ... Aber ansonsten? Es ist unheimlich schwer, einen Freund vor sich auf dem OP-Tisch liegen zu haben und zu wissen, dass eine falsche Handbewegung über Leben und Tod entscheiden könnte. Ich meine, natürlich ist so etwas immer schwer, aber in Fällen wie diesen noch viel mehr.“

Christine ließ ihm keine Zeit, darauf zu reagieren. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, lächelte ihm ein weiteres Mal zu und wies in die Richtung der Erholungsräume. „Aber das ist jetzt nicht wichtig. Gehen Sie schon. Der Captain ist in Zimmer zwei.“

Spock nickte; Zimmer zwei war längst der inoffizielle Beiname „Jims exklusives Heiligtum“ verpasst worden. Erneut wandte er sich um, und erneut hielt er inne, bevor er an seinem Ziel angelangt war. Ungefragt hatte sich das Bild von McCoys erschöpftem Gesicht zurück in sein Bewusstsein gedrängt, und irgendetwas an diesem Bild, an den Falten um McCoys Augen und an seinen zusammengepressten Lippen, zwang Spock dazu, stehenzubleiben und dem Theater zuzuschauen, das sich soeben vor der Bürotür des Ersten Medizinischen Offiziers entfaltete.

„Doktor?“, rief Christine halb durch die Sprechanlage, halb durch die geschlossene Tür, und das war es, was Spocks Aufmerksamkeit am meisten erregte. Die geschlossene Tür.

Man mochte über McCoy sagen, was man wollte, aber man konnte nicht behaupten, dass er seinem Beruf nicht mit Leidenschaft nachging. McCoy pflegte eine Politik der offenen Tür; in all den Monaten, die er nun schon als Erster Medizinischer Offizier auf der Enterprise arbeitete, hatte Spock noch nie erlebt, dass die Tür zu McCoys Büro geschlossen oder sogar verschlossen war. Mit seinem Quartier verhielt es sich ähnlich: Wer immer zu ihm wollte, wurde eingelassen, selbst um zwei Uhr Nachts und auch, wenn McCoy gerade eine zehnstündige Operation beendet hatte. Wenn man ihn brauchte, dann war er da, bisher hatte es nie eine Abweichung von diesem Grundsatz gegeben. Bisher.

„Leonard? Len?“

Christines Anfragen wurden mit jedem Wort energischer, und zugleich vermehrte sich die Sorge in ihrer Stimme. Spock wusste, dass es ihn nichts anging, was sich nach dem Ende der Schicht zwischen ihr und McCoy abspielte; allerdings war es durchaus logisch, an Ort und Stelle zu verharren, sollte seine Hilfe benötigt werden. Im Moment sah es ganz danach aus, als bisse sich Christine an ihrem störrischen Vorgesetzten metaphorisch die Zähne aus.

„Len! Mach auf, verdammt noch mal!“

Spock hob die Augenbraue angesichts dieses barschen Umgangstons. McCoy war natürlich an deutlich Schlimmeres gewöhnt und reagierte auch auf das Fluchen seiner Oberschwester nicht.

„Herrgott, Leonard!“

Frustriert schlug sie mit der flachen Hand gegen die Tür. Spock nahm diese nächste Stufe ihres Kontrollverlusts mit einem missbilligenden Hochziehen der anderen Augenbraue hin, ging aber zu ihr hinüber. Inzwischen zogen sie definitiv zu viel Aufmerksamkeit auf sich; sollte dieses Spiel sich noch länger fortsetzen, würde es zu einer Verminderung der Effizienz des Personals führen, ganz zu schweigen davon, dass McCoys Verhalten nicht gerade angemessen für einen Abteilungsleiter war.

„Kann ich Ihnen helfen, Schwester?“, fragte Spock in seinem neutralsten Tonfall.

Christine zuckte tatsächlich zusammen. „Meine Güte, Commander, ich hab Sie gar nicht kommen hören.“

Er ging nicht auf diese unnötige Feststellung ein und sie fuhr fort, darauf bemüht, die Frustration bis auf ein Minimum aus ihrer Stimme zu vertreiben: „Ich weiß ja, dass es heftig für ihn war und er alleine sein will, aber mein Gott, ich will nur helfen.“

Den letzten Teil sprach sie lauter als notwendig aus und stellte dabei sicher, dass die Sprechanlage währenddessen noch immer aktiviert war. McCoy musste sie sehr wohl hören, doch natürlich antwortete er nicht – nicht, dass es Spock überraschte.

„Meiner Erfahrung nach kann der gute Doktor in diesen Belangen sehr stur sein“, bemerkte er unschuldig.

Christine schnaubte und nahm den Finger vom Intercom-Schalter, womit sie die Verbindung unterbrach. „Wem sagen Sie das.“

Resigniert schüttelte sie den Kopf. „Ich kann ihm nicht mal verdenken, dass er sich in Ruhe betrinken will ... Hätte ja wenigstens auf sein Quartier gehen können, aber wer weiß schon, was an Tagen wie diesen in seinem Kopf vorgeht?“ Sie unterbrach sich, als ihr bewusst wurde, dass sie über derartige Verstöße gegen die Vorschriften lieber nicht mit Spock reden sollte, aber er wies sie an, weiterzusprechen. Die Vorliebe des Doktors für gewisse halblegale Substanzen war nichts Neues für ihn, und der einzige Grund, weshalb McCoy deshalb noch keine Ermahnung von offizieller Seite erhalten hatte, war die Tatsache, dass Kirk ihm beim Konsum dieser Substanzen nicht selten tatkräftig unterstützte.

„Ich suche ihm lieber gleich ein Detoxikationsmittel für morgen Früh heraus“, murmelte Christine. „Versuchen Sie ruhig, ob Sie zu ihm durchdringen können. Vielleicht haben Sie mehr Erfolg.“

Nun lag etwas anderes in ihrer Stimme, etwas, das Spock als weitere typisch menschliche Emotion erkannte: Hoffnung. Schwester Chapel hoffte tatsächlich, dass er, ausgerechnet er, McCoy zu einem Meinungsumschwung bewegen konnte – in welche Richtung auch immer dieser erfolgen sollte.

Sie nickte ihm zu, gab ihm ein weiteres „Sehen Sie nach dem Captain, wann immer Sie wollen“ mit auf den Weg und verschwand im geschäftigen Gewusel der Krankenstation. Gegen seinen Willen blickte Spock ihr nach, und gegen seinen Willen folgte er ihr nicht.

Sehen Sie nach dem Captain. Er hätte nichts lieber als das getan ... aber dasselbe vulkanische Pflichtgefühl, das ihn an Jims Seite zog, verhinderte, dass er sich nun von McCoys Büro abwandte. Er bezweifelte, dass er zu McCoy durchdringen konnte, wie Schwester Chapel es formuliert hatte, doch im Gegensatz zu ihr konnte er als zweithöchster Offizier in der Kommandokette sehr wohl zu einem anderen Mittel greifen: den Code zu McCoys Büro überbrücken.

Es hätte ihm egal sein können, ob McCoy sich betrank oder nicht, sicher. Er und der störrische Arzt hatten nichts gemeinsam; das Einzige, was sie beide verband und ganz selten sogar zu Verbündeten machte, war die Sorge um Jim Kirk. Und diese Loyalität Kirk gegenüber sorgte dafür, dass Spock nun bei McCoy blieb – denn er konnte sich Jims unangenehm emotionale Reaktion, sollte er herausfinden, dass sein ältester Freund an diesem Abend völlig alleingelassen worden war, lebhaft vorstellen.

Wäre es nicht eine ganz und gar menschliche Reaktion gewesen, hätte Spock geseufzt. Er beschränkte sich darauf, seinerseits die Sprechanlage zu betätigen. „Doktor?“

Keine Antwort.

„Doktor McCoy.“ Keinesfalls würde er sich ebenso leicht geschlagen geben wie Schwester Chapel; wenn es darum ging, mit einer geschickten Mischung aus Geduld und vulkanischem Scharfsinn seine Ziele zu erreichen, machte ihm so schnell niemand etwas vor.

„Doktor. Ich weise Sie darauf hin, dass Ihr Benehmen nicht dem Verhaltensstandard eines Lieutenant-Commanders entspricht. Des Weiteren möchte ich Ihnen eines der hypothetischen Szenarien vorschlagen, die für die Menschen so reizvoll zu sein scheinen. Stellen Sie sich bitte vor, was der Captain von Ihrem Verhalten halten wird, wenn er davon hört.“

Er hätte fast schwören können, ein verächtliches Schnauben durch die Tür dringen zu hören.

„Als Ihr Vorgesetzter weise ich Sie außerdem darauf hin, dass es den Vorschriften widerspricht, auf wiederholte Anfragen des Personals nicht zu reagieren, selbst, wenn Sie sich derzeit nicht im Dienst befinden. Zuletzt möchte ich Sie daran erinnern, dass ich den Code zu Ihrer Tür überbrücken kann und keine emotional bedingten Skrupel habe, dies zu tun.“

Der letzte Teil war nicht vollständig korrekt. Es widerstrebte ihm zutiefst, in die Privatsphäre einer anderen Person einzudringen, aber er wusste auch, dass der Zweck manchmal die Mittel heiligte. Jim hätte ihm sicherlich zugestimmt.

Einige zeitlose Momente lang geschah nichts, und Spock bereitete sich darauf vor, den Sicherheitscode zu umgehen. Da war sie wieder: diese Entschlossenheit, die McCoy durch sein unvorhersehbares, stures Verhalten in ihm hervorrief und die ihn oft genug dazu brachte, Dinge zu tun, die er ohne äußere Stimulation wahrscheinlich nicht so schnell getan hatte.

Dann, ebenso unerwartet, wie McCoy tagtäglich die Laune änderte, glitt die Tür auf. Spock trat ein, die Tür schloss sich hinter ihm und bildete eine winzige Zone der Isoliertheit um ihn und McCoy.

Das Erste, was Spock auffiel, waren die angebrochene Flasche Bourbon und das volle Glas auf dem Tisch – und das war es, was der Sache einen Stoß in eine andere Richtung verlieh: Das Glas war voll. McCoy hatte es bisher nicht angerührt. Wäre Spock kein Vulkanier gewesen, hätte ihn dieses atypische Verhalten irritiert; auf jeden Fall ließ es weitere Aufschlüsse über McCoys derzeitigen Geisteszustand zu.

Der Arzt machte keine Anstalten dazu, sich zu erheben. Mit einer Handbewegung bot er Spock sogar einen Stuhl an, schien sich aber nicht besonders dafür zu interessieren, ob Spock der Einladung nachkam. Er tat es nicht, sondern verschränkte die Hände und stellte sich vor den Tisch. McCoy blicke aus zusammengekniffenen Augen zu ihm auf.

„Sie haben besser einen verdammt guten Grund dafür, mich zu stören“, knurrte er.

Spock ließ sich von seinem feindseligen Ton nicht beeindrucken. Das hier war vertrautes Terrain, mit dem kleinen Unterschied, dass es Spock zum ersten Mal so vorkam, als sei die Feindseligkeit nicht gegen ihn gerichtet.

„Schwester Chapel sorgt sich um Sie, nicht ganz zu Unrecht, wie mir scheint.“

McCoy verdrehte die Augen. „Ich kann auf mich selbst aufpassen, das weiß sie. Ich brauche kein Kindermädchen und erst recht keinen vulkanischen Babysitter.“

Ja, es gab definitiv einen Unterschied. Die Verbitterung in McCoys Stimme, die Art, wie seine Augen durch den Raum huschten, die Tatsache, dass seine Hände zitterten, als er nach dem Glas griff ... Ihm, einem Chirurgen, zitterten die Hände.

Spock handelte, ohne zuvor das Für und Wider abzuwägen. Umstandslos beugte er sich nach vorne und nahm McCoy das Glas aus der Hand, bevor er es an die Lippen führen konnte. Ihre Finger berührten einander, ganz kurz nur und dennoch lange genug, um Spock ein deutlicheres Bild über McCoys Zustand zu vermitteln. Das war Segen und zugleich Fluch eines Berührungstelepathen: Manchmal lernte man durch unbeabsichtigte Berührungen mehr, als man wissen wollte, und man musste entscheiden, wie man dieses Wissen anwandte.

Der Cocktail an Emotionen, den er in diesem Bruchteil einer Sekunde von McCoy empfing, war stark wie vermutet. Wut und Angst und Bitterkeit und Resignation ... Und das Seltsame daran: Tatsächlich wandte sich nichts davon gegen Spock, und das bestätigte ihm endgültig, dass irgendetwas nicht stimmte, wie die Menschen es ausdrückten.

„Doktor“, sagte er, nicht wirklich sanft, aber längst nicht so überlegen wie sonst. Die Umstände hatten sich geändert; er wolle noch immer nichts weiter, als seinem Captain Gesellschaft zu leisten, doch zugleich spürte er, dass seine Anwesenheit hier mehr gebraucht wurde. Jim war bewusstlos und konnte warten, McCoy dagegen schien ein klärendes Gespräch nötig zu haben. Es war nur logisch, dass Spock für den Moment bei dem Arzt blieb und damit indirekt auch seine Aufgabe als Jims Freund erfüllte. Wenn Jim sich nicht selbst um McCoy kümmern konnte, wie er es zweifelsohne getan hätte, musste jemand anders diese Rolle übernehmen.

Angetrieben von der veränderten Ausgangsposition nahm Spock nun doch McCoy gegenüber Platz und stellte das Glas vor sich ab. McCoy starrte ihn fassungslos an.

„Was zur Hölle soll das werden?“

„Ich sorge dafür, dass ein für das Schiff wertvoller Offizier seine Gesundheit nicht durch unbedachtes – wie sagt man – Sich-Betrinken aufs Spiel setzt“, erwiderte Spock fest.

Einige Augenblicke schien es, als wollte McCoy protestieren und wie ein trotziges Kind erneut nach dem Glas greifen, dann sank er in sich zusammen – und dieses Nachgeben war alarmierender als jede Beleidigung.

„Schön. Eigentlich geht es Sie überhaupt nichts an, womit ich mir nach Dienstschluss die Zeit vertreibe, aber jetzt sind Sie nun mal hier – also, was wollen Sie? Sollten Sie nicht bei Jim sein?“

„Der Captain ist in besten Händen und benötigt meine Anwesenheit derzeit nicht.“
Ein unausgesprochenes Nicht so sehr wie Sie schwang in diesem Satz mit, was Spock selbst überraschte. War es nicht seltsam, wie in und nach Extremsituationen aus Antagonisten Verbündete werden konnten?

McCoy fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Also gut, was wollen Sie, Spock? Dass ich Ihnen mein Herz ausschütte? Das wird nicht passieren.“

Spock zögerte, gerade so lange, dass es nur jemandem aufgefallen wäre, der ihn gut kannte. Was wollte er, ausgerechnet er, von McCoy? Wollte er überhaupt etwas von ihm?

Die Antwort war deutlich wie ein Leuchtfeuer, so deutlich, dass sie selbst die immer noch in seinem Geist verankerten Bilder von Jims leblosem, blutüberströmten Körper übertönte. Es ging hier nicht um ein von; es ging um ein für.

„Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.“

Alleine McCoys verdatterter Gesichtsausdruck war die Sache wert. „Was?!“

Ein erneutes Zögern, diesmal so lange, dass selbst McCoy es bemerkte. „Spock?“

„Es lag in meiner Verantwortung, Jim zu schützen. Ich habe versagt.“ Und genau das war der Grund, weshalb es ihm von Anfang an so schwergefallen war, McCoys Blick zu erwidern. Es auszusprechen, war nicht leicht, es tat weh und gleichzeitig war es seltsam befreiend. Jim war die eine Konstante, die ihn und McCoy verband; wann immer es um Jim ging, verstanden sie einander, irgendwie. Verantwortung trug sich leichter, wenn man sie teilte, so hieß es doch, oder?

Etwas von der übermächtigen Erschöpfung in McCoys Zügen schmolz. „Ah, Spock. Sagen Sie das nicht. Sie haben getan, was Sie konnten und was notwendig war, und wenn Sie nicht so besonnen gehandelt hätten, hätte Jim überhaupt keine Chance gehabt.“

Unbewusst hatte er dieselben Worte wie zuvor Schwester Chapel verwendet, aber die Wiederholung änderte nichts an der Tatsache, dass er Captain sich überhaupt in diesem Zustand befand, dass er drei Räume weiter bewusstlos in einem Biobett lag.

McCoy ließ ihm keine Gelegenheit dazu, etwas zu entgegnen. „Es ist so sinnlos“, sagte er verbittert. „Da leben wir im dreiundzwanzigsten Jahrhundert, haben alle möglichen Technologien zur Verfügung und verlieren trotzdem so leicht Patienten. Wir geben unser Bestes, aber viel zu oft reicht das nicht. Und dann stehst du da und gehst jede Sekunde, jede kleine Bewegung in deinem Kopf durch und fragst dich, was du anders, besser hättest machen können, und du bist dir nicht sicher, ob du deinen Eid überhaupt einhalten kannst ...“

Er hatte sich in Rage geredet. Wild gestikulierend schob er seinen Stuhl zurück und begann tatsächlich, in dem engen Büro auf und ab zu gehen, von einer Wand zur nächsten, mit jeweils einer scharfen Pirouette, wenn er nicht mehr weiterkonnte. Wie ein Tiger im Käfig. Der im menschlichen Sprachgebrauch verwendete Vergleich drängte sich unweigerlich auf, und Spock konnte nicht anders, als sich zu fragen, aus welchem Material dieser spezielle Käfig gemacht war. Vielleicht aus denselben Stoffen, die auch ihn umschlossen. Reue, schlechtes Gewissen, Hilflosigkeit ...

„Und dann, wenn er es gerade so geschafft hat, geht dieser Idiot auf die nächste Außenmission und lässt sich wieder fast umbringen und das Spiel beginnt von vorne ... Ich halte ihm einen Vortrag darüber, wie kostbar das Leben ist, und er lacht und sagt etwas von wegen, dass das Leben in erster Linie ein Abenteuer ist und ...“

McCoy hielt inne, und zum ersten Mal, seit er den Salzvampir von M-113 in der Gestalt Nancy Craters erschlossen hatte, hörte Spock seine Stimme brechen. So plötzlich, wie seine Wut aufgeflackert war, schienen ihn seine Kräfte zu verlassen; er ließ sich mehr in seinen Stuhl fallen, als dass er sich hinsetzte.

Spock betrachtete ihn, und auf einmal war da eine neue Emotion. Mitleid.

Der Bourbon auf dem Tisch war längst vergessen. McCoy beugte sich nach vorne, und wäre Spock kein Vulkanier gewesen, hätte er den eindringlichen Blick aus stechend blauen Augen als unangenehm empfunden.

„Sehen Sie, Spock, auf die eine oder andere Weise versagen wir alle. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen.“

Die Richtung, die dieses improvisierte Gespräch einschlug, hatte sich nicht vorhersehen lassen. Mit McCoy führte man keine nahezu philosophischen Unterhaltungen; mit McCoy stritt man sich, über McCoy ärgerte man sich und manchmal, ganz selten, fand man sogar Gefallen an ihren gegenseitigen Sticheleien. Aber das hier? Das war neu.

„Ich habe nicht das Gefühl, dass Sie gut damit umgehen können“, sagte Spock vorsichtig.

McCoy lachte auf, irgendwo zwischen Bitterkeit und widerwilliger Belustigung. „Ich hätte damit umgehen können, wenn Sie mich nicht gestört und in diese Konversation gedrängt hätten ...“

„Ich habe Sie zu nichts gedrängt, Doktor. Ich war lediglich da.“

McCoy dachte einen Moment lang darüber nach. „Wissen Sie was, Spock ... Ich hätte nicht gedacht, dass ich das jemals zu Ihnen sagen würde, aber Sie haben recht. Ich habe keine Ahnung, wieso ich Ihnen das alles erzählt habe.“

„Meiner Erfahrung nach tut es Menschen gut, nach belastenden Erlebnissen mit jemandem zu sprechen. Sie als Psychologe wissen das.“

Ein Schnauben. McCoys Blick verlor etwas von seiner Schärfe. „Sie sind da“, wiederholte er Spocks Aussage, langsam und leise und ein wenig verwundert. „Sie sind da, obwohl Jim Sie ebenfalls braucht. Ist es logisch, unter diesem Umständen bei mir zu bleiben?“

Es lag etwas seltsam Bedürftiges in seiner Stimme, das Spock von ihm noch nie zuvor gehört hatte. Vermutlich war er einfach zu müde, um es zu verstecken, und erinnerte Spock daran unbewusst an eine der größten Ängste so vieler Menschen: alleine zu sein.

Spock nahm sich einige Zeit, bevor er antwortete.

„Nein; aber es ist richtig“, sagte er, denn wenn er im letzten Jahr eines gelernt hatte, dann, dass Logik nicht immer der letzte Maßstab aller Dinge sein musste – auch, wenn er das natürlich nie laut ausgesprochen hätte.

Das Lächeln, das McCoy ihm schenkte, war vielleicht das erste, das ihm ohne jegliche Hintergedanken überreicht wurde.

„Sieh an, Jim hatte doch recht. Sie können tatsächlich menschlich sein, wenn Sie wollen.“

Spock beugte den Kopf, denn zumindest heute war ihm nicht danach, die Wahrheit zu leugnen. „In der Tat.“

Ein weiteres Lächeln; und die wertvolle Erkenntnis, dass es sehr wohl möglich war, ein Gespräch mit McCoy zu führen, ohne früher oder später in Beleidigungen abzudriften. Vielleicht hatte es eine Extremsituation wie diese gebracht; vielleicht war das der erste Schritt. Als Sohn eines Botschafters wusste Spock, wie wichtig es war, sämtliche Optionen offenzuhalten, und mit McCoy zu arbeiten, wäre produktiver, als gegen oder zumindest ohne ihn zu arbeiten – gerade, wenn es um Jim Kirks Wohlergehen ging.

„Gehen Sie schon zu Jim“, sagte McCoy prompt, als hätte er gespürt, dass sich Spocks Gedanken kurzzeitig dem Objekt ihrer gemeinsamen Besorgnis zugewandt hatten.

Er zögerte, und McCoy verdrehte die Augen. „Mir geht’s gut. Ich mache nur noch schnell den Bericht fertig, dann hab ich das wenigstens hinter mir, und danach gehe ich ins Bett.“

Die Erschöpfung hielt ihn noch immer deutlich sichtbar in ihrem Griff, aber wenigstens war die Hoffnungslosigkeit verschwunden, was Spock als gutes Zeichen wertete. Das vertraute schalkhafte Grinsen auf McCoys Gesicht war ganz sicher eines. „Und davor finde ich vielleicht endlich Zeit, in Ruhe diesen Bourbon zu trinken. Alles andere wäre eine Verschwendung.“

„Wie Sie meinen, Doktor.“

Nun bewegten sie sich wieder in den vertrauteren Gefilden der Sticheleien, nur mit dem Unterschied, dass diesmal hauptsächlich Sorge dahinter lag; und Spock hätte niemals zugegeben, dass er diesen Aspekt ihrer undefinierbaren Beziehung vermissen würde, sollten er und McCoy wider Erwarten irgendwann völlig reibungslos miteinander arbeiten können.
Vielleicht fand an diesem Abend eine Entwicklung, die mit McCoys Ankunft an Bord begonnen hatte, ihr Ende oder wurde zumindest auf eine neue Stufe gehoben.

Mir geht’s gut. Vielleicht nicht die reinste Wahrheit, aber auch keine so große Lüge, dass weiteres Nachforschen notwendig gewesen wäre. Zu viel war nie gut.

Spock nickte und machte Anstalten dazu, das Büro zu verlassen. In der Tür hielt er inne. „Bitte benachrichtigen Sie mich, sollten Sie es für nötig halten“, sagte er, eine vorsichtige Umschreibung des guten, alten Ruf mich, wenn du mich brauchst. McCoy verstand die wahre Bedeutung hinter diesen Worten natürlich; und das unausgesprochene Dankeschön in seinen Augen war dasselbe, das Spock Sekunden später von einer erleichterten Christine Chapel angeboten wurde.

Erst später, als er an Jims Seite saß und auf das beruhigend gleichmäßige Piepsen des Biomonitors lauschte, wurde ihm bewusst, dass das Bild des allgegenwärtigen Blutes, das ihn seit den gescheiterten Verhandlungen verfolgt hatte, verschwunden war.

~°~


„Sie und McCoy scheinen sich in letzter Zeit deutlich besser zu verstehen“, stellte Jim Wochen später fest, als die Routine ihr Leben längst wieder eingeholt hatte und subtile Veränderungen erste Früchte trugen.

Spock hob die Augenbraue an. „Wirklich, Captain“, sagte er mit dem Hauch feinen Humors, der nur seinen Freunden vorbehalten war. „Ich kann Ihr menschliches Sehnen nach Harmonie im Arbeitsalltag nachvollziehen, weise Sie jedoch darauf hin, dass ein Romantisieren der Tatsachen zu keinem Ergebnis führt. Sie wissen genau, dass meine Interaktionen mit einem so unlogischen Individuum wie Doktor McCoy sich lediglich auf unvermeidliche, für die Effizienz an Bord notwendige Belange beschränken.“

Jim grinste wissend in sich hinein.

~°~


„Du und Spock werdet noch zu besten Kumpels, wenn das so weitergeht, Bones“, zog Jim seinen besten Freund auf, nur um sich an McCoys entsetztem Gesichtsausdruck zu erfreuen.

„Ich und der Kobold? Nie im Leben. Ich muss immer noch jedes Mal den Drang bekämpfen, ihm seinen vulkanischen Hals umzudrehen.“

„Klar“, sagte Jim feixend, hakte sich unter Missachtung jedes Diskretionsabstands bei McCoy ein und zog ihn in Richtung der Kantine, wo Spock für eines ihrer traditionellen gemeinsamen Abendessen auf sie wartete.

~°~


Und Christine Chapel, die eventuell den ein oder anderen Teil des Gesprächs zwischen Spock und McCoy belauscht hatte, als sie damals zufällig an der Bürotür vorbeigekommen war, lächelte leise in sich hinein, wann immer sie die drei wie selbstverständlich gemeinsam die Krankenstation betreten oder durch die Gänge wandern sah.



[September 2016]
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