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Day of Confession (Teil 2)

von Julian Wangler

Kapitel 1

2351

Jean–Luc Picard rannte. Er wusste, er war spät dran, und wenn es etwas gab, das er nicht nur von sich, sondern auch von anderen Leuten erwartete, dann war es Pünktlichkeit.

Dieser Zug gehörte zu seinem Wesen. Sein Leben lang war er pünktlich gewesen. Er war es sogar dann gewesen, wenn die höheren Umstände ihn daran erinnerten, dass er nur scheinbar pünktlich war.

So wie bei jener denkwürdigen Hochzeit, die sich am heutigen Tag zum dritten Mal jährte und deren Erinnerung noch in ihm vorglühte, als wäre sie schiere Gegenwart.

In der Zwischenzeit war dennoch viel geschehen. Beverly, Jack und er waren zu einem richtigen Trio geworden, das, wann immer es ging, Zeit zusammen verbrachte, mehr und mehr spontan. Obwohl diese starken Gefühle nach wie vor ungelöst waren, hatte Picard in den zurückliegenden Wochen und Monaten kleine Schritte der Erleichterung vernommen. Beverly gegenüber zu treten oder sie in den Armen seines besten Freundes zu sehen, fiel ihm nicht mehr so schwer wie früher. Das befand er als hoffnungsvolles Zeichen.

Deshalb hatte er auch eingewilligt, als Beverly ihn heute Morgen anrief und fragte, ob er mit ihr eine Runde lief – mit ihr allein, habe Jack doch noch einen dringenden Termin bei einem Commodore im Hauptquartier einzuhalten. Normalerweise gingen sie einmal im Monat, vorzugsweise an einem Sonntag, gemeinsam joggen. Das ließ sich zurzeit einrichten, da die Stargazer aufgrund längerfristiger Verpflichtungen im Föderationsinnern relativ häufig in den irdischen Hafen einlief. Bei jedem ihrer Joggingausflüge machten sie zumeist auf dem Rückweg in einer Bar Halt und tranken noch etwas.

Diesen Zwischenstopp würde es heute indes nicht geben, denn gleich nach der Rückkehr mussten sie sich schick machen und anschließend die Tram erwischen. Ein reservierter Tisch wartete für Punkt dreizehn Uhr in Westeuropa auf sie. Picard würde Beverly und Jack vor Eiffelturm und prächtiger Pariser Kulisse anlässlich ihres Jubiläums zu feinem Essen ausführen. Wie der Trauzeuge, der er vor drei Jahren war, würde er vor dem berüchtigten siebten Jahr warnen und beiden auf die Schulter klopfen. Das würde seine Art sein, mit dem Thema umzugehen, wieder einmal. Es war normal geworden, dass diese Frau so nah und doch so unerreichbar fern für ihn war.

Das Etablissement hatte er ganz bewusst ausgewählt. Es war das Café des Artistes – der einzige Ort, an dem er einmal in seinem jüngeren Leben nicht pünktlich gewesen war. Am 9. April 2342, vor über neun Jahren, hatte er die Verabredung mit Janice Manheim, nicht wahrnehmen können, weil etwas dazwischen gekommen war. Irgendwie verhieß diese spezifische Erinnerung im Zusammenhang mit seiner verschwiegen Leidenschaft für Jacks Frau einen subtilen Trost. Denn sie sagte etwas aus: Selbst Jean–Luc Picard konnte, trotz aller noblen Vorsätze, eben nicht immer zur rechten Zeit am rechten Ort sein.

Heute jedoch schon. Es war genau halb neun, als er den üblichen Treffpunkt erreichte – einen Waldrand außerhalb von New York. Überall glänzte noch frischer Tau auf den wilden Blumenfeldern, und Beverly, in hautengem Jogginganzug und mit hochgestecktem Haar, erwartete ihn bereits.

Picard versuchte, nicht überrascht zu sein, da sein Blick sie streifte und stärker beeinflusste als er erwartet hatte. Dabei hatte er Beverly des Öfteren schon in dieser Montur gesehen, und doch gab es einen wesentlichen Unterschied: Jack war nicht hier. Die Blicke, die er ihr nun zuwerfen konnte, mussten nicht mehr von doppelter, sondern nur noch von halber Scheuheit sein, wenngleich er überzeugt war, nicht mehr preiszugeben als sonst auch.

„Guten Morgen, Jean–Luc.“, sagte Beverly. „Jack tut es wahnsinnig Leid. Er hat den Termin bei Commodore Peterson ganz vergessen. Heute früh ist es ihm wieder eingefallen.“

Picard bedachte sie mit einem schmalen Lächeln. „Wir werden eben nicht jünger. Ich habe ihm ja geraten, er soll eine Strichliste führen. Es ist kein Problem. Wir müssen heute ohnehin eine kürzere Runde laufen, wenn wir rechtzeitig in Paris sein wollen.“

„Ein Rendezvous zu dritt in der Stadt der Liebe.“, schwärmte Beverly. „Gefällt mir. Ich weiß, es klingt schändlich, aber ich war noch nie in Paris. Würdest Du uns ein paar schöne Ecken zeigen?“

„Ein kleiner Bogen um die Seine, ein Besuch in Notre Dame und im Louvre, eine Promenade über die Champs–Élysées…“, zählte er auf. „Ist bereits fester Bestandteil des Programms. Einschließlich einer Rast im Le Grand Colbert nach Sonnenuntergang.“

„Also wirklich…“ Beverly kicherte vor lauter Vorfreude. „Dich muss man einfach lieben, Jean–Luc.“

Und Dich erst…

„Wollen wir?“

Beverly nickte. Gemeinsam liefen sie los, dem Pfad entlang, der in den Wald führte.

Er war frohen Mutes zu ihr gekommen, und zu Anfang sah es gut aus. Das Training verlief so wie immer, obwohl nicht so schnell ein Witz gerissen wurde, wie es der Fall war, wenn Jack mitkam. Ansonsten schien diese Premiere eine behutsame, erleichternde und ihn bestärkende zu sein.

Dann geschah etwas, das sonst niemals passierte – er bekam Seitenstiche. Sie waren gerade einmal ein paar Minuten unterwegs. Für gewöhnlich beflügelte ihn dieser frische Kiefernduft. Umso eigenartiger schien das, was ihn nun plagte. Atmete er nicht richtig? Es war ihm gar nicht aufgefallen, doch die Beschwerden waren schleichend gekommen und hatten mittlerweile die Schwelle der Erkennbarkeit überschritten. Er wurde nervös und verkrampfte sich. Diese Veränderung zum Unangenehmen vollzog sich binnen Sekunden.

Ist es möglich, dass ich mich getäuscht, es auf die leichte Schulter genommen habe, mit ihr allein zu sein?

Bislang hatte er es gemieden, sie großartig anzusehen. Dann wandte sie zufällig den Kopf in seine Richtung, und noch gelang es ihm, die in ihm aufsteigenden Qualen unter die Oberfläche eines platonischen Lächelns zu verbannen.

Als sie seinen Ausdruck erwiderte, stieg es ihm schlagartig wieder zu Bewusstsein: Er hatte sich geirrt. Sie raubte ihm immer noch den Atem, und er konnte rein gar nichts dagegen unternehmen.

Jacks ansonsten übliche Anwesenheit war wie eine schützende Membran, die ihn umgab. Dadurch war es ihm leichter, einen geistigen Sicherheitsabstand zu wahren.

Nicht so heute. Ausgerechnet an diesem verflixten Tag.

Sie liefen weiter. Ein innerer Drang nötigte ihn, immer wieder den Kopf nach ihr zu drehen. Unauffällig, forschend, betört. Er ging sicher, dass sie es nicht bemerkte.

Die Art, wie sich ihr kastanienfarbenes Haar beim Laufen verwirbelte, wie es das makellose Gesicht mit den hohen Wangenknochen umrahmte und ihre Augen noch mehr zur Geltung brachte… Die Weise, mit der sie sich fortbewegend, alles in einem geschmeidigen, überweltlichen Fluss…

Picard spürte, wie ihm die Kontrolle entglitt. Nur die Scham überwog die Hingabe an Beverly Crusher; sie war sein Rettungsanker.

Du leistetest einen Schwur., tadelte er sich. Was für ein Waschlappen Du bist, Jean–Luc Picard! Er durfte sich nichts anmerken lassen.

Der Moment der erbarmungslosen Stille verstrich endlich. Es ging ihm schon etwas besser, als er bemerkte, wie Beverly in der Andeutung, etwas sagen zu wollen, sich räusperte. „Weißt Du, was mir noch eingefallen ist, Jean–Luc?“

Seine trockenen Lippen teilten sich, während er leise ausatmete. „Was denn?“ Immer noch kämpfte er gegen das Stechen an.

„Vielleicht ist es möglich, dass wir noch einen Abstecher machen, und zwar zum Musée de… Musée de…“ Der Name schien ihr entglitten zu sein.

„Musée de Jeu de Pomme?“, mutmaßte er.

„Ja, so hieß das glaube ich. Ich habe gelesen, da soll es eine fantastische Ausstellung über…“

Es gab einen Rutsch nasser Erde. Mit einem Mal brach ihm der Boden unter den Füßen weg. Er stürzte in finstere, nach Waldhumus riechende Tiefe, Beverly unmittelbar neben ihm. Der Fall würde enden, kaum er hatte er ihn realisiert, ein paar Meter tiefer. Niemand von ihnen hatte darauf geachtet, dass sie ein Stück vom Weg abgekommen waren, auf eine halb verdeckte Erdgrube zuhaltend.

Durch das schummerige Licht erkannte er die Konturen eines kantigen Steins, auf den Beverly zuhielt. Irgendwie hatte sie ihn überholt und sich vor ihn geschoben.

Picard vergaß alles andere und handelte instinktiv. Hart schlugen sie beide auf und ächzten im Gleichklang, als ihnen die Luft aus den Lungen gedrückt wurde.

Sekunden der Desorientierung verstrichen, und Erdbrocken rieselten über sie hinweg. Direkt unter Beverlys Kopf befand sich der spitze Stein.

Und dazwischen Picards schmerzende, aufgerissene Hand.

Sie öffnete langsam die Augen und starrte ihn verwundert an, der er, nur Zentimeter von ihrer Nasenspitze entfernt, weithin über ihr lag, jedoch darauf geachtet hatte, sie nicht durch sein eigenes Gewicht zu verletzen. Locken hatten sich in ihrem feinen Gesicht verfangen. Sie entfernte sich einen Haufen widerspenstiger Strähnen.

„Bist Du… Bist Du verletzt?“ Noch immer rang er um Atem wie ein pubertierender Junge nach dem ersten Geschlechtsakt. Wenigstens war es dieses Bildnis, das ihm vor dem geistigen Auge schwirrte.

Ein verräterisches Bildnis.

„Nein, es geht mir gut.“

So nah war er ihr noch nie gekommen.

Picard hätte am liebsten kapituliert. Doch der Kampf ging weiter. Er ging immer weiter.

Und so konnte er nur verlieren.



2379

Jean–Luc Picard rannte. Er rannte, obwohl er wusste, dass sein eiliger Schritt nichts mehr an den grausamen Fakten ändern würde. Diesmal nicht, ganz gleich, wie sehr er sich auch anstrengte.

Sein Leben lang war er schnell gerannt, um immer der Erste zu sein. Noch etwas schneller, um den eigenen Ansprüchen zu genügen. Doch das alles war in diesem einen Augenblick, der sich vor ihm wie der Schlund der Verdammnis selbst auftat, nichtig, ja vergänglich geworden. Es würde nichts mehr daran ändern, dass er zu spät gekommen war.

Zu spät, um sein Leben neu beginnen zu lassen. Um es wirklich beginnen zu lassen.

Die Würfel waren gefallen, und das mit unumstößlicher Gewissheit. Picard vergegenwärtigte sich der Realität, an der es kein Vorbeikommen gab. Jetzt nicht mehr.

Er befand sich auf Arvada III, und seine Lungen brannten vom atemlosen Lauf. Er spürte, wie ihm das Alter in den Knochen saß. Eigenartig war das. Vor wenigen Wochen hatte es noch gereicht, um Horden von Remanern und schließlich seinen bösartigen Klon Shinzon zu bezwingen. Vielleicht war es also gar nicht wirklich die körperliche Kraft, die ihm abhanden gekommen war.

Wohl mehr die Jugend. Die Jugend in einem Sinne, der bewirkte, dass man im Herbst seiner Tage resignierte und sich in die Rolle des alten Mannes fügte. Ersatzlos. Hoffnungslos. Das Morgen würde nichts Erstrebenswertes mehr für ihn bereithalten. Die Vergangenheit war jetzt sein bester Freund, denn die Gegenwart war eisig und die Zukunft ängstigte ihn. Am liebsten wollte er zurück in sein Refugium, dort alles Echtgewordene von sich werfen und vergessen. Doch er konnte nicht.

So fühlte es sich an, Jean–Luc Picard zu sein.

Geschosse zischten. Kurz darauf explodierte der Boden hinter ihm, immerzu dichter. Dieser Umstand deutete nicht nur darauf hin, dass die Verfolger aufgeholt hatten. Sie hatten nun auch das nötige Maß an Entschlossenheit gefasst, um gegen die unerwünschten Eindringlinge vorzugehen.

In einem zurückliegenden Krieg hatten die Tzenkethi schon einmal bewiesen, dass sie kaum Gnade kannten. Irgendwie bezweifelte Picard, dass sich daran etwas Grundsätzliches geändert hatte.

Alles Schlechte bleibt, und alles Gute versiegt. Es war ein fatalistischer Gedanke, der an seinem mentalen Gestirn entflammte. Und so haben wir tausend Sinne für Schmerz und Leid, hingegen bloß fünf für die Freude.

Guinan war nicht da, um ihm etwas Weises darauf zu entgegnen, das ihn wieder aufbaute.

Er rannte weiter. In diesem Spießroutenlauf über Hänge und Hügel steckte keine Leidenschaft mehr. Nicht mehr so wie in früheren Tagen, da er gerannt war und gekämpft hatte, weil er etwas Nobles hinter jedem fernen Stern vermutet hatte – und hinter jedem neuen Jahr, das das alte ablöste. Damals schien es ihm tatsächlich, als ließen sich Himmel und Erde bewegen. Jetzt war alles nur noch fest, grau und kalt.

Es ging nur noch ums Überleben, ebenso wie es um die Pflicht ging: Beverly zurück ins Gebiet der Föderation zu schaffen, so schnell wie irgend möglich. Er spürte deutlich, dass ihr seine Anwesenheit unangenehm war, doch war er nicht den weiten Weg gekommen, um ausschließlich an sich zu denken.

Er liebte sie. Mit dieser Erkenntnis hatte er sich vor langer Zeit abgefunden: An seinen Gefühlen für sie würde sich nie etwas ändern. Daher musste er sie in Sicherheit bringen – unwichtig, ob sie nun unerreichbarer denn je für ihn geworden war, und nur deshalb, weil er tatsächlich den Chronometer aus dem Blick gelassen hatte.

Den Chronometer der guten Gelegenheiten. Den Chronometer, der anzeigte, wann es etwas wert war, sich für eine gute Sache ins Ungewisse zu stürzen.

Die Wahrheit wog schwer: Er hatte versäumt, versäumt bis hierher, all den langen Weg. Und deshalb lag die Ironie darin, dass er am höchsten verlor, als er für einen kurzen Moment tatsächlich bereit gewesen war, alte Grenzen zu sprengen, sich zu ihr zu bekennen.

Beverly, er schien sie wirklich verloren zu haben. Das Letzte, was er ihr von seinem entrückten Standpunkt schuldig war, war sie zu schützen und ihr das Beste zu wünschen, wenn sie ohne ihn weiter zog.

Aber bis dahin galt es, mit der vorherrschenden Situation Vorlieb zu nehmen. Das nahm sich alles andere als einfach aus. Der Mann, den er die ganze Zeit über auf sich stützte, war nicht irgendwer.

Ihn so aus unmittelbarer Nähe zu sehen… Das Alter hatte auch Jack Crusher umfangen wie ein feines, knitteriges Tuch. Beverly und Charlie Poes hatten ihn durch einen Zufall als Gefangenen der Tzenkethi auf Arvada gefunden und ihn aus seiner Zelle herausgeholt. Man hatte seinen Körper beträchtlichen Torturen ausgesetzt.

Warum wohl? Empfanden die Tzenkethi Freude, ihn so zu quälen? Oder gab es etwas, dass sie von ihm hatten in Erfahrung bringen wollen? Was war es gewesen, dass Jack Crusher, seinen alten Freund, nach Arvada geführt hatte?

Seit Picard Beverlys Gruppe begegnete, war kaum Zeit für einen Wortwechsel geblieben – oder um sich an die seltsame Konstellation zu gewöhnen, die sie zu viert nun abgaben. Jetzt liefen sie erst einmal um ihr Leben.

Gleich mehrere Patrouillen stürmten ihnen mit großen, polternden Schritten hinterher. Wie sie aufgeflogen waren, wusste Picard immer noch nicht. Aber es spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Wenn sie nicht rechtzeitig die Shuttles erreichten, waren sie so gut wie tot.

Denn wenn es jemanden gab, der noch leichter als ein Haufen nausicaanischer Schlächter die Nerven verlor, dann handelte es sich ganz sicher um einen Tzenkethi.
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