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One Voice

von Julian Wangler

Kapitel 2

Apathie – so hieß eines der schlimmsten Übel, wie Jean-Luc Picard wusste. Von einem gleichgültigen Gegner drohte mehr Gefahr als von einem, in dessen Herz das Feuer ehrlichen Hasses brannte.

Apathie: Sie erstreckte sich vor ihm, in endlosen Reihen lebloser Gesichter, die nicht nur aus Fleisch bestanden, sondern auch aus Metall und anderen künstlichen Substanzen. Reglose Körper – Hunderte, Tausende, Abermillionen – in einem grauen, eintönigen Meer, das keine Schönheit kannte, keine Kunst, keine Liebe, keinen Respekt dem Leben gegenüber. Hier gab es nur die bedingungslose Autorität, die alles und jeden mit Haut und Haaren verschlungen hatte.

Picard sah sich im Herzen des finsteren Reichs der Leblosen, umgeben von zahllosen Zellen an den Wänden, der Decke, im Boden. Man verlor in diesem Labyrinth jede Orientierung. In jeder Zelle ruhte aufrecht eine Kreatur und schlief traumlos.

Der Anblick erinnerte an einen urgewaltigen Bienenstock. Doch es erschien falsch, diese chaotische, gedankenlose Ansammlung von unverkleideten Leitungen und Schaltkreissystemen mit jenen Strukturen zu vergleichen, die von Bienen mit instinktivem Fleiß geschaffen wurden. Insekten mochten ohne Verstand sein, aber es steckte eine Seele in ihnen. Die Borg waren in gewisser Weise das Gegenteil: Jede Spur von Individualität war aus ihnen gelöscht worden, doch der Geist, der einen jeden von ihn erfüllte, war von einer eiskalten, alles erfüllenden Ratio ohne die geringste Spur von Mitgefühl.

Und er war erfüllt von grenzenlosem Hunger. Dieses Verlangen kannte keine Sättigung und keine Grenze. Es trieb sie voran, wollte immer mehr…

Diese Erkenntnis war es, die Picard veranlasste, sinnlosen Widerstand zu leisten, als ihn Arme aus Fleisch und Metall durch unwirkliche, unerträglich warme Korridore zerrten. Vorbei an Schlafenden, deren Persönlichkeit vor so langer Zeit ausgelöscht worden war, dass sie inzwischen verloren gegangen war in den Tiefen des kybernetischen Ungeheuers, das sie geschluckt hatte.

Als man ihn hinabdrückte und sein Kopf an den Operationstisch stieß, da schrie er, erfüllt von hilflosem Zorn. Oh ja, er war zornig, weil man ihm diesem erniedrigenden Schicksal auslieferte. Wie viel lieber wäre er gestorben, aber man schickte sich an, ihn jeder Würde zu berauben, ihm alles zu nehmen, was ihm je etwas bedeutet hatte. Seine Prinzipien, seine Freiheit, seine Selbstbestimmung, sein Ich. Und die Art und Weise, wie ihn dieser Gegner angesichts einer solchen Vergewaltigung behandelte, bestand in purer Gleichgültigkeit. Apathie: Wie sehr er ihnen auch Hass und Widerstand entgegenspie – es kümmerte die Borg nicht im Geringsten. Die Borg würden weitermachen mit dem, was sie unerbittlich vorantrieb, ohne dass sie jemand aufhielt.

Es folgte eine Zeit des Vergessens. Im Zentrum des endlosen Bienenstocks kam er wieder zu sich, umgeben von schlafenden Drohnen. Picard sah sich selbst, die Hälfte seines Gesichts kein lebendes Fleisch mehr, sondern ein monströser Fremdkörper aus summenden Schaltkreisen. Der nach außen gerichtete Teil seines Bewusstseins gehörte nicht mehr länger ihm, war vielmehr Teil des Schwarms, empfing Daten von den Sensorimplantaten in seinem Leib. Die Autorität knechtete ihn. Und jener andere, verbliebene, innere Teil, der sich immer noch mit dem Namen Jean-Luc Picard identifizierte, war gefangen in den Tiefen dieses Körpers. Er wand sich in Agonie, in diesem Gefängnis ohne Gitter und Mauern.

Er schauerte, als er seine Stimme hörte, verzerrt durch einen Vokalprozessor. Ich bin Locutus, ein Borg. Widerstand ist zwecklos.

Szenenwechsel. Picard starrte einer silbernen Nadel entgegen, die sich auf ihn herabsenkte und auf ein Auge zielte. Er lag auf dem Operationstisch, längst unter Kontrolle gebracht. Seine Verwandlung wurde fortgesetzt. Er ahnte: Früher oder später würde die leblose Maschine alles vom Menschen Verbliebene auslöschen – nicht weil sie den Menschen vollständig eliminierte, sondern weil sie in ihm das Bewusstsein nährte, dass die einzige Perspektive, die ihm noch blieb, Selbstaufgabe war.

Wenige Sekunden später stach ihm die Nadel der Sonde ins Auge. Er war längst unfähig, einen Laut von sich zu geben. Die Trance der Autorität, die ihn lenkte, hüllte ihn ein, gab ihm unerbittlich Anweisung, stillzuhalten, sich zu fügen.

Alles, was blieb, war eine Träne, die an seinem Augenwinkel entlang lief. Aus seinem Innern rief eine Stimme empor, doch es hörte ihn niemand mehr. Er schrie diesen Feind an, der zu gleichgültig blieb, um zu hassen. Und der dadurch praktisch unverwundbar wurde. Nun schickte er sich an, ihm alles zu nehmen.

Locutus…, sagte eine Stimme. Sie sagte es zum ersten, aber längst nicht zum letzten Mal. Es war eine besondere Stimme, die durch sein Selbst hallte. Locutus… Er ahnte, dass die Stimme ihm seinen Namen gegeben hatte. Die Stimme hatte es auf ihn abgesehen, auf ihn persönlich… Jetzt ergab alles einen Sinn. Locutus…



Er erwachte mit einem Gefühl drohenden Unheils – und mit einem verzweifelten, keuchenden Luftholen. In der Dunkelheit kämpfte Picard sich aus dem Bettlaken frei und stand auf. Auf geradem Weg bahnte er sich einem Weg zum Waschraum und hielt vor dem Spiegel inne.

Er beugte sich hinab. Kaltes Wasser strömte ihm in die gewölbten Hände, und er tauchte sein Gesicht hinein, um die Spuren blanker Panik fortzuwaschen. Immer wieder bespritzte er Stirn und Wangen, bis er ruhig atmete und es wagte, den Kopf zu heben und zu betrachten, was der Spiegel ihm zeigte.

Er zuckte leicht zusammen, als er im Schein des Leuchtstofffeldes sein Ebenbild erblickte. Einerseits sah er aus wie immer: glattrasiert, mit markanten, hageren Zügen und schimmerndem, kahlem Schädel. Und doch war etwas auf subtile Weise anders, auf subtile Weise…falsch. Sein Blick fuhr suchend über sein gespiegeltes Ich, forschte nach den Gründen für das unbestimmte Gefühl, dass er, nein, vielmehr seine ganze Welt, aus den Fugen geraten war.

Unterhalb seines linken Wangenknochens zuckte ein Stück Haut, ganz kurz nur. Die Bewegung war unscheinbar, kaum wahrzunehmen. Picard packte die Ränder des kalten Waschtisches und beugte sich langsam vor. Hatte er sich die Bewegung nur abgebildet? War sie ein Erzeugnis seiner Paranoia gewesen, ausgelöst von einem flüchtigen, halb vergessenen Traum?

Nein. Der Muskel in seiner Wange zog sich erneut zusammen, dann kräuselte er sich. Beunruhigt legte Picard eine Hand auf die Stelle und ertastete einen harten Gegenstand unter dem Fleisch; einen Gegenstand, der weder Zahn noch Knochen war, sondern sich irgendwie nicht menschlich anfühlte, sondern vielmehr wie ein Eindringling.

Seine Finger zitterten, als er sie zurückzog, und er versuchte erfolglos, sie zu beruhigen. Der Gegenstand fing an, sich auszudehnen, drückte hart gegen die Innenseite seiner Wange, gleich der Faust eines Kindes, das sich ihren Weg durch seine Haut erzwingen wollte.

Das Druckgefühl wurde immer stärker, bis es kaum noch zu ertragen war. Voller Grauen beobachtete Picard, wie sich seine Wange über jedes mögliche Maß hinaus dehnte – bis der harte, immer weiter wachsende Zylinder durch das Fleisch brach und sich aus seinem Körper hervorschob.

Erstaunlicherweise floss kein Blut. Nur ein einzelnes, heißes Aufblitzen von Schmerz durchzuckte Picard. Ein schlanker, silbrig glänzender Servomechanismus trat sternförmig hervor und reckte sich eine Handbreit in die Höhe…nur um wenige Zentimeter vor dem Spiegel innezuhalten. Es gab ein surrendes Geräusch, als ein winziger, rasiermesserscharfer Sensor sich öffnete…

In dieser einen Sekunde des bestialischen Schreckens entschleierte sich das Geheimnis der stummen Beklemmung, die er vorhin gefühlt hatte. Fragmente seines Traums kehrten schlaglichtartig zu ihm zurück: endlose Reihen metallischer, bienenwabenartiger Alkoven, in denen Assimilierte in geistloser Starre auf Befehle warteten; eine Operationskammer, von modernster Effizienz und doch grotesk mittelalterlich anmutend, an den Wänden künstliche Gliedmaßen, Augen, scharfe Sägen und brennende Laser aufgereiht…

Locutus… Diese Stimme, da war sie wieder. Er entsann sich blasser Lippen, die gebieterisch und zugleich verführerisch seinen Borg-Namen wisperten. So sehr er sich auch bemühte: Das entsprechende Gesicht blieb ihm verborgen. Nur eine Anmutung von Grauen strich über ihn hinweg, gefolgt von seltsamer Sehnsucht.

Schimmernde, metallische Finger klickten und bewegten sich nur Zentimeter von seinen Augen entfernt. Sie löschten sein Spiegelbild aus, dann seine Individualität. Im Spiegel starrte ihm plötzlich eine Drohne entgegen. Der rote Laser an ihrer veränderten Schläfe bohrte sich in seine Sicht, machte ihn schneeblind.

Was er sah, war seine Nemesis; das, was man aus ihm gemacht hatte, nachdem seine Seele ihm aus dem Leib gerissen worden und er umgekehrt worden war. Ein Monstrum, das Picard alle seine intimsten Geheimnisse entrissen und Tausende Sternenflotten-Offiziere zum Tode verurteilt hatte, während er all das miterlebte.
Locutus…



Sternzeit: 50885,3

20. November 2373

Das Geräusch – kaum mehr als ein gequältes Aufstöhnen – brachte ihn endgültig zu Bewusstsein. In dem kurzen folgenden Augenblick der Orientierungslosigkeit presste er seine Handfläche gegen die Wange, und zu seiner großen Erleichterung fand er dort nur menschliches Fleisch vor. Sein Atem ging flach und stoßweise. Er zwang sich dazu, langsam und tief ein- und auszuatmen und der Wirklichkeit zu erlauben, wieder die Herrschaft über ihn zu gewinnen.

Er lag in seinem Bett, und es war Nacht an Bord der Enterprise.

Schweißbedeckt richtete Picard sich auf und betrachtete die vorbeiziehenden Sterne im Fenster.

Der Traum beunruhigte ihn. Er hatte schon seit langer Zeit keine Gedanken mehr an die Borg verschwendet. Daher konnte er sich schon nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal bewusst die Schrecken seiner Existenz als der Mensch-Maschinen-Hybrid Locutus durchlebt hatte. Er verstand nicht, weshalb diese Erinnerungen gerade jetzt zu ihm zurückkehrten. Und noch weniger verstand er, wieso sie gerade diesmal solche eine verstörende Wirkung auf ihn entfalteten.

Deanna hätte ihm jetzt vermutlich gesagt, dass Traumata unberechenbar waren. Ging man davon aus, sie überwunden zu haben, kehrten sie schlagartig zu einem zurück und straften jedes Gefühl der Sicherheit Lügen.

Locutus…

Die Ahnung eines Wisperns drang an sein Ohr. Er horchte auf, hob den Blick zur Decke, drehte den Kopf nach rechts und links.

Nichts. Da war überhaupt nichts.

Picard biss sich auf die Zunge, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich nicht mehr träumte. Eine Weile saß er so da, in der Dunkelheit seines Quartiers, bis sein Herzschlag sich normalisierte.

Dann gestattete er sich, zurückzusinken und die Augen zu schließen, in der festen Absicht, all diese aus einem Traum entspringende Anspannung zu verdrängen und selbst noch ein wenig Schlaf zu finden, bevor seine Schicht begann.

Er atmete tief ein, entließ die Luft mit einem Seufzen und entspannte seinen ganzen Körper. Sein Geist sank hinab in die Ruhe…

Da war es wieder, das Wispern, zu leise, als dass er es hätte verstehen können.

Picard riss die Augen wieder auf. Diesmal wusste er, was er gehört hatte: Es war nicht eine Stimme, sondern ein schwacher, ferner Chor aus Tausenden, Abermillionen. Es war die Autorität, die ihn dereinst gelenkt hatte.

Und auf einmal ahnte Picard mit einer Sicherheit, von der er sich geradezu verzweifelt wünschte, sie nicht zu besitzen, dass er dem Flüstern des Kollektivs lauschte. Es war die Stimme der Borg.
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