– Harry Kim
in Endspiel, Teil II
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Vorwort
Die Entstehung dieser Voyager-Quadrologie ist sehr ungewöhnlich verlaufen. Sie entsprang keinem Masterplan, nicht einmal einem Minorplan. Ganz im Gegenteil: Ursprünglich ging es mir nur darum, ein paar Szenen zu schreiben, wie Admiral Janeway ein Geheimnis in den Reihen des Oberkommandos in Bezug auf den Fürsorger aufdeckt. Als ich diese Szenen schrieb, fielen mir gleich noch verschiedene andere Dinge ein, die man ja machen könnte – und auf einmal war sozusagen eine Art Wink in die Voyager-Zukunft nach der Heimkehr in Endspiel geboren. Von einem richtigen Roman war ich allerdings noch Lichtjahre entfernt. Was entstanden war, lässt sich wohl nur als Kurzgeschichte bezeichnen.
Dann jedoch habe ich in den Sommermonaten 2015 die sieben Staffeln Voyager wiederentdeckt – und eine ganz neue Wertschätzung für diese Serie gefunden, die für mich immer ein wenig das schwarze Entlein unter den Star Trek-Shows war. Je mehr ich mich mit Voyager beschäftigte und in die Serie eintauchte, desto mehr empfand ich den Reiz, die Geschichte von Janeway und Co. in einer großen, dramatischen Erzählung fortzusetzen. Mir war es wichtig, eine sehr stark charaktergebundene Geschichte zu erzählen. Anders als in vielen Voyager-Episoden, wo Alien-Begegnungen der Vorzug vor vertiefter Figurenbehandlung gegeben wurde, sollten die Protagonisten nun ganz und gar im Mittelpunkt stehen. Das Ganze setzte sich erst nach und nach, geradezu puzzleartig, zusammen. Mir fielen immer neue Szenen ein, die gut zum roten Faden passten, den ich mir ausgedacht hatte. Und so zog ich an dieser Schnur immer mehr Charakterszenen und Handlungselemente zusammen.
An dieser Stelle entschuldige ich mich deshalb bei all den Leserinnen und Lesern, die die Geschichte ein- oder mehrmals in einer früheren Version herunterluden und später vermutlich wenig erfreut herausfanden, dass binnen Wochen und Monaten noch mehrere hundert Seiten hinzugekommen sind. Wie gesagt, das war so nicht beabsichtigt. Normalerweise schreibe ich meine Romane linear, und wenn ich etwas ins Internet stelle, ist es im Prinzip fertig. Aber dies war ein durch und durch ungewöhnliches Projekt, in dessen Verlauf ich erst so richtig erkannte, was ich eigentlich machen will. Learning by doing also im besten Sinne.
Nun ist das Bild klar: Das Buch steht am Anfang eines neuen Voyager-Aufbruchs, und deshalb ist es mir besonders wichtig, dass hier die Figuren, ihre Motive, Sehnsüchte, Ängste, aber auch ihre Vergangenheit so gut wie möglich ausgeleuchtet werden, um sie glaubhaft in die Zukunft zu entwickeln. Ich fand immer, dass die Serie gerade in ihrer Anfangsphase viele Lücken in Bezug auf Charaktere, Beziehungen und Storywendungen ließ. Diese Lücken habe ich im Rahmen von Flashbacks zu füllen versucht (insbesondere im Hinblick auf Chakotay), in dem Bestreben, dass noch besser erkennbar wird, wie stark sich die Helden der Delta-Quadrant-Odyssee im Laufe der vielen Jahre verändert haben. Natürlich war mein Anspruch auch, die in der Serie gegebenen Informationen minutiös aufzugreifen und erklärend einzubetten.
Die Quadrologie endet ganz bewusst offen. Denn die Voyager geht mit ihr in eine neue Phase. Was danach kommt, steht im wahrsten Sinne des Wortes in den Sternen. Ich wünsche Ihnen und Euch viel Spaß beim Lesen.
- Der Autor
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Anmerkung: Die Gegenwartshandlung dieser Geschichte findet zwischen Frühjahr 2378 und Frühjahr 2381 statt. Sie beginnt wenige Tage nach der finalen Voyager-Episode Endspiel und endet mehrere Monate nach dem letzten TNG-Kinofilm Nemesis. Dabei referiert sie insbesondere zu folgenden Star Trek-Episoden:
TNG
6x26/7x01 Angriff der Borg
DS9
2x20/2x21 Der Maquis
VOY
1x01/1x02 Der Fürsorger
1x06 Der mysteriöse Nebel
1x14 Von Angesicht zu Angesicht
2x05 Der Zeitstrom
2x09 Tattoo
2x10 Allianzen
2x16 Gewalt
2x25 Entscheidungen
4x14 Flaschenpost
4x15 Jäger
5x04 In Fleisch und Blut
5x09 Dreißig Tage
5x13 Schwere
5x26/6x01 Equinox
6x03 Die Barke der Toten
6x04 Dame, Doktor, As, Spion
6x09 Die Voyager-Konspiration
6x10 Das Pfadfinder-Projekt
6x11 Fair Haven
6x19 Icheb
6x24 Rettungsanker
7x12 Abstammung
7x14 Die Prophezeiung
7x20 Die Veröffentlichung
7x25/7x26 Endspiel
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1. November 2370
Kathryn Janeway war eigentlich viel zu beschäftigt, um sich eine Verschnaufpause zu gönnen. An Bord der U.S.S. Bonestell, die sie seit dem Unglück von Captain Tombath vor vier Wochen kommissarisch befehligte, standen umfassende Umbaumaßnahmen an. Nachdem sich die Sternenflotte in den Kopf gesetzt hatte, den alten Kreuzern der Excelsior-Klasse noch einmal eine Frischzellenkur zu spendieren, war die Bonestell in den heimatlichen Hafen zurückbeordert worden. In einem der Trockendocks über dem Erdorbit wurde das Schiff derzeit auseinandergenommen, und mit ein wenig Glück würde sie bereits in wenigen Wochen runderneuert wieder auf große Fahrt gehen.
Doch bis dahin standen Janeway und ihrer Crew einige aufreibende Arbeitstage im Drei-Schichten-Takt ins Haus. Bei so einer Generalüberholung mochte in der Theorie alles perfekt sein – in der Praxis konnte vieles schief gehen. Daher war die Anwesenheit des Captains unverzichtbar, jedenfalls wenn es nach Janeway ging. Es mochte Kommandanten geben, die sich einen schlanken Fuß machten, während ihr Schiff in seine Einzelteile zerlegt und neu zusammengebaut wurde. Sie gehörte nicht dazu. Owen Paris hatte sie nicht zum Schönwetteroffizier erzogen.
Aus diesem Grund war die Einladung von Morris Patterson definitiv zur Unzeit gekommen. Ihr alter Akademie-Professor, inzwischen ein hoch dekorierter Vize-Admiral, hatte darauf bestanden, mit ihr eine kleine Shuttlespritztour innerhalb des Sol-Systems zu machen. Janeway hatte natürlich nach dem Anlass gefragt, doch Patterson gab sich äußerst schmalsilbig. Er hatte lediglich gesagt, sie müsse ihm in dieser Angelegenheit einfach vertrauen und solle an Bord der Fähre gehen, die in einer halben Stunde an der Steuerbordseite der Bonestell andocken werde. „Ist das ein Befehl?“, hatte Janeway sich erkundigt, woraufhin Patterson mit warmem Lächeln erwiderte: „Die Bitte eines alten Freundes.“
Eine Bitte. Angesichts ihrer derzeitigen Verpflichtungen hätte sie vermutlich die meisten Bitten dieser Art ausgeschlagen, doch nicht, wenn sie von dem Mann kam, der sie an der Akademie ‚entdeckt‘ und mit Owen Paris bekannt gemacht hatte. Sie hatte Morris Patterson viel zu verdanken, und es war weit mehr als nur der Umstand, ihre Begeisterung für Astrophysik geweckt zu haben. Also hatte Janeway sich bei ihrem Chefingenieur für die nächsten Stunden entschuldigt, wohlwissend, dass die Bonestell in dieser kritischen Phase nicht einmal einen regulären Ersten Offizier besaß, der sie vertreten konnte. Ihr guter Freund Tuvok, der nach dem Ausfall von Captain Tombath, auf den Posten des XO nachgerückt war, hatte kurzfristig eine Abkommandierung durch den Geheimdienst der Sternenflotte erfahren, um eine Widerstandszelle des Maquis zu unterwandern. Für die Zeit, die Janeway nicht an Bord war, hatte also ihr Chief das Sagen an Bord. Sie vertraute ihm. Es würde schon alles glatt laufen.
Das Shuttle legte pünktlich auf die Minute an. Janeway passierte die Luftschleuse und war überrascht, nur Patterson an Bord anzutreffen. Er strahlte wie ein Winterhöhlenbär und ließ es sich nicht nehmen, sie herzlich zu umarmen. Als sie sich voneinander gelöst hatten, bemerkte Janeway, wenn ein Admiral mutterseelenallein auf einen Besuch vorbeikomme, könne es niemals um eine Routineangelegenheit gehen. Patterson räumte ein, dass er das nicht verneinen könne, ließ sich jedoch weiterhin nicht in die Karten schauen. Stattdessen bat er Janeway, auf dem Sitz des Copiloten Platz zu nehmen und den Flug zu genießen. Sie seufzte und tat, wie ihr geheißen, obwohl sie bezweifelte, dass ein derartiger Trip ins Ungewisse ein Genuss werden konnte. Tatsächlich hasste sie es, über etwas im Dunkeln gelassen zu werden. Sie mochte diese Art von Überraschungen nicht, war sie doch jemand, der stets Wert darauf legte, die Kontrolle zu haben.
Während des Flugs sprach Patterson nicht viel, was ein weiterer ungewöhnlicher Aspekt ihres Wiedersehens war. Janeway kannte den Mann abseits des Offiziellen als leidenschaftlichen Plauderer, aber die Art von Schweigsamkeit, die er heute an den Tag legte, wollte nicht recht zu ihrem alten Mentor passen.
Zum Glück nahm der Flug nicht lange in Anspruch. Bereits nach einer Viertelstunde stellte sich heraus, dass Patterson einen Kurs auf den Marsorbit eingeschlagen hatte. Während die einstmals ‚Roter Planet‘ genannte, inzwischen seit Jahrhunderten erdähnlich terrageformte Welt beständig im Fenster anschwoll, spürte Janeway jähe Ungeduld in sich aufsteigen. Sie erneuerte ihre Frage, was er mit ihr vorhabe, doch Patterson entpuppte sich als wahrer Sadist – eine Seite, die sie nicht an ihm kannte. Er schwieg beharrlich wie ein Grab.
Zuletzt tauchte das Shuttle in den dichten Strom von Arbeitskapseln, Wartungsrobotern, Ausrüstungs- und Frachttransportern ein, die die gewaltigen Werftkomplexe von Utopia Planitia umschwirrten, einer der größten Planungs-, Entwicklungs- und Konstruktionsstätten der Sternenflotte in der gesamten Föderation. Spätestens jetzt ahnte Janeway, dass Pattersons Ziel irgendwo innerhalb des Areals der zwei Dutzend Trockendocks und Raumbasen des Ingenieurscorps liegen musste.
Sie sollte sich nicht irren. Mit einem überraschenden Sinn für Dramatik hatte Patterson die Fähre so manövriert, dass eines der Raumschiffe in einem an Backbord gelegenen Raumdock bis zum letzten Moment vor Janeways Blicken verborgen blieb. Jetzt aber geriet es in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit, als der laterale Schub eine langsame Drehung des Shuttles bewirkte.
Janeway sah nichts anderes. Die Zeit schien sich für einen Augenblick auszudehnen. Das feingliedrige Gitterwerks des Gerüstes, in dem das noch nicht vollkommen fertiggestellte Schiff schwebte, schien gar nicht zu existieren. Nichts schien es in diesem Moment zu geben außer diesem Raumer, und falls doch, dann waren das Raumdock und die vielen an ihm und um es herum glühenden Lichter nur eine mit funkelnden Edelsteinen gespickte Skulptur im All, deren Zweck allein darin bestand, Symmetrie und Schönheit dieses einen Schiffes hervorzuheben. Seine schnittige Eleganz unterschied sich von dem Erscheinungsbild anderer Sternenflotten-Schiffe, die sie kannte. In diesen Sekunden glaubte Janeway, einen Gepard zu sehen oder einen Orca, schnell, unermüdlich und doch voller Anmut.
Endlich brach Patterson sein Schweigen, und er tat es mit sichtlicher Freude. „Das ist die Voyager.“, sprach er. „Intrepid-Klasse. Sie ist nach dem erfolgreichen Test des Intrepid-Prototypen das erste reguläre Schiff ihrer Klasse.“
Janeway war gar nicht aufgefallen, wie sie sich von ihrem Platz erhoben hatte, um das Schiff noch besser in Augenschein nehmen zu können. „Ich wusste nichts von einer solchen Schiffsklasse.“
„Das Oberkommando wollte es nicht an die große Glocke hängen, ehe die Bauphase noch nicht abgeschlossen wurde.“, entgegnete Patterson. „Aber ich bin schon jetzt davon überzeugt, dass die Voyager das Zeug dazu hat, die Flotte zu revolutionieren. Wenn sich die Hoffnungen der Ingenieure erfüllen, wird sie mit einer Höchstgeschwindigkeit von Warp neun Komma neun sieben fünf unterwegs sein können.“
Janeways Augen wurden größer. „Neun Komma neun sieben fünf?“, wiederholte sie erstaunt.
„Oh, sie hat noch einiges mehr zu bieten.“, fuhr Patterson schmunzelnd fort. „Das Impuls- und Manövertriebwerk ist in Verbindung mit den Navigationssensoren so leistungsfähig, dass sie auch in gefährlichen Raumregionen, wie zum Beispiel Plasmastürmen, operieren kann… Sie ist das erste Schiff dieser Größenordnung, das standardmäßig für Atmosphärenflüge geeignet ist…“
Das Shuttle flog nun dicht am gewölbten Bug vorbei, um anschließend eine Flanke des prächtigen Schiffes zu passieren. Janeway nahm alle Einzelheiten in sich auf und merkte, wie sehr sie von der Voyager fasziniert war. Die niedrig angebrachten Warpgondeln an den kurzen Stutzen deuteten auf ein Antriebspotenzial hin, das weit über die Kapazität der Bonestell und anderer Raumer hinausging. Der glatte Übergang zwischen primärem und sekundärem Rumpf wirkte aerodynamisch im Vergleich mit den meisten anderen Sternenflotten-Einheiten.
„Und um das Wichtigste nicht zu verschweigen: Bei der Voyager sind einige traditionelle isolineare Schaltkreissysteme durch bioneurale Gelpacks ersetzt worden, die synthetische Nervenzellen enthalten. Sie organisieren Informationen besser, und dadurch wird die Reaktionszeit erheblich reduziert.“
Janeway stand für einen Augenblick die Kinnlade offen. „Ich wusste, dass die Sternenflotte mit bioneuralen Schaltsystemen experimentiert, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie schon so weit ist, sie in einem Schiff zu verbauen…“ Instinktiv schnappte sie nach Luft. „Wann wird sie startklar sein?“
„Vorausgesetzt, wir bleiben im Zeitplan: Vielleicht schon in sechs oder sieben Monaten.“ Plötzlich spürte Janeway, wie Patterson eine Hand auf ihren Arm legte, eine warme, väterliche Berührung. „Und nun schlage ich vor, Sie setzen sich wieder, Kathryn.“ Infolge dieser Aufforderung drehte sie den Kopf und suchte seinen Blick. Der verhieß ein kommendes Paradies. „Sie wird Ihr Schiff sein. Sie werden die Voyager zu den Sternen führen.“
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30. April 2371
U.S.S. Voyager
[wenige Tage nach der Strandung
auf der anderen Seite der Galaxis]
Chakotay war verwundert gewesen, als Kathryn Janeway sich über die KOM bei ihm gemeldet hatte. Sie hatte ihm gesagt, sie erwarte ihn auf dem Flugdeck. Dort fand er sie nun vor. In einer Pose, die ihr angeboren zu sein schien – die langen Arme mit den langgliedrigen Händen in die Hüfte gelegt – stand sie in der Leitzentrale des Hangars, wo sich außer ihr zurzeit niemand aufhielt. Ihrem Gesicht war eine Mischung aus Nachdenklichkeit und Verwegenheit eingeschrieben.
„Sie wollten mich sprechen?“, fragte Chakotay, nachdem er eingetreten war. Er verhielt sich, dass er den Ort des Treffens für höchst eigentümlich hielt.
„Mister Chakotay, kommen Sie herein.“ Die Tür schloss sich in seinem Rücken, und Chakotay verfolgte, wie Janeway durch die breite Glasfront in den Shuttlehangar der Voyager hinabblickte. Das klobige Schiff des Talaxianers – Neelix – beanspruchte einen gehörigen Teil des Platzes. Wenn es auf Dauer hier untergebracht wurde, würde man eine kreative Lösung finden müssen, den Hangar zu vergrößern, sonst war der normale Shuttlebetrieb behindert. „Ich habe nachgedacht.“, hob Janeway schließlich die Stimme und wandte sich ihm erneut zu. „Über unsere gegenwärtige Situation.“
Chakotay lächelte dünn, aber völlig humorlos. Tatsächlich war es eher ein leicht verdrießlicher Ausdruck. Und so versteckte er sich auch nicht hinter schönen Worten: „Das wurde auch langsam Zeit, würde ich sagen. Unser Kampf gegen die Kazon liegt beinahe zwei Tage zurück. Meine Leute werden allmählich nervös, wie es jetzt weitergeht, und was mit uns passiert.“
Janeways Augen wurden größer, und sie machte eine bedeutungsvolle Geste. „Das ist die Frage, um die sich alles dreht, nicht wahr? Was passiert mit uns? Hier, mit uns allen?“
„Und?“, fragte Chakotay und verspürte Ungeduld. „Haben Sie eine Entscheidung getroffen?“
Langsam trat sie auf ihn zu, bewahrte wie immer Haltung und schüttelte den Kopf. „Nein. Es geht hier nicht um meine Entscheidung. Sondern um das, was wir gemeinsam entscheiden. Nur so wird es funktionieren.“
„Dieses Schiff gehört nicht dem Maquis an.“, bedeutete Chakotay mit gerunzelter Stirn. „Wir sind kein Teil davon.“
„Das kann sich ändern.“, entgegnete Janeway und erntete einmal mehr seine Verwunderung. „Die Besatzung der Voyager hat eine Reihe empfindlicher Verluste erlitten, als der Fürsorger uns in den Delta-Quadranten riss. Und nach der Zerstörung der Liberty sind Sie nun Teil der Voyager, ob Sie wollen oder nicht. Sie sitzen auf diesem Schiff fest.“
Chakotay verschränkte die Arme. „Glauben Sie mir, Captain: Wenn ich eine Alternative zur Zerstörung meines Schiffes gehabt hätte, ich hätte sie ergriffen. Aber nur indem ich die Liberty aufgab, konnte ich sicherstellen, dass die Voyager gerettet wird.“
„Ein bemerkenswert selbstloses Opfer.“, stellte Janeway fest.
„Bilden Sie sich bloß nichts darauf ein. Es war eine rationale Entscheidung. Tuvok, dieser vulkanische Mistkerl, würde vermutlich sagen: Sie war logisch. Die Liberty war eine veraltete Maschine, kaum in der Lage, längere Zeit eine hohe Warpgeschwindigkeit aufrechtzuerhalten. Mir war klar, dass die Voyager das einzige Schiff ist, mit dem wir überhaupt dazu in der Lage sind, uns durchzuschlagen.“
Janeways Brauen zuckten nach oben. „Und wie geht es jetzt weiter?“
„Interessant, dass Sie mir diese Frage stellen.“, gab er zurück. „Die Voyager ist Ihr Schiff. Sie sind der Captain.“
Ein dünnes, viel wissendes Schmunzeln huschte über ihre Lippen. Chakotay kannte sie nicht gut, aber eines konnte er jetzt schon über diese Frau sagen: Sie war scharfsinnig. Und sie besaß einen ganz eigenen Sinn für spitzen Humor. Er war nicht vielen Leuten bei der Sternenflotte begegnet, die Humor besessen hatten.
„Korrigieren Sie mich, falls ich mich irre, aber genau das haben Sie zu B’Elanna Torres gesagt – vor zwei Tagen, kurz bevor die Voyager die Fürsorger-Phalanx zerstörte. Sie haben meine Entscheidung mitgetragen…weil Sie wussten, dass wir die Ocampa nicht im Stich lassen konnten.“ In Janeways Augen blitzte es beschwörend. „Sie hatten schon immer ein starkes Gespür für Gerechtigkeit. Sie haben Ihr Offizierspatent aufgegeben und sich einer Sache verschrieben, die Sie für gerecht hielten.“
„Sie ist gerecht.“, stellte Chakotay entschieden fest. Der Klang seiner Stimme verriet, dass er in dieser Angelegenheit nicht mit sich diskutieren ließ.
Janeway lehnte sich gegen eine Konsole. „Lassen Sie uns nicht um den heißen Brei herum reden, Chakotay. Wir beide wissen, weswegen die Voyager von der Sternenflotte in die Badlands geschickt wurde. Tatsache ist: Die Ausgangslage hat sich geändert, und zwar irreversibel. Es gab hin und wieder verschollene Föderationsschiffe, aber nicht ein einziges hat es dermaßen in die Ferne verschlagen wie die Voyager. Das hier ist die andere Seite der Galaxis. Wir müssen anfangen, uns damit vertraut zu machen. Nur so werden wir überleben können, auf unserem langen Weg in die Heimat.“
Er betrachtete sie. „Sie haben also vor, die Heimreise anzutreten?“
„Was sollte ich anderes tun?“, erwiderte Janeway. „Es gibt nur einen Kurs, den wir setzen können. Richtung Erde. Es sei denn, wir geben uns geschlagen. Denken Sie etwa so?“
„Nein.“, versicherte er.
„Gut. Dann lassen Sie uns unsere Kräfte vereinen.“ Ihre Hand ballte sich demonstrativ zur Faust. „Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir aus zwei Crews eine machen.“
Chakotay zog einen Mundwinkel hoch. „Sie schlagen vor, dass achtunddreißig Maquis Teil Ihrer Besatzung werden sollen?“
„Unserer Besatzung.“, korrigierte sie ihn.
Er legte den Kopf an. „Was soll das heißen?“
„Ganz einfach. Ich möchte Sie bei der Führung dieses Schiffes beteiligen. Nur so wird es funktionieren, die Integrationsleistung zu vollbringen, die vor uns liegt. Alle sollen sehen, dass an der Spitze ein Tandem existiert, mit einem festen Willen zur Kooperation.“
„Dieses Angebot kommt unerwartet.“, räumte er ein und hielt es für angebracht, ein Pokerface zu wahren.
Janeway wölbte eine Braue. Sie war offensichtlich noch nicht am Ende angelangt. „In einem Punkt werden Sie aber über Ihren Schatten springen müssen. Sie müssten bereit sein, diese Uniform wieder anzuziehen. Nach dem Verlust von Commander Cavit brauche ich einen neuen Ersten Offizier. Und Sie waren langjährig Offizier der Sternenflotte – mit einer bemerkenswerten Akte.“
Chakotay wusste zunächst nicht, wie er darauf reagieren sollte. Dieses Gespräch entwickelte sich nicht so wie erwartet. „Ich bin wohl kaum die richtige Wahl. Ich würde davon ausgehen, dass Sie sich für Tuvok als neuen XO entscheiden. Immerhin ist er schon jetzt Ihr Zweiter Offizier…und er scheint Ihr Vertrauen zu genießen.“
In der letzten Hälfte hatte Chakotay das Gesicht merklich verzogen. Zu tief saß noch der Stachel des Verrats, den der Vulkanier in seinem Fleisch hinterlassen hatte. Nachdem die Voyager den ersten Kontakt zur Liberty hergestellt hatte, durfte Chakotay en passant erfahren, dass er einen Spion der Sternenflotte in seinen Reihen gehabt hatte, dessen langfristiges Ziel sogar darin bestand, ihn der Sternenflotte in die Hände zu spielen. Das Ergebnis waren nicht nur geteilte Gefühle in Bezug auf Tuvoks Person – immerhin hatte der nur seinen Job gemacht –, sondern auch schwere Vorwürfe sich selbst gegenüber, nicht wachsam genug gewesen zu sein.
„Tuvok ist genau dort, wo er gebraucht wird.“, konstatierte Janeway. „Aber Sie, Chakotay, Sie können Leute befehligen – und Sie wissen, wie man ein Raumschiff leitet. Ich möchte Sie bitten, diese Position anzunehmen.“
Chakotay seufzte leise und doch unüberhörbar. „Ich habe vor Jahren mit der Sternenflotte abgeschlossen. Das war keine Kleinigkeit, die man einfach so ungeschehen machen kann.“
„Ja, das weiß ich.“, erwiderte Janeway. „Und inzwischen glaube ich, dass Sie ehrenwerte Gründe dafür hatten. Aber das war im Alpha-Quadranten.“
Chakotay blinzelte. „Nur damit ich das richtig verstehe: Sie wollen ausgerechnet den Mann, den Sie auf Geheiß des Oberkommandos wie einen Staatsfeind gejagt haben, zu Ihrem Stellvertreter ernennen?“
Janeway zuckte andeutungsweise die Schultern. „Warum sollte ich es nicht tun? Wenn es nach mir geht, haben Sie Ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis gestellt. Sie waren nicht nur bereit, mit uns zusammenzuarbeiten. Gegen die Kazon zu kämpfen. Ihr Schiff aufzugeben, um die Voyager zu retten. Sie haben uns auch vertraut, als Sie Ihre Crew hinüberbeamen ließen.“
Er ächzte. „Sie meinen, ich habe Ihnen vertraut, dass Sie uns nicht sofort in die Brig werfen?“
„Habe ich es denn getan?“
„Nein, das haben Sie nicht.“
„Und das werde ich nicht.“, versprach Janeway. „Als wir in Richtung der Badlands aufbrachen, da tat ich, was von mir verlangt wurde. Und Sie waren nur eine Akte. Aber seit wir im Delta-Quadranten sind, ist einiges geschehen. Wir haben zusammengearbeitet. Ich habe Sie kennengelernt. Ich habe begonnen, anders über Sie zu denken, Chakotay. Aber wissen Sie, was das Allerwichtigste ist: Wenn wir nicht ein paar Dinge umstoßen und hier draußen umdenken, werden wir nicht überleben. Das ist schlicht und ergreifend die traurige Wahrheit.“
„Wenn wir schon dabei sind, die ‚Dinge umzustoßen und umzudenken‘…“, nahm Chakotay den Faden auf. „Sie sagten es selbst: Wir sind bei Maximum-Warp fünfundsiebzig Jahre von der Erde entfernt. Welchen Grund sollte es da noch geben, eine Sternenflotten-Crew zu sein?“
„Die Voyager ist ein Schiff der Sternenflotte, und die klare Mehrheit der Leute auf diesem Schiff sind Sternenflotten-Offiziere, ganz zu schweigen von ihrem Captain.“, hielt Janeway unerschütterlich fest. „Ich sehe keinen Grund, warum sich das ändern sollte. Ganz im Gegenteil.“
Ihr Blick wurde wieder verwegener. „Natürlich kann ich nicht in die Zukunft blicken, wer kann das schon. Doch mein Gefühl sagt mir, dass wir hier draußen ohne einen Kompass nicht zurechtkommen werden. Einen Kompass für Richtig und Falsch, für die Möglichkeiten und die Grenzen unseres Handelns. Das Selbstverständnis der Sternenflotte bietet genau diesen Kompass an. Wir mögen weitab sein von der Föderation, aber die Identität dieses Kommandos werde ich nicht aufgeben. Dies ist und bleibt eine Besatzung der Sternenflotte. Für jede Art unserer zukünftigen Zusammenarbeit ist das eine Bedingung, hinter der ich nicht zurückweichen werde. Nun kennen Sie mein Angebot.“, schloss sie. „Ich würde mich freuen, wenn Sie es annehmen.“
„Einen Aspekt haben Sie nicht bedacht. Die Crew würde mich nicht als XO akzeptieren.“
„Sie wird, wenn der Captain es so möchte.“, stellte Janeway unmissverständlich klar. „Das hier ist keine demokratische Abstimmung. Die Spielregeln haben sich geändert. Wir werden uns aneinander gewöhnen.“
Chakotay spürte deutlich, wie er hin und her gerissen war. Er ließ einen Moment verstreichen, in dem er diese Frau musterte, die gleichzeitig unkonventionell, vertrauensbildend, verbindlich und steinhart sein konnte. Soeben hatte sie ihm die Hand zum Frieden ausgestreckt, ihm jedoch mit der anderen Hand den Phaser auf die Brust gesetzt. Wie immer es mit ihnen beiden weitergehen würde – ihr Verhältnis würde eines garantiert nicht sein: langweilig.
Schließlich nickte er knapp. „Ich brauche ein paar Stunden, um darüber nachzudenken.“
„Nehmen Sie sich die Zeit. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir dann immer noch im Delta-Quadranten sein werden.“
Als er in sein provisorisches Quartier zurückkehrte, dachte er ernsthaft über Janeways Worte nach. Er konnte nicht leugnen, dass sie etwas in ihm bewegt hatte. Aber war das schon genug, damit er tatsächlich wieder bereit war, ein Offizier der Sternenflotte zu werden? Die Raumflotte hatte ihn schwer enttäuscht, so wie die gesamte sogenannte Friedenspolitik der Föderation, die am Ende nichts anderes gewesen war als ein Handschlag zwischen zwei Großen auf dem Rücken einer kleinen Minderheit, deren Freiheit und Würde eklatant verletzt worden war. Und nicht nur das: Die Sternenflotte hatte begonnen, Jagd auf den Maquis zu machen, um den faulen Frieden mit den Cardassianern zu schützen.
Und nun sollte er diese Uniform wieder tragen, Verantwortung für unter ihm dienende Frauen und Männer der Raumflotte übernehmen? Konnte er das? Andererseits: Wie lautete die Alternative? Wenn Sternenflotte und Maquis hier draußen nicht lernten, vernünftig zusammenzuarbeiten, würden ihre Probleme schnell größer und nicht kleiner werden.
Vermutlich zum ersten Mal, seit es ihn in den Delta-Quadranten verschlagen hatte, fand Chakotay sich mit dem Gedanken ab, dass sein Leben und das seiner Crew sich fundamental verändern würden. Es war an der Zeit, die neue Realität zu akzeptieren, Verantwortung zu übernehmen, so schwer es auch sein mochte.
Der Maquis war gestern. Das Raumschiff namens Voyager war nun seine Zukunft.
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Die Schäden, die infolge des heftigen Schlagabtausches mit den Kazon auf der Brücke entstanden waren, hatten die Ingenieurteams unter der provisorischen Leitung von Joseph Carey inzwischen beseitigt. Fürs Erste reichten die Vorräte und Ersatzteile, aber das würde nicht auf Dauer so bleiben.
Kathryn Janeway fragte sich, wo sie weiteres Versorgungsgut auftreiben sollten, wenn es in Zukunft noch mehr Zusammenstöße mit dieser wilden Spezies gab, die Neelix zufolge in eine Vielzahl von Stämmen zerfiel. Die nächste Raumbasis der Föderation war Zigtausende Lichtjahre entfernt.
Ihre Entscheidung – die Entscheidung, die Phalanx zu zerstören – war der Ausgangspunkt dieser vollkommen unsicheren Lage gewesen. Also konnte und durfte sie sich jetzt auch nicht entziehen. Sie musste diese Mannschaft beherzt führen und ihr die Zuversicht zu vermitteln, die sie brauchte, um die lange, beschwerliche Reise zu meistern, die vor ihr lag.
„Wir sind allein.“, fing sie an und ging ein paar Schritte auf dem Kommandodeck. „In einem unerforschten Teil der Galaxis.“ Sie schaute zu Neelix und Kes, die unweit von ihr standen und ihrer Ansprache aufmerksam zuhörten, genau wie der Rest der versammelten Personen. „Wir haben schon neue Freunde gefunden, aber uns auch Feinde geschaffen. Wir haben keine Vorstellung von den Gefahren, denen wir begegnen werden.“
Ihr Blick ging diesmal zu Harry Kim und Rick Ayala an der OPS-Station. Die beiden Männer waren gestern heftig aneinandergeraten, doch jetzt schien es einen Waffenstillstand zu geben. „Aber eines ist klar: Beide Crews werden zusammenarbeiten müssen, wenn wir überleben wollen.“
Nun wandte sie sich zu Chakotay um. Ihn in der Uniform eines Kommandooffiziers zu sehen – so, als hätte er sie nie abgelegt –, war nach wie vor ein gewöhnungsbedürftiger Anblick, insbesondere für sie, die sie ursprünglich losgezogen war, um ihn in Gewahrsam zu nehmen.
Jetzt wurde er ihr neuer XO. Das war ein Risiko. Aber sie glaubte fest daran, dass sie diesem Mann vertrauen konnte. Sie musste es ganz einfach, sonst würde es eine kurze Reise werden. Und hieß es nicht, man sei gut beraten, diejenigen, die nicht die eigenen Freunde waren, eng bei sich zu halten und mit Verantwortung auszustatten?
B’Elanna Torres stand an der technischen Konsole und schien sich in ihrer schwarzgelben Uniform noch unwohler zu fühlen als Chakotay.
Janeway fuhr fort: „Deshalb sind Commander Chakotay und ich übereingekommen, dass wir eine Crew bilden. Eine Sternenflotten-Crew.“
Sie schritt zum vorderen Teil der Brücke und fragte sich, ob ihre Hoffnungen in Erfüllung gehen würden. Ob aus so unterschiedlichen Leuten tatsächlich eine geschlossene Mannschaft werden konnte? War das eine naive Hoffnung?
Dann verdrängte sie diese Gedanken wieder und sagte: „Als das einzige Raumschiff der Sternenflotte, das im Delta-Quadranten unterwegs ist, folgen wir weiterhin unserer Direktive: neue Welten zu suchen und den Weltraum zu erforschen. Aber unser primäres Ziel ist klar. Selbst bei Maximalgeschwindigkeit würde es fünfundsiebzig Jahre dauern, die Föderation zu erreichen. Aber damit werde ich mich nicht abfinden. Wir werden nach Wurmlöchern Ausschau halten, nach Spalten im Raum und nach neuen Technologien, die uns weiterhelfen können. Irgendwo auf dieser Reise werden wir einen Weg zurück finden.“
Sie blickte zum Hauptschirm. Das Projektionsfeld zeigte ihr fremde Sterne. „Mister Paris, setzen Sie einen Kurs…nachhause.“
Der frisch gebackene Lieutenant machte seine Eingaben, und das Schiff jagte in den Überlichttransit. Mit Sicherheit, so wusste Janeway, stand ihnen eine lange und harte Heimfahrt bevor. Aber sie zweifelte keine Minute daran, dass sie es schaffen würden, wenn Hoffnung, Entschlossenheit, Mut und Kameradschaft sie nicht im Stich ließen.
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