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5x03 - Lay Down Your Burdens

von Julian Wangler

Kapitel 2

Erde, San Francisco

Die leisen Geräusche einer schlafenden Stadt.

San Francisco dehnte sich unter ihm aus, ferne Lichter schimmerten im Regen, verblichen um drei Uhr morgens im Nebel, lösten sich in Nichts auf. Dann und wann trieben die sich langsam bewegenden Positionslampen eines Flugwagens oder Shuttles vorbei wie ein Glühwürmchen in einer Nacht in Indiana.

Jonathan Archer saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und drehte gemächlich das Glas in der Hand. Ließ das andorianische Ale (ein nicht mehr ganz taufrisches Geschenk von Shran) wirbeln. Die Eiswürfel klirren. Die Töne verschmolzen mit dem leisen Trommeln der Regentropfen auf dem Fenster.

Er trank einen Schluck Ale. Fühlte, wie es in seiner Kehle brannte – gleichzeitig eiskalt und heiß wie Feuer.

In den grauen Wolken über ihm blitzten innere Entladungen. Der Donner kam. Rumpelte an ihm vorbei. Ließ das Fenster klappern.

Es war schon komisch, fand Archer. Trotz aller Bemühungen von Mensch und Maschine kam es immer wieder auf der Erde vor, dass sich unerwartet und ohne Vorwarnung ein Unwetter ereignete. So wie heute Nacht.

Archer gefiel das. Wer wollte schon in einer perfekten Welt leben? Perfektion bedeutete, dass es keine Herausforderungen mehr gab – weil niemand mehr einen Fehler zuließ. Nichts und niemand konnte mehr wachsen, sich entwickeln. Alles stand still.

Er hatte stets versucht, die Herausforderungen, die ihn mit seiner eigenen Fehlerhaftigkeit konfrontierten, anzunehmen, etwas daraus zu machen. Der Wunsch, zu lernen und besser zu werden als man war, hatte ihn angetrieben, seit er in die Fußstapfen seines Vaters trat, um das NX-Projekt zum Leben zu erwecken. Und er hatte danach gestrebt, als er schließlich mit der Enterprise in die unbekannten Weiten des Alls aufbrach.

Wenn er an diese Tage zurückdachte, dann erinnerte er sich an einen schier grenzenlosen Optimismus. Alles war möglich erschienen. Die Dinge waren so einfach und klar gewesen wie die Sterne, auf die man Kurs genommen hatte. Heute war alles sehr viel komplizierter geworden. So kompliziert, dass auch Jonathan Archer gelegentlich von Grübelei und Zweifeln heimgesucht wurde.

So wie heute Nacht.

Im Nachgang der letzten Terra Prime-Krise (die im Grunde genommen eine kombinierte irdisch-vulkanische Krise gewesen war, in denen die Romulaner einmal mehr die Fäden zogen) hatten sich die Dinge ein wenig zu sehr überschlagen. An Archer war der Wunsch herangetragen worden, den zurückgetretenen Außenminister Samuels bei den Koalitionsverhandlungen zu ersetzen. Diese Rolle beschränkte sich nicht bloß auf Gespräche mit den diplomatischen Delegationen hinter verschlossenen Türen, sondern beinhaltete auch, dass er – zusammen mit der Regierung – auf der Erde öffentlich um Unterstützung für dieses neue Großprojekt warb. Es fiel ihm zu, alles daran zu setzen, die Sorgen und Ängste, die in der Bevölkerung nach wie vor existierten, gezielt zu adressieren und mithilfe seiner Reputation Brücken zu schlagen.

Das Trauma von sieben Millionen Toten und die Demagogie von xenophoben, rassistischen Organisationen durften nicht zum Schrittmacher für die künftige Entwicklung der Menschheit werden. Diesbezüglich waren die zurückliegenden Wochen ein schwarzer Abgrund gewesen, in den sie alle miteinander hineingestarrt hatten. Terra Prime und alles, wofür es stand, verdiente es, vergessen zu werden. Es gehörte auf die Müllkippe der Geschichte, so wie schon über ein Jahrhundert zuvor Ideologien und Regime, die nach barbarischen Zielen gestrebt hatten. Doch um die Geißel dieser Kurzsichtigkeit und Rückwärtsgewandtheit endgültig hinter sich zu lassen, durfte die Menschheit sich nicht der kollektiven Amnestie hingeben.

Archer hatte die ihm zugedachte Aufgabe angenommen, weil er sich zutiefst verantwortlich fühlte für eine gedeihliche Zukunft seiner Heimatwelt – und weil er wusste, was für die ganze stellar Region auf dem Spiel stand. Und doch war er sich nicht sicher, ob er – für sich persönlich – den richtigen Weg eingeschlagen hatte.

Er hatte nie etwas mit der Welt der Politik zu tun haben wollen, die ihm immer etwas schmuddelig und unredlich vorgekommen war, und jetzt ging er in der Öffentlichkeit auf Werbetour, hielt zur besten Sendezeit irgendwelche hochtrabenden Reden und musste sich allenthalben mit der Regierung abstimmen. Schlimmer noch, er bekam per Protokoll mitgeteilt, was in seinen Ansprachen an die große Glocke gehängt werden sollte. Immerhin war es Archer gelungen, sich keinen Redenschreiber oder rhetorischen Berater aufbrummen zu lassen. Wenn er sich schon von Präsident Munroe und seinem Kabinett zum Paradegaul und Grußonkel machen ließ, dann wollte er wenigstens seine eigenen Worte verwenden dürfen.

Allerdings ahnte Archer, dass diese Aufgabe hier auf der Erde womöglich sehr viel länger und zäher sein würde als er anfangs gehofft hatte. Es gab unendlich viel zu tun. Sehr bald würde er in den Niederungen kleinteiliger Koalitionsverhandlungen stecken, und wer konnte schon sagen, was noch an Aufgaben auf ihn zukam? Hatte er wirklich die richtige Entscheidung getroffen, oder hatte er sich leichtfertig zu etwas breitschlagen lassen, das ihn auf kurz oder lang völlig von dem abtreiben lassen würde, was er für seine innere Berufung hielt? – Die Enterprise zu kommandieren.

Sein Leben lang hatte er um die Realisierung und den Start dieses Schiffes gekämpft. Alles hatte er diesem Traum untergeordnet – Hobbys, Freunde, Familie. Er war schließlich in Erfüllung gegangen, und seitdem war der Weg zum Ziel geworden. Alle Aussichten auf noch so verlockende Beförderungen wären nichts gewesen im Vergleich zu diesem Stuhl auf der Brücke der NX–01; jenes Schiff, das die Menschheit, samt den damit verbundenen Herausforderungen, zwischen die Sterne geführt hatte.

Die Enterprise war tatsächlich die Erfüllung geworden, die er sich so sehr herbeigesehnt hatte. Es war nicht bloß das Schiff und seine herausragenden Leistungen. Nichts davon, was erreicht worden war, wäre möglich gewesen ohne den besonderen Zirkel der Kameradschaft und Freundschaft, der an Bord entstanden war. Archer glaubte gerne von sich, dass er hier, im Kreise seiner Offiziere, zu einem besseren Menschen geworden war, so steinig manche Zwischenetappe auch gewesen sein mochte. Es war, als hätte er auf der Enterprise sein Schicksal gefunden. Seine eigene Tradition, nicht mehr die Fußstapfen seines Vaters, denen er lange Zeit nachgegangen war.

Und das war es wert, aufs Spiel gesetzt zu werden?

Der Deal war, dass Archer sein Sternenflotten-Patent behielt, um zu signalisieren, dass er nur eine temporäre Funktion ausübte, bis die Koalition zum Selbstläufer geworden war. Doch konnte man dem trauen? Was war, wenn er fließend in das Politikerleben hineinrutschte, ohne es selbst zu bemerken? Eines nicht allzu fernen Tages würde er womöglich schon ein am Schreibtisch lebender Botschafter sein. Und während er über Akten grübelte, würde er vielleicht gar nicht mehr wissen, was ihm abhanden gekommen war. Eine grauenhafte Vorstellung!

Hoshi hätte ihm wahrscheinlich für diese Gedanken den Kopf gewaschen. Sie hätte ihm vermutlich gesagt, er lebe zu sehr im Status quo. So hatte sie es ausgedrückt. Dass er unflexibel geworden sei für die Erfordernisse des Wandels, der notwendigen Veränderung. Sie hatte ihm vorgehalten, er würde ewig in der Gegenwart leben. War dem wirklich so? Er hatte sich doch darauf eingelassen, auf das verdammte Spiel mit der Hydra namens Politik. Aber er wollte die Weichen gefälligst so stellen, dass er eines Tages sein Schiff zurückbekam; dass er eines Tages den alten Traum weiterleben konnte. Würde ihm das vergönnt sein? Durfte man sich nicht festklammern an dem, wofür man brannte?

Es blitzte erneut. Von der Warte des Jonathan Archer sieht das alles vermutlich ganz einfach aus. Er muss nur den Status quo aufrechterhalten. Denn der Status quo ist das, was er als sein Schicksal begreift.

Hoshi. Natürlich. Der Streit mit ihr im letzten Monat. Seither hatten sie nie wieder miteinander gesprochen. Dabei hatte er es doch vorgehabt.

Archers Zweifel wuchsen. War es denn falsch, dass er so verbissen an der Enterprise festhielt? An seinem Zuhause, an seiner…Familie? Teilten seine Leute überhaupt seine Sichtweise? Würden sie es nicht begrüßen, wenn die Dinge weitergingen, wenn sie neue Wege einschlugen? Empfand nur Archer so, dass er das Erreichte unbedingt bewahren wollte?

Zurzeit standen die Chancen nicht schlecht, dass sich diese Thematik ganz von allein erledigte. Ja, es war möglich, dass er irgendwann auf die Enterprise zurückkehrte, um sie wieder zu einer Langzeitmission hinauszuführen. Aber so wie die Dinge derzeit aussahen, würde die Führungsmannschaft nicht mehr dieselbe sein.

Wie ein Damoklesschwert hing die Auflösung seiner Brückencrew über ihm, und es mochte sein, dass sie wesentlich früher erfolgte als man ihm die Enterprise ganz offiziell wegnehmen konnte. Und was war dieses Schiff schon ohne das, was es lebendig machte? Vielleicht nicht mehr als ein hoch entwickeltes Stück Technik mit einem Warp-fünf-Triebwerk.

Malcolm schien vorübergehend stabilisiert. Seit Archer ihn in seinem Quartier aufgesucht und eine ehrliche Diskussion über die vergangenen Fehler seines Sicherheitschefs im Hinblick auf seine geheime Arbeit für Harris geführt hatte, schien Malcolm eine Last von Schultern gefallen. Archer hatte ihm gesagt, dass er ihn nicht gehen lassen wolle. Nichtsdestoweniger war er sich nicht hundertprozentig sicher, wie Malcolm sich letztendlich entscheiden würde. Er hatte ihn kennen gelernt als jemanden, der nicht selten zu hart mit sich selbst ins Gericht ging. Darauf hatte selbst ein kommandierender Offizier nur begrenzten Einfluss.

Einfluss… Er schien ihm bei Hoshi völlig entglitten zu sein, und das höchstwahrscheinlich aus eigenem Vergehen. Weshalb hatte er sie unter Druck gesetzt, die Enterprise nicht zu verlassen, das einmalige Beförderungsangebot nicht wahrzunehmen? War das nicht sehr egoistisch von ihm gewesen? Wenn er im Nachhinein darüber nachdachte, erkannte er sich selbst nicht mehr. Und doch gab es einen Grund für sein Verhalten: einen unbedingten Glauben daran, dass dieses Schiff die Zukunft nicht mehr bestreiten konnte, wenn der Zirkel an der Spitze auseinanderbrach.

Allem voran galt das für T’Pol. Er hätte nie geglaubt, dass er einmal so von einer Vulkanierin denken würde… In den vergangenen vier Jahren war T’Pol seine engste Beraterin und sein Gewissen geworden, immer mehr. Die Enterprise ohne sie zu befehlen, diese Vorstellung befremdete ihn zutiefst. Aber jetzt kam es noch schlimmer: Sollte es eines Tages wirklich dazu kommen, dass er sein Kommando abtreten musste, konnte er nicht einmal mehr auf ihr Erbe hoffen. Denn die Zukunft seines Ersten Offiziers war mindestens genauso ungewiss geworden wie seine eigene.

Sie hatte einen bis heute unerklärlichen Wutanfall bekommen, der darin gipfelte, dass sie den vulkanischen Renegaten V’Las mit bloßen Händen erwürgte. In der Zwischenzeit hatte Archer des Öfteren mit ihr gesprochen, und immer wieder versicherte sie ihm in einer schier unumkehrbaren Verstörtheit, sie sei nicht Herr ihrer Sinne gewesen, etwas habe sie gesteuert. Etwas Fremdes in ihr. Obwohl sich das vage und geradewegs fantastisch anhörte, wollte Archer ihr glauben. Andererseits waren T’Pols kürzliche Verluste nicht zu verleugnen, ganz zu schweigen von ihrer ebenso schlagartigen wie fadenscheinigen Verbannung von Vulkan. Das alles mochte ihre mörderische Tat erst katalysiert haben.

Diese Erklärung mutete verlockend einfach an. Wie viele Belastungen konnte eine Person wegstecken, und wann zerbrach man? T’Pol hatte zweifellos zu viele schwere Einschnitte in zu kurzer Zeit erlebt. Zuerst die Trelliumvergiftung, die sie in Mitleidenschaft zog. Der Verlust von T’Les. Dann der Tod der kleinen Elizabeth. Mochte sie auch ein illegaler Klon gewesen sein, war sie doch ihre und Trips Tochter gewesen…

Ich hätte mehr bei der Sache sein müssen. Archer hatte zu spät begriffen, dass er T’Pol niemals hätte allein zu V’Las in die Brig gehen lassen dürfen. Als einstiger Administrator war er unmittelbar für den Tod ihrer Mutter verantwortlich gewesen; er hatte den Befehl gegeben, das T’Karath-Heiligtum zu bombardieren. Was musste alles in ihr wieder hochgekommen sein, als sie ihm gegenüberstand!

Dennoch suchte Archer nach wie vor auch nach einer möglichen Erklärung jenseits von T’Pols traumatischen Erfahrungen und Verlusten. Seit seinem eigenen Erlebnis mit Suraks Katra hatte er gelernt, dass das vulkanische Wesen ausgesprochen geheimnisvolle Seiten barg, weit komplexer war als die Psyche der allermeisten Menschen. Nach einer solch alternativen Erklärung zu suchen, ergab sich bereits aus seinem bedingungslosen Vertrauen und seiner Sympathie für T’Pol. Er schuldete es ihr, auch wenn er zugebenen musste, dass er in dieser Angelegenheit kaum weiterkam.

Gleichwohl stand er nicht über den weltlichen Gesetzen. Er konnte sich in ihrem Rahmen nur mit ganzer Kraft für seinen Ersten Offizier einsetzen. Die Vernehmung T’Pols vor dem Militärtribunal der Sternenflotte hatte ihn in zurückliegenden Wochen neben seinen eigenen politischen Aufgaben zeitlich stark gefordert.

Da die Überwachungskameras des Enterprise-Arresttrakts, bedingt durch einen Überlastungsimpuls im Gefolge des romulanischen Beschusses, so wie viele andere Systeme ausgefallen waren, fehlte ein entsprechender Videobeweis für T’Pols Tat. Jedoch hatte die Obduktion von Doktor Phlox ergeben, dass V’Las an einer massiven Quetschung der Luftröhre gestorben war. T’Pols Fingerabdrücke ließen sich am Hals des Opfers nachweisen. Hinzu kam ihr eigenes, unbestrittenes Geständnis, V’Las getötet zu haben.

Archer hatte die Rolle von T’Pols Verteidiger übernommen (so etwas war nach den Statuten der Sternenflotte bislang erlaubt). Als solcher hatte er mehrfach erklärt, angesichts der Verwerfungen während der letzten Mission der Enterprise gebe es keinen eindeutigen Beweis, was genau zwischen T’Pol und V’Las vorgefallen war. Er verwies immer wieder auf T’Pols prekären psychischen Zustand sowie auf das, was V’Las‘ Befehl ihrer Mutter angetan hatte. Im Ganzen bekam T’Pol am Ende mildernde Umstände zugesprochen. Dies hing gewiss auch mit dem enormen Vorrat an Verdiensten zu zusammen, den sie im Namen von Erde und Sternenflotte angehäuft hatte und über die die Richter nicht hinweggehen konnten. Abgesehen von einem Eintrag in ihre Dienstakte, einer vorübergehenden Sperrung ihres Offizierspatents und einer Degradierung zum Lieutenant Commander war sie glimpflich davon gekommen.

Auch hatte Archer die vehementen Forderungen der vulkanischen Regierung, T’Pol auszuliefern, abgeschmettert, und zwar einerseits mit ihrem Austritt aus der vulkanischen Raumflotte und zweitens mit ihrer Exklusion, durch die sie doch eigentlich keine vulkanische Staatsbürgerin mehr sei und nicht länger vulkanischer Gerichtsbarkeit unterliege. So war nur V’Las’ Leichnam nach Vulkan zurückgeschickt worden.

Bis zu diesem Punkt hatte Archer also sein Versprechen eingelöst, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um sie zu protegieren. Darüber hinaus, ahnte er, war es jetzt T’Pols Angelegenheit, mit was immer sie plagte ins Reine zu kommen. Seine Hoffnungen ruhten diesbezüglich auf Trip. Wenn es ihm nicht gelang, zu ihr durchzudringen, dann niemandem. Viel Glück, alter Junge…

Irgendwie erinnerte er sich an etwas, das er T’Pol vor einer Weile gesagt hatte: Ich kann nicht versuchen, die Menschheit zu retten, ohne an dem festzuhalten, was mich menschlich macht. Was ihn menschlich machte, was ihn nach mehr streben ließ als er war, waren seine Freunde. Das war die Antwort. Deshalb war er auch Hoshis möglichem Weggang auf die Challenger gegenüber so negativ eingestellt. Ohne dieses Band der Vertrautheit und Freundschaft, das ihn zugleich beflügelte und erdete, wäre so etwas wie die Koalition vielleicht nie in den Bereich des Möglichen gerückt. Weil er weder die Energie noch die Inspiration dazu besessen hätte.

Für die Zukunft galt das zumal: Wie konnte er die Kraft finden, eine interstellare Allianz zu schmieden und der Menschheit ein neues Bewusstsein über Interspezieskooperation einzuhauchen, wenn ihm die Quelle dieser Kraft versiegte? Seine geistige Heimat. Seine Familie.

Jonathan Archer ertappte sich dabei, wie er sich fürchtete, am Ende allein zu bleiben, obwohl er vielleicht von so vielen Leuten wie nie zuvor umringt war.

Ein weiterer Blitz gleißte. Der Donner würde kommen.

Im kurzen Lichtschein wanderte Archers Blick zum Schemen des geöffneten Briefes, der nach wie vor auf dem Tisch lag. Darin ging es um die Farm. Er hatte sie eigentlich ganz vergessen. Die Anwälte, die den Nachlass seines Onkels verwalteten, bedrängten ihn, eine Entscheidung zu treffen, was mit der Archer–Farm geschehen sollte. Aldus war kinderlos geblieben, und nun lag es an Archer, darüber zu befinden. Aber der Papierkram, der mit dieser Entscheidung zusammenhing, war gewaltig, und man war ihm dermaßen auf die Nerven gegangen, dass er jeden Wunsch verdrängt hatte, sich überhaupt damit zu befassen. Und wie es nun mal war, kamen solche Dinge zur völligen Unzeit zurück. Nun ließ man Archer wissen, dass man seine verbindliche Entscheidung bis zum Ende des nächsten Monats erwartete. Er würde sich also bald nach Indiana begeben müssen.

Archer erhob sich und trat näher ans Fenster, starrte hinaus in die Nacht, auf der Suche nach Antworten.

Vielleicht hatte er die Beschäftigung mit der Farm-Angelegenheit so lange von sich weggeschoben, weil er sich etwas davor fürchtete, dorthin zurückzukommen. Vor den Erinnerungen, die wieder an die Oberfläche stießen.

Tango… Archer sah das Gesicht eines Pferdes, das der junge Jonathan hingebungsvoll geliebt hatte. Der Blick in den Augen des Tieres, dem auch der Veterinärarzt nicht mehr helfen konnte. Ebenso wenig wie die Medizin des 22. Jahrhunderts einige Monate zuvor seinen Vater hatte vor dem Clarke-Syndrom bewahren können. Das war es. Der Tod des Pferdes und die Art, wie es gestorben war, hatte in seiner Erinnerung eine direkte Verbindung zu seinem Vater.

Das Pferd hatte schwach ausgetreten. Herzzerreißend tapfer versucht, sich ein letztes Mal zu erheben. Es hatte irgendwie gewusst, wenn es nur noch ein letztes Mal aufstehen konnte, würde der Mann mit dem Gewehr gehen, und alles würde so sein, wie es früher war. Während Tränen sein Gesicht hinabströmten, hatte der junge Jonathan am Zaumzeug des Pferdes gezogen, verzweifelt versucht, es zu bewegen, sich zu erheben. Ein letztes Mal. Aber die Zeit ließ sich nicht zurückholen. Tango hatte es nicht geschafft.

Es blitzte in seinem Innern. Das Bild, als Onkel Aldus den kurzen Lauf des Lasergewehrs gehoben hatte, um zum Gnadenschuss anzusetzen… Der zwölfjährige Junge war vollkommen machtlos gewesen. Er konnte sich nur mehr an die Augen des Pferdes erinnern; diese vollständige Kapitulation, diese grauenvolle Hoffnungslosigkeit… Jonathans Mutter hatte ihn sanft davon gezogen und seinen Kopf weggedreht, ihn gezwungen, nur sie anzusehen. Kurz darauf hörte er das leise Knallen des Lasers. Das letzte leise Flüstern des Pferdes, als…

Archer zuckte unter einem erneuten Lichtschein zusammen und warf einen Schüttelfrost von sich. Eine Flut von Adrenalin schoss durch seine Adern.

„Komm wieder ins Bett, Jonathan.“

Erika. Er hatte sie gar nicht kommen hören. Auch hatte er einen Moment ganz vergessen, wo er sich befand. Es war ihre Wohnung. Wohin er immer zurückkehrte, wenn beide auf der Erde waren. Sein sicherer Hafen. Sein Raumdock.

Erika Hernandez legte eine Hand an Archers Taille, kuschelte sich unter seinen Arm und beobachtete gemeinsam mit ihm die schlafende Stadt.

Archer sah im Fenster ihre Spiegelbilder. Das Lächeln wurde echt. Die Captains der ersten zwei NX–Flaggschiffe, nichts weiter als Zivilisten mittleren Alters in Frotteebademänteln.

Dann, in einem plötzlich aufzuckenden Blitz, sah er Erika und sich, wie sie gewesen waren, vor vielen Jahren. Teenager. Fast mutete es wie ein anderes Leben an. Voll so vieler Träume, so vieler Versprechen, war er gewesen. Wie T’Pol sagen würde: so vieler Möglichkeiten.

Doch so schnell, wie der Blitz verblich, floh auch wieder ihre Jugend.

Eine weitere Minute lang standen sie schweigend da. Weit entfernt pulsierten die Flugverkehr–Warnlichter der (nach dem Bombenanschlag mittlerweile wieder instandgesetzten) Golden Gate Bridge schwach durch den Nebel.

Erika schmiegte sich gegen seine Schulter. Dann drehte sie ihn zu sich um, sah ihn in der Düsternis ihrer Umgebung an, beugte sich vor und küsste seinen Hals. „Komm wieder ins Bett.“, wiederholte sie, müde und sehnsüchtig, und nahm seine Hand.

„Bin gleich bei Dir.“, versprach er.

„Einen Credit für Deine Gedanken.“, hörte er sie nach einigen Sekunden sagen. „Es ist eigentlich ganz einfach.“

Er wandte sich zu ihr um. „Was ist einfach?“

„Die Frage, die Du Dir stellen musst. Sie lautet: Was willst Du, Jonathan Archer? Nur das zählt.“

Erika ließ es dabei bewenden, nickte und ging zurück ins Schlafzimmer. Archer sah ihr nach und drehte sich dann erneut zum Fenster.

Weitere Blitze. Weiterer Donner.

Was willst Du, Jonathan Archer? Was wollte er denn? Nachhause. Einfach nur nachhause. Am liebsten die Zeit zurückdrehen. Die Kompliziertheit abstreifen, die von seinem Leben Besitz ergriffen hatte. Er wollte wieder die Sterne erforschen. Er wollte…frei sein, lächeln. Dem Wind vertrauen… Aber das ging nicht mehr. Nicht heute, vielleicht ging es nie wieder.

Seitdem er an Bord der Enterprise gegangen war, hatten sich ständig Veränderungen und Umwälzungen ergeben. Das hatte in der Natur der Sache gelegen. Aber nie hatte er ernsthaft befürchten müssen, das Fundament zu verlieren, das ihn ausmachte. Oder all das, was er im Laufe der Zeit auf der NX-01 gewonnen hatte.

Heute war alles sehr viel komplizierter geworden, geradezu unberechenbar. So viele Variable, so viele Probleme, die an ihm zogen und zerrten und ihn innerlich und äußerlich zu zerreißen drohten. Das Herz war ihm schwer geworden. Verlustängste trieben ihn um. Und doch musste er den Pflichten gerecht werden, die unweigerlich auf ihn zukamen. Im Interesse der Erde und weit darüber hinaus.

Archer goss sich noch ein Glas Ale ein und nahm wieder Platz. Sah wieder in die Nacht. Irgendwann brach die Erschöpfung über ihn herein, und er verschwand im Schlafzimmer, wo Erika bereits schlief. Er legte sich zu ihr und schloss die Augen.

Es regnete die ganze Nacht.
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