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Voyager Companions In Fate - Teil 3: Crossing the Line

von Julian Wangler

Kapitel 3

3. September 2378
Erde, San Francisco

Regentropfen prasselten gegen die Scheibe der gewaltigen, geschwungenen Fensterfront, die Admiral William Ross soeben im Zentrum des Sternenflotten-Oberkommandos passierte. Er verschwendete nur einen flüchtigen Gedanken daran, weshalb es im Spätsommer und angesichts eines eigentlich bombensicheren Umweltkontrollsystems schlechtes Wetter gab. So etwas war zwar nicht völlig ausgeschlossen, kam aber nur äußerst selten vor.

Heute zum Beispiel. Draußen fegte der nasse Teufel durch die Straßen; schwarze Gewitterwolken ballten sich bedrohlich über der Golden Gate Bridge, gelegentlich durchzuckt von blauen Blitzzungen, und in den prächtigen Parkanlagen zwischen Sternenflotten-Hauptquartier und -Akademie neigten sich die Palmen und Büsche im Wind. Boothby würde seinen Spaß haben, dieses Durcheinander wieder in Ordnung zu bringen, doch der Mann war mit allen Wassern gewaschen. Jemand, der nebenberuflich den Kadetten das Boxen beibrachte und ihr Seelenheil in Ordnung hielt, wurde auch mit den Folgen eines Gewitters fertig.

Vermutlich besser als mit dem Gewitter, das in Ross‘ Kopf wütete. Es war ein anstrengender Tag für ihn gewesen, voller schwerer Entscheidungen. Entscheidungen, die, wenn sie einmal getroffen waren, keinen Weg zurück mehr boten.

Er hatte sich seinen Mantel gegriffen und den Heimweg angetreten. Bevor er sich schmalsilbig von seiner Sekretärin verabschiedete, hatte er ernsthaft mit sich gehadert, ob er nicht noch ein Weilchen im Büro bleiben und einigen Papierkram abarbeiten sollte. Aber die Erinnerung an die zurückliegende Besprechung, die den gesamten Vormittag ausgefüllt hatte, lag ihm zu schwer im Magen. Er konnte und er wollte jetzt nicht mehr versuchen, sich auf Berichte und Protokolle zu konzentrieren, während er unweigerlich zurückdenken würde an jene Stunden, in denen er besiegelte, womit er wochenlang gehadert und gerungen hatte.

Was er jetzt brauchte, war die Gegenwart von Betty und seinen beiden Söhnen – Wärme, Geborgenheit, Zuflucht. Das würde ihn wieder auf andere Gedanken bringen. Er hatte Peter, seinem Jüngeren, versprochen, ihm bei der Fertigstellung eines Raumschiffmodells zu helfen. Dieses Versprechen konnte er nun einlösen, wenn er ausnahmsweise mal zuhause eintraf, bevor das Abendessen stattfand.

Seine Familie würde sich in jedem Fall wundern, wenn er diesmal mit am Tisch saß, und er war darauf eingestellt, eine gute Ausrede zu präsentieren. Am liebsten hätte er ihnen die Wahrheit gesagt, jedes Geheimnis, das er vor ihnen hatte, gnandenlosen eingerissen, doch das war vollkommen ausgeschlossen. Im Laufe der Jahre hatte Ross gelernt, was es bedeutete, Dinge für sich zu behalten, und er verstand die Notwendigkeit.

Spätestens seitdem er in den Wirren des Dominion-Kriegs erfahren hatte, was die Konsequenzen waren, wenn man nicht in der Lage war, Informationen diskret handzuhaben, fiel es ihm nicht mehr schwer, seine persönlichen Gefühle zurückzustellen. Trotzdem wurde ihm dann und wann schmerzlich bewusst, welche gläserne Wand ihn von Zeit zu Zeit von denjenigen trennte, mit denen er alles zu teilen geschworen hatte.

Vielleicht sollte er einfach zusehen, dass er sich ablenkte, früher zu Bett ging und wieder einen klaren Kopf bekam, und morgen würde er irgendwie weitermachen. Bestand dann nicht die Chance, dass die Gewitterwolken sich verzogen? Dieses Mal nicht, befürchtete er, so sehr er sich das auch wünschte. Dafür war schlicht zu gravierend, was vor ihm lag. Er würde Unrecht begehen im Namen der Tugend. Er würde sich mit der Hölle verbrüdern, um das Paradies zu retten. Er würde sich selbst dafür hassen, und doch würde er lernen, damit zu leben.

Während er strammen Schritts den langen, von Glas eingefassten Rundgang zur nächstgelegenen Shuttlerampe entlangging, passierten ihn zahlreiche blutsjunge Frauen und Männer, die ihn eifrig grüßten. Kadetten. Normalerweise nahm er kaum von ihnen Notiz, so selbstverständlich war ihr Anblick. Am heutigen Tag jedoch registrierte er sie sehr aufmerksam. Und er wurde sich ihres zarten Alters bewusst. Sie waren ja fast noch Kinder, die keine Ahnung hatten, welche Schrecken jenseits der Grenzen der Föderation warteten. Und es war seine Aufgabe, sie zu beschützen. Selbst, wenn sie, die sie im Glauben an die unumstößlichen Grundsätze der Föderation erzogen worden waren, sehr wahrscheinlich nicht gutheißen würden, auf welche Weise er dies sichergestellt hatte.

Ross erinnerte sich: Er war früher wie sie gewesen, wie diese Kadetten. Voller Idealismus. Doch wohin hätte dieser Idealismus geführt, wäre die Föderation ihm bis zum bitteren Ende treu geblieben? Sie wäre heute eine Kolonie des Dominion.

Es war nicht so, dass er die Idealisten verachtete. Nein, sie beeindruckten ihn nach wie vor; der makellose Glanz ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Überzeugung, für ein besseres Morgen zu kämpfen, nötigten ihm Respekt ab. Wer es sich leisten konnte, eine solche Einstellung zu vertreten, war besser als er, da bestand für ihn nicht der geringste Zweifel.

Die traurige Wahrheit lautete jedoch, dass Ross nach allem, was er erlebt hatte, schließlich zur Überzeugung fand, dass die Föderation sich es derzeit nicht leisten konnte, von Idealisten regiert zu werden. Die Idealisten, diese respektablen Leute voller Träume und Hoffnungen, mussten geschützt werden von Leuten, die wirklich wussten, wie es da draußen aussah. In dieser Hinsicht hatte Luther Sloan die Wahrheit gesprochen, und diese Wahrheit hallte Jahre nach seinem Tod in William Ross‘ Kopf als Echo nach.

Der Entschluss war getroffen, endgültig. Morgen würde er sich mit Koval in Verbindung setzen. Es galt, einen Machtwechsel auf Romulus vorzubereiten. Und alle moralischen Bedenken zum Teufel zu schicken, im Namen der Zukunft.

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=> Nachricht wird abgespielt…

Lieber Icheb,

die Nachricht, dass Du die Aufnahmeprüfung an der Sternenflotten-Akademie bestanden hast, habe ich mit großer Freude aufgenommen. Unter uns gesagt, hatte ich nicht den geringsten Zweifel, dass Du diese Hürde mit Bravour meistern würdest. Du hast es verdient. Vor Dir liegt nun eine großartige Chance, Deine besonderen Talente weiter zu kultivieren. Ich bin überzeugt, Du wirst wie immer das Beste daraus machen.

Lass mich noch hinzufügen, dass ich enorm stolz auf Dich bin. Ich mag die meiste Zeit meines Lebens Borg gewesen sein, und es fiel mir nicht immer leicht, Teil eines Kollektivs aus Individuen zu werden. Aber es gibt ein paar wenige Personen, die bei diesem schwierigen Übergangsprozess unersetzlich für mich waren. Personen, die mir sehr viel bedeuten. Du bist eine von Ihnen.

Es ist mir ein Anliegen, es Dir zu sagen: Ich liebe Dich, als wärest Du mein eigener Sohn, Icheb. Wende Dich an mich, wann immer Du Unterstützung brauchst. Ich wünsche Dir für die Zukunft alles Gute und hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.

Seven… Nein, nenn mich von nun an lieber Annika.

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1. Dezember 2378
Erde, San Francisco

Kathryn Janeway stand in ihrem Quartier und betrachtete das Bild, das der Spiegel ihr bot. Er zeigte ihr eine Frau mittleren Alters – wie sie fand, noch nicht ganz altes Eisen. Dank der Segnungen der modernen Medizin und einer sorgfältigen Pflege war ihre Haut weiterhin klar und straff…mit Ausnahme einiger kleinen Fältchen in den Augenwinkeln, die in den letzten Jahren aufgetaucht waren. Chakotay hatte ihr einmal gesagt, dass er fände, sie stünden ihr.

Ihr Haar besaß immer noch seine natürliche nussbraune Farbe mit leichtem Rotstich, und die Haarspitzen kräuselten sich über ihren Schultern. Sie musste zugeben, nachdem sie diese Frisur über mehrere Jahre beibehalten hatte, sehnte sie sich nach einer Veränderung. Sollte sie wieder zu ihrer Hochsteckfrisur zurückkehren, oder sollte sie etwas ganz und gar Neues ausprobieren? Was hatte sie überhaupt noch nicht ausprobiert?

Ihre Haarexperimente hatten ihre Offiziere auf der Voyager amüsiert. Wenn es stimmte, was sie gerüchtehalber gehört hatte, waren hinter ihrem Rücken sogar Wetten abgeschlossen worden, wann sie ihren Look wechselte und wie ihre neue Frisur beschaffen war. Tatsächlich hatte Janeway dieses Amüsement billigend in Kauf genommen, denn es stimmte ja: Die Haare waren ihr urpersönlich Tick, schon immer gewesen. Doch im Delta-Quadranten war dieser Tick noch extremer geworden, vermutlich weil ihr Haar eines der wenigen Dinge gewesen war, das sie dort draußen wirklich kontrollieren konnte.

Die Frau im Spiegel trug die Uniform eines Rear-Admirals. Goldener Kragen, goldumrahmte Pins links und rechts. Ein Flaggoffizier stand vor ihr, ein Mitglied des Oberkommandos.

Sie seufzte leise, während sie ihre Uniform glatt strich. „Daran muss ich mich erst noch gewöhnen…“, murmelte sie. Sie vergewisserte sich, dass alles richtig saß und ihre Frisur stimmte und wandte sich ab.

Janeway blickte zum Chronometer. Kurz nach sieben. Das bedeutete, ihr blieb noch genügend Zeit, Molly ihr Frühstück zu servieren – und natürlich für einen ungehetzten Morgenkaffee. Nichts war schlimmer als sich Kaffee einfach so die Kehle hinunterzukippen, als wäre es schlechter klingonischer Blutwein. Anschließend würde sie die Tram nehmen, die sie direkt ins Herz des Hauptquartiers brachte. Ihr erster Arbeitstag im Stab von Flotten-Admiral Shanthi (Schwerpunkt Romulanisches Sternenimperium und Klingonisches Reich) würde seinen Lauf nehmen.

Kaum hatte sich Janeway das dampfende Getränk aus dem Replikator geholt, klopfte es unerwartet an der Tür. Wer besuchte sie zu dieser Stunde? Sie öffnete kurzerhand und stellte fest, dass es sich um Seven of Nine handelte.

Die junge Frau, die Janeway in den letzten Jahren wie keine andere Person ans Herz gewachsen war, sah blasser und aufgewühlter aus als sonst. Das vermochte auch ihre blonde Haarpracht nicht zu verbergen, die sie nun offen trug und ihre natürliche Schönheit unterstrich. Janeway wusste sehr genau, was sie in den vergangenen Wochen und Monaten durchgemacht hatte, und sie bedauerte es zutiefst.

Ein reißerischer Journalist namens Walter Rogers hatte sich auf sie gestürzt und ein Buch über sie verfasst, in dem er die irrlichternde Verschwörungstheorie in die Welt setzte, bei Seven handele es sich in Wahrheit um eine Spionin des Kollektivs. Nachdem es der Borg-Königin nicht gelungen sei, die Föderation zu assimilieren, versuche sie es jetzt mit neuen, perfideren Mitteln; den Mitteln der Unterwanderung. Janeway sei auf diesen Trick hereingefallen, indem sie Seven in ihre Mannschaft aufnahm und zur Erde brachte, und nun gebe es einen Borg-Infiltranten im Herzen der Föderation.

Das Buch war Schund erster Güteklasse, doch es war erschreckend, wie viele Leute in der Föderation bereit waren, es zu kaufen und seinen wahnwitzigen Thesen Gehör zu schenken. Gegen Seven hatten sich Wut und Hass entladen – eindeutig die Folgen der beiden zurückliegenden Borg-Invasionen, die Abertausende Föderationsbürger das Leben gekostet hatten. Sie wurde für alles verantwortlich gemacht, was die Borg verbrochen hatten, obwohl sie nicht das Geringste dafür konnte.

Janeway hatte so gut wie irgend möglich versucht, sie zu schützen; es war ihr weißgott nicht immer gelungen. Am dramatischsten war Sevens Entführung durch ein paar Fanatiker vor einem Dreivierteljahr gewesen. Inzwischen hoffte sie, dass die Welle der öffentlichen Empörung wieder ein wenig im Abflauen begriffen war, aber es war klar, dass diese Erfahrung noch für eine lange Zeit Spuren in Seven hinterlassen würde.

„Seven.“, sagte Janeway. „Es tut mir Leid, ich habe leider nicht viel Zeit. Der erste Arbeitstag ruft.“

„Darf ich dennoch hereinkommen?“, erbat Seven.

Janeway nickte und schloss die Tür. „Worum geht es?“

„Um ehrlich zu sein,“, fing die junge Frau an, „verstehe ich immer noch nicht, warum Sie sich dazu entschlossen haben, die Voyager zu verlassen.“

„Seven, das hatten wir doch schon. Ich bin auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Und die Voyager wird bei Chakotay in den allerbesten Händen sein.“, setzte sie hinterher.

„Daran zweifle ich nicht.“, entgegnete Seven. „Ich hege jedoch Zweifel an Ihren Motiven.“

Janeway blinzelte. „Wie bitte darf ich das verstehen?“

Seven hielt kurz inne. „Als wir uns noch im Delta-Quadranten befanden, sagten Sie mir bei mehreren Gelegenheiten, Sie könnten sich kaum noch vorstellen, dass diese Crew und Sie eines Tages getrennte Wege gehen. Dass die Voyager inzwischen Ihr Kollektiv geworden sei.“

Janeway nickte knapp. „Das sagte ich, ja.“

„Dann verstehe ich nicht, warum Sie es dennoch getan haben. Und erzählen Sie mir nicht, es gehe Ihnen wirklich um neue Herausforderungen.“

Janeway war eindeutig aufgefallen, dass der Ton der ansonsten so ebenmäßigen Seven of Nine im letzten Satz schneidend und vorwurfsvoll geklungen hatte. Seit sie sich dazu entschied, ihren Kortikalknoten vom Doktor im Rahmen einer nicht ganz einfachen Operation modifizieren zu lassen, war sie in der Lage, die volle Bandbreite von Emotionen zu erleben – und sie auszuleben. Etwas bedrückte sie.

Janeway betrachtete ihre Freundin. „Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass ich da einen Anflug von persönlicher Verbitterung in Ihrer Stimme höre?“

„Sie haben damals die Entscheidung für mich getroffen, die Verbindung zu den Borg zu trennen.“ Sevens Stimme klang schwer. „Sie haben von Verantwortung gesprochen. All die Jahre an Bord der Voyager war es für mich nicht immer einfach, in die menschliche Gemeinschaft hineinzufinden.“

„Das mag sein, aber Sie hatten Erfolg.“, versicherte Janeway. „Mehr als das. Sie sind ein Individuum, Seven. Eine Persönlichkeit.“

„Die Voyager war mein Kollektiv.“, wiederholte Seven. „Ich wusste, dass ich dort sicher war. Ich habe jedem Einzelnen an Bord vertraut. Ich konnte versuchen, leben und lieben zu lernen. Aber nichts konnte mich auf das Leben vorbereiten, das ich hier auf der Erde vorfand. Auf die Probleme. Und nun gehen Sie fort.“

Janeway legte ihr eine Hand auf den Arm. „Hey, Seven, ich bin nicht aus der Welt. Aber trotz der unangenehmen Überraschungen, die Sie in der Heimat erwarteten, denke ich, dass Sie inzwischen Ihrem eigenen Kompass folgen können…und es sollten.“

„Das tue ich.“, entgegnete Seven nach kurzem Zögern. „Vor drei Tagen trat der Direktor der Sternenflotten-Akademie an mich heran. Er bot mir die Position einer Junior-Professorin Ehrenhalber an, mit ausschließlichem Schwerpunkt auf Forschung in den Bereichen Astrophysik und Kybernetik. Ich habe eingewilligt.“

Janeway schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln. „Herzlichen Glückwunsch. Das sind tolle Neuigkeiten.“

„Vielleicht, ja. Ich wäre dennoch lieber an Bord der Voyager geblieben. Unter Ihrem Kommando. Aber das ist nun nicht mehr möglich.“

„Hey, Seven… Es wird alles gut.“, sagte Janeway nach einem unangenehmen Moment der Stille. Mit einem Mal kam sie sich vor, als rede sie sich dies selbst ein. Was war hier los?

„Leben Sie wohl…Admiral.“

Janeway sah Seven wehmütig hinterher, wie sie aus ihrer Wohnung verschwand. Es war nicht so, dass sie ihre Freundin nicht verstehen konnte. Aber ein Teil des Lebens unter Individuen bedeutete nun einmal, dass sich das Leben änderte und man sich den neuen Bedingungen anpassen musste.

Hermann Hesse hatte einst in einem seiner schönsten Gedichte geschrieben, jedem Abschied wohne ein neuer Aufbruch inne. Janeway wollte gerne glauben, dass dies auch für den Lebensabschnitt galt, der vor ihr und ihren Kameraden von der Voyager lag. Und doch ertappte sie sich dabei, wie sie die Zweifel, die sie urplötzlich überkamen, erst zuschütten musste.

Als sie eine Stunde später Flotten-Admiral Shanthi an ihrem neuen Arbeitsplatz willkommen hieß, war Janeway dankbar, die unangenehmen Gedanken und Gefühle in einen stummen Winkel ihrer selbst abzuschieben. Bald schon erhielt sie ihre erste Aufgabe. Offenbar kündigte sich im romulanischen Imperium eine neue Phase der Instabilität an. Die Regierung von Prätor Hiren, der vor gerade ein paar Jahren gegen seinen Vorgänger Neral geputscht hatte, war auf zunehmend tönernen Füßen. Janeway bekam den Auftrag, die Situation genauestens zu beobachten und alles zu unternehmen, damit der Beta-Quadrant nicht ins Chaos stürzte.

Am Ende des Tages hatte sie den Kopf so voller Pflichten, dass ihr das Gespräch mit Seven vorkam, als hätte es vor einer halben Ewigkeit stattgefunden.

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12. Dezember 2378
Marsorbit

Der kurze Shuttleanflug zum Schiff war eine Tradition aus jenen Zeiten, als die Transportertechnologie nicht immer zuverlässig gearbeitet hatte, doch im Laufe der Jahrhunderte, in der diese Tradition praktiziert wurde, war mehr daraus geworden. Es war das intime Ritual eines jeden werdenden Captains. Er bewegte sich auf sein neues Schiff zu und nahm es in Augenschein. Auf diese Weise begann er das lange Zwiegespräch mit dem wundersamen Gefährt, das ihn kühn zu neuen Welten bringen würde.

In Chakotays Fall war es zwar nicht notwendig, sich mit dem Schiff vertraut zu machen, denn er kannte die Voyager wie seine Westentasche. Dennoch vermittelte ihm der gemächliche Anflug des Shuttles ein deutliches Gefühl dafür, dass hier etwas Besonderes ablief. Ein neues Kapitel in der Geschichte dieses Schiffes, mit dem ihn so viel verband.

Während ein junger Fähnrich die Fähre steuerte, schwoll die Voyager in einem der zahlreichen Docks hoch über dem Mars immer weiter im Cockpitfenster an. Chakotay bewunderte wie stets ihre elegante Linienführung. In den zurückliegenden Monaten war sie umfassend gewartet, auf den aktuellen technologischen Stand der Sternenflotte gebracht und ihre Systeme weitgehend in Standardkonfiguration zurückversetzt worden.

Als die Voyager zurück nachhause gekommen war, war das weit gereiste Schiff, wie nicht anders zu erwarten, zum Mittelpunkt intensiver Untersuchungen geworden. Da es mit Borg-Modifikationen sowie Technik aus ferner Zukunft ausgestattet war, hatte man sie ausgeweidet, zerlegt und analysiert. Alle ‚Fremdtechnologie‘, so hatte es die Admiralität festgestellt, war konfisziert worden. Es gab dafür zwei Gründe, die einander auch noch widersprachen: Die Sternenflotte musste die Modifikationen studieren, und zugleich mussten die Komponenten entfernt werden, um die Zeitlinie nicht zu verunreinigen.

Das Schiff, auf das er jetzt zuflog, so wusste Chakotay, war eine veränderte Voyager. Und so wie ihre Systeme einem umfassenden Reset unterzogen worden waren, war auch seine Besatzung bis auf wenige Ausnahmen eine neue. In diesen Minuten fanden sich alle Führungsoffiziere und Abteilungsleiter in der Shuttlerampe ein.

„Ich habe nachgedacht…“, sagte Chakotay und wandte sich Kathryn zu, die darauf bestanden hatte, ihn an seinem großen Tag zu begleiten und nebenbei durch ihre Präsenz während der Zeremonie symbolisch den Staffelstab an ihn weiterzureichen. „Unter einem anderen Captain wäre ich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht dazu bereit gewesen, diese Uniform jemals wieder zu tragen.“

„Was hat den Unterschied bewirkt?“, fragte sie mit aufrichtiger Neugier.

Chakotay schenkte ihr ein erbauliches Lächeln. „Dein Idealismus. Die Art, wie Du mich herausgefordert hast, auf Dich und Deine Entscheidungen zu reagieren. Ich musste einfach Flagge bekennen.“

„Und Du hast es vorbildlich gemacht.“, sagte Kathryn. Für einen Augenblick schien ein Hauch von Wehmut in ihrer Stimme aufzuflackern. Dann wuchs ihr Lächeln in die Breite. „Jetzt ist es an der Zeit für Dich, ohne Netz zu operieren.

Chakotay wusste, dass er es ohne Kathryns Fürsprache und Durchsetzungsvermögen nie zum Captain der Voyager geschafft hätte. Tatsächlich hatte er sich bereits mit dem Gedanken zufriedengegeben, in Zukunft Studierenden an der Akademie etwas über Xenopaläontologie beizubringen. Aber Kathryn hatte wieder einmal demonstriert, was in ihr steckte. Sie hatte alle Versuche von Hayes und Nechayev abgeblockt, einen anderen Kandidaten zum neuen Kommandooffizier der Voyager zu ernennen, und Chakotay mit aller nötigen Härte und Gerissenheit durchgeboxt. Es war ihr wichtig gewesen, dass ihr ehemaliges Schiff eine Person ihres Vertrauens als Captain bekam.

Trotz dieses Erfolges wusste Chakotay, dass sein Kommando unter ständiger Beobachtung stehen würde. Nicht nur Hayes und Nechayev würden ihn mit Argusaugen verfolgen. Kein Sternenflotten-Offizier, der einst zum Maquis übergelaufen war, hatte auch nur annähernd einen so großen Karrieresprung erlebt wie Chakotay – und genau das bereitete vielen Leuten im Oberkommando Bauchschmerzen. Er würde sich bewähren müssen.

Kathryn legte ihm eine Hand auf die Brust. „Weißt Du, was ich denke? Hier drin warst Du schon immer ein echter Offizier der Sternenflotte. Man hat es Dir nur nicht immer ganz leicht gemacht. Und Du Dir auch nicht. Und genau deswegen kann ich mir keinen besseren Nachfolger auf diesem Stuhl vorstellen als Sie, Captain Chakotay.“

Chakotay war von Stolz durchdrungen. Dass Kathryn eine so hohe Meinung von ihm hatte, bedeutete ihm mehr als alles andere. Für sie würde er die Fackel auf der Voyager weitertragen und tagtäglich sein Bestes geben.

Als die Luke des Shuttles sich Minuten später öffnen würde, würde Chakotay den ‚Captain an Deck!‘-Ruf und einen hohen Pfeifenton hören, woraufhin alle Versammelten Haltung annehmen würden. Er würde ans Podium treten, das für diesen Anlass aufgebaut worden war, und würde über seine neue Crew hinwegschauen. Sein Blick würde kurz zu Kathryn schweifen, die ihm einen ermutigenden Ausdruck schenken würde. Dann würde er nicht länger zögern und den formellen Brief verlesen, der ihm offiziell das Kommando über die Voyager übertrug:

„Hiermit werden Sie gebeten und verpflichtet, ab sofort das Kommando über die U.S.S. Voyager zu übernehmen. Unterzeichnet Admiral Owen Paris und Admiral Kathryn Janeway, Sternenflotten-Kommando.“

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8. Januar 2379
Erde, San Francisco

Harry Kim und Tom Paris waren sich zufällig in den Fluren des Hauptquartiers über den Weg gelaufen, und wie es zwei alten Freunden schnell passierte, waren sie hängengeblieben. Da sie sich seit fast zwei Monaten nicht mehr gesehen hatten, hatten sich so manche Neuigkeiten angestaut. So beschlossen sie, für ein paar Stunden alle Fünfe gerade sein zu lassen und dem Quantum Café einen kleinen Besuch abzustatten.

Harry merkte, wie sehr sein bester Freund ihm in letzter Zeit gefehlt hatte. Es hatte Zeiten gegeben, da unterstellte er Tom mit seiner Sprüche klopfenden, sarkastischen Art etwas Proletenhaftes. Heute sah er ihn mit ganz anderen Augen. Tom Paris war ein cooler Typ, ein Lebenskünstler, der mit vielen Wassern gewaschen war. Aber wer ihn für oberflächlich und unkultiviert hielt, beging einen schweren Fehler. Tom war so erfrischend anders als die meisten anderen Sternenflotten-Offiziere, das stellte Harry immer wieder fest.

Das Band, das zwischen Ihnen gewachsen war, war ein wunderbares Beispiel für eine unwahrscheinliche Freundschaft. Als sie sich dereinst zum ersten Mal in Quarks Bar auf Deep Space Nine getroffen hatten, wo Tom Harry davor bewahrte, von dem schlitzohrigen Ferengi über den Tisch gezogen zu werden, hatten sie zwar eine gewisse Grundsympathie füreinander empfunden, aber ihre Sozialisation hätte unterschiedlicher nicht sein können. Sie tat sich zwischen ihnen auf wie ein gewaltiger Graben.

Harry war frisch von Akademie gekommen, hatte liebevolle Eltern und eine anstandslose Biografie, die ihm den Weg einer fantastischen Offizierslaufbahn vorzuzeichnen schien. Er nahm alles sehr ernst, war hundertprozentig korrekt, ziemlich stocksteif und fantasielos. Tom hingegen, der die Voyager ursprünglich nur für drei Wochen als Beobachter begleiten sollte, schien zu diesem Zeitpunkt bereits alle guten Tage hinter sich zu haben. Ein abgebrannter, von der Akademie geworfener, zum Maquis übergelaufener und dann in eine Strafkolonie gesteckter Mann, dessen einziges Ziel im Leben darin bestand, wieder auf freien Fuß zu kommen.

Dann kam der Delta-Quadrant und hatte sie an Bord der Voyager zusammengeführt. Im Laufe der Jahre hatten sie beide voneinander gelernt und waren dadurch, jeder auf seine Art, ein Stück weiser geworden. Tom hatte durch Harry begriffen, wie wichtig Fleiß, Disziplin und Konsequenz im Leben waren, und Harry wiederum war durch die gemeinsame Zeit mit Tom lockerer, fröhlicher, humorvoller und nahbarer geworden. Trotzdem blieben es gerade die Unterschiede zwischen beiden, die ihre Freundschaft frisch hielten.

Sie redeten drauflos. Tom ließ die Katze zuerst aus dem Sack und erzählte, dass seine Familie in Zukunft auf dem Mars residieren werde. Sowohl B’Elanna als auch er hatten dort einen neuen, vielversprechenden Job gefunden, der es beiden ermöglichte, Arbeit und Privatleben besser zu vereinbaren.

Harry gratulierte ihm prompt, ehe er seinerseits für eine Überraschung sorgte. Wie der Zufall es wolle, werde auch er demnächst fest im Sol-System stationiert sein. Tom war in der Tat überrascht, hatte er doch damit gerechnet, dass Harry irgendwann die Gelegenheit ergreifen würde, auf eine neue, spektakuläre Tiefenraummission zu gehen. Harry eröffnete ihm, seine Entscheidung, erst einmal auf der Erde zu bleiben, habe nicht nur mit seinen Eltern, sondern vor allem mit Libby zu tun.

„Sie hat mich gefragt, ob wir zusammenziehen wollen.“, erzählte er ein paar Minuten später. „Und da wurde mir dann bewusst, dass ich es nicht übers Herz bringen würde, sie ein zweites Mal zurückzulassen.“

Tom umarmte ihn herzlich. „Das hört sich großartig an, Harry. Ich beglückwünsche Dich zu Deiner Entscheidung.“

„Findest Du?“

„Na klar. Wir werden quasi Nachbarn sein. Wie könnte ich das nicht gut finden? Und was glaubst Du, wie Miral sich erst freuen wird, wenn Du sie jetzt häufiger besuchen kommst?“

Harrys Gesichtszüge hellten sich auf. „Ja, das wäre wirklich schön.“

„Harry, warum schaust Du drein wie ein Ferengi mit Magenverstimmung? – Du solltest glücklich sein.“, animierte Tom seinen für seinen Geschmack etwas zu nachdenklich anmutenden Freund.

„Das bin ich… Denke ich.“

„Denkst Du? Also, manchmal hab‘ ich den Eindruck, Du bist wirklich etwas zu verkopft. Harry, sie ist Deine absolute Traumfrau!“

„Ja, das ist sie auch. Ohne Frage.“

„Und was ist eigentlich so schlimm daran, nach all den Abertausenden Lichtjahren, die wir gereist sind, auch mal sesshaft zu werden?“, bedeutete Tom.

„Nichts, gar nichts.“

„Na also. Dann fahr gefälligst mal ein bisschen aus der Haut. Tanz hier auf dem Tisch oder so und freu Dich Deines Lebens.“

„Es geht nur also so schnell, weißt Du? Gestern sind wir erst nachhause gekommen, und jetzt…“

„Harry, das ist immerhin ein Jahr her.“, sagte Tom. „Keine Sorge, das Tempo wird Dich nicht aus der Kurve werfen. Glaub mir, ich hab‘ mich immer in der Pflicht gesehen, Dich darauf hinzuweisen, wenn eine Frau Dir nicht gut tut. Und davon hab‘ ich wie Du weißt, reichlich Gebrauch gemacht. Hologramme, Borg, Frauen mit einem Hang zum Morbiden… Du bist im Delta-Quadranten durch so einige Liebesleiden gestolpert, die ich für ganz schön abenteuerlich gehalten hab‘. Und das ist noch milde ausgedrückt. Aber jetzt sag‘ ich Dir ‘was: Halt Libby fest, Ihr seid füreinander bestimmt. Bleib bei ihr.“

In Harrys Gesicht entstand ein Strahlen, das die Augen erfasste. „Es trifft sich gut, dass Du das sagst. Denn ehrlich gesagt ist der Grund für meine Nachdenklichkeit, dass ich schon über den nächsten Schritt nachdenke.“

Tom warf die Stirn in Falten. „Den nächsten Schritt?“

Er nickte. „Tom, ich brauche jetzt einen Rat von Dir.“

Tom räusperte sich demonstrativ, nachdem er an seinem Drink genippt hatte. „Schieß los, ich tu, was ich kann.“

„Okay. Wie macht man der Frau, die man über alles liebt, einen Heiratsantrag? Ich meine einen richtig guten Antrag.“

Da musste Tom herzhaft lachen. „Harry, mein Guter, Du steckst wirklich voller Überraschungen. Und Du hast wirklich Glück. Wenn Du sie tatsächlich heiraten willst, kommt Dir schon mal dankbar entgegen, dass sie keine Halb-Klingonin ist…“

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22. Februar 2379
Vulkan

Tuvok befand sich auf dem Rückflug aus der Hauptstadt. In wenigen Minuten würde er wieder zuhause in T’Paal sein. Durch das hohe Cockpitfenster vermochte er nur den roten Morgenhimmel zu sehen, doch vermutete er, dass der Gleiter momentan den Glühofen überquerte, jenes geschichtsträchtige Gebiet, von dem aus Surak einst die größte gesellschaftliche Veränderung Vulkans eingeläutet hatte.

Seit die Untersuchung hinter ihm lag, war Tuvoks Geist abgeschweift. Er hatte viel über die ferne Vergangenheit nachgedacht, ebenso wie das Gestern, das Morgen und die entfernte Zukunft. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb. Genau konnte das niemand prognostizieren. Fünfzehn, vielleicht auch zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre bei konsequenter Behandlung.

Doch er hatte begriffen, dass er das, was noch vor ihm lag – und gemessen an einem normalen Vulkanierleben war das nicht viel –, nutzen musste. Um sich selbst ein Bild zu machen von seinem Platz in diesem Leben…und um letztendlich Frieden zu schließen. Abzuschließen. Dieser Tag jedoch lag noch in weiter Ferne. Erst einmal würde er T’Pel und seiner Familie darlegen müssen, was die Ärzte ihm gesagt hatten, anschließend würde er Janeway kontaktieren.

Was anfangs wie eine neurologische Dysfunktion ausgesehen hatte, die mithilfe des fal-tor-voh geheilt werden konnte, hatte sich bei eingehender Analyse der Spezialisten als Sonderform des Tuvan-Syndroms herausgestellt – eine neurodegenerative Erkrankung, gegen die kein Heilmittel existierte. Es bestand allerdings inzwischen die Möglichkeit, mithilfe spezieller Verschmelzungstechniken den Fortschritt des Syndroms zu verlangsamen. Das allerdings bedeutete regelmäßige Therapien durch einen Verschmelzungsprofi.

Nach einer solchen Diagnose musste man sich erst einmal sammeln, das galt selbst für einen äußerst logischen Vulkanier. Trotzdem hatte Tuvok zu viel im Laufe seines Dienstes bei der Sternenflotte erlebt, um von der schlechten Botschaft der Mediziner allzu stark in Mitleidenschaft gezogen zu sein.

Im Gegenteil. Der Tod war ein Teil des Lebens. Er war nichts, das man fürchten musste. Erst recht nicht, wenn das Leben so reichhaltig und sinnhaft verlaufen war. Tuvok war dankbar für das, was er erlebt hatte, ebenso wie für das, was noch vor ihm lag. Einen besonderen Platz würden dabei stets die Jahre auf der Voyager an der Seite seiner menschlichen Freundin Kathryn Janeway einnehmen, so viele Entbehrungen und Herausforderungen diese Zeit auch bedeutet haben mochte. Tuvok war überzeugt, Teil von etwas Großem gewesen zu sein, ebenso wie er hier auf Vulkan Teil einer Familie war, für die er Dankbarkeit und Hochachtung übrighatte.

Was konnte sich jemand, der seinen Tod vor Augen hatte, Schöneres wünschen?

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26. Februar 2379
U.S.S. Voyager

Schweigend umarmte Janeway ihren vulkanischen Freund, nachdem sie sein Quartier an Bord der Voyager betreten hatte. Tuvok ließ diese Geste körperlicher Zuneigung wacker über sich ergehen. Sie wusste inzwischen alles über seine Erkrankung.

Die Eröffnung, dass er unter dem Tuvan-Syndrom litt, hatte sie wie ein Schlag getroffen. Nicht zuletzt, um Tuvoks Leben zu retten, hatte sie mit der Admiral Janeway aus der Zukunft einen Plan geschmiedet, die Voyager vorzeitig in den Alpha-Quadranten zurückzubringen. Und jetzt musste sie erfahren, dass all diese Bemühungen möglicherweise vergeblich gewesen waren. Damals war noch davon ausgegangen worden, Tuvok leide unter einer Art biochemischem Ungleichgewicht, das zu einem Abbau von Neuropeptiden in seinem neuralen System führe und mittels einer speziellen Therapie in der Föderation behoben werden könne. Dies war geschehen – nur um wenig später zu enthüllen, dass dieses vermeintliche Ungleichgewicht das Anzeichen eines viel größeren Übels war, gegen das bis zum heutigen Tag kein Heilverfahren existierte.

„Admiral,“, fing Tuvok an, „es werden noch viele Jahre vergehen, bis sich die ersten Symptome zeigen. Bis dahin werde ich meine Arbeit in der Sternenflotte problemlos fortsetzen können.“

Janeway nickte und rang einen allzu starken Gefühlsausbruch nieder. Sie wollte es Tuvok nicht noch schwerer machen als es ohnehin schon war. „Wie hat Ihre Familie es aufgenommen?“

„Den Umständen entsprechend. Doch ich bin zuversichtlich, sie werden sich mit meiner gesundheitlichen Situation arrangieren. Mit der Zeit.“

Janeway bewunderte ihren alten Freund für seine enorme Disziplin. Immerhin ging es hier um sein verfrühtes Ableben, um eine Erkrankung, in deren fortgeschrittenem Verlauf sein Geist und seine Persönlichkeit schweren Schaden nahmen, und Tuvok bewies ein Ausmaß an Beherrschung, das beispielhaft war. Dennoch fragte sie sich, wie es tief unter seiner rationalisierenden Oberfläche aussah. War er dort auch so ruhig? Sie bezweifelte es.

Sie kannte diesen Mann inzwischen einfach zu gut. Sie hatte gelernt, durch den harten vulkanisch-logischen Panzer zu blicken und die Person dahinter auszumachen. Er war wie ein älterer Bruder für sie; allzu oft war er ihr Fels in der Brandung und ihr Ratgeber gewesen. Der Gedanke, dass ihre erste Begegnung im Erdenjahr 2356 damit geendet hatte, dass Tuvok ihr vor drei Admirälen eine Standpauke über nicht eingehaltene taktische Prozeduren hielt, mutete beinahe absurd an. Aber natürlich war er auch damals völlig im Recht gewesen. Kathryn Janeway, frisch gebackener Junior-Lieutenant an Bord der Al-Batani, hatte noch eine Menge zu lernen gehabt. Und mit seiner fachlichen Hilfe und seiner Freundschaft hatte sie das auch*.

„Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, Tuvok, lassen Sie es mich wissen.“

Tuvok legte die Fingerspitzen zusammen und wirkte nachdenklich. „Vielleicht können Sie das tatsächlich. Ich habe nachgedacht. Ich möchte gerne zum Geheimdienst zurückkehren.“

„Zum Geheimdienst?“ Janeway blinzelte überrascht. Tuvok wollte die Voyager verlassen und wieder Spionage als Mitglied des SIA betreiben? „Sind Sie sicher, dass das die richtige Entscheidung ist?“

„Admiral… Kathryn. Gerade weil ich weiß, dass die Zeit, die mir bleibt, begrenzt ist, möchte ich etwas tun, wo ich meine Fähigkeiten bestmöglich einbringen kann. Und der Geheimdienst braucht nun einmal erfahrene Offiziere. Seine Reihen sind ausgedünnt nach dem zurückliegenden Krieg. Es gibt viele blinde Flecken. Diese können wir uns aber angesichts der Gefahren, denen sich die Föderation gegenübersieht, nicht leisten.“ Die vulkanische Logik war wie immer unbestechlich. „Zufällig habe ich erfahren, dass Ihr neuer Arbeitsschwerpunkt das Romulanische Sternenimperium ist. Ich weiß, dass aufgrund diverser widriger Umstände zurzeit talentierte Undercoveragenten auf der romulanischen Heimatwelt fehlen. In Anbetracht der bedenklichen Instabilität von Prätor Hirens Regierung wäre allerdings jemand Kompetentes vor Ort enorm wichtig. Ich möchte Sie daher bitten, dass wir zusammenarbeiten.“

Janeway betrachtete ihren treuen Weggefährten, dem sie so viel zu verdanken hatte. Wer war sie, dass sie ihm diese Bitte ausschlagen konnte?

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2. März 2379
Erde, San Francisco

Chakotay stürzte geradezu in Kathryns Quartier hinein, und ihm war abzulesen, dass er ausgesprochen schlecht gestimmt war. Sein ansonsten so ruhiges, ausgeglichenes Gesicht derart gerötet und verfinstert zu erleben, war ein völlig ungewohnter Anblick für sie.

„Hast Du es gehört?“, schnaufte er ungehalten.

„Was soll ich gehört haben?“

„Die Cardassianer… Sie werden wiederbewaffnet! Ihnen wurde von den Besatzungsmächten gestattet, wieder ein Militär aufzubauen. Und dreimal darfst Du raten, wer ihnen dabei helfen wird? Wir. Es kommt noch besser. Die Föderation war es, die sich für die Wiederbewaffnung Cardassias einsetzte – nicht die Klingonen oder die Romulaner. Die Föderation!“

„Chakotay, beruhige Dich erst einmal.“, riet Kathryn und bot ihm an, sich zu setzen.

Er lehnte ab, lief in ihrer Wohnung wie ein aufgebrachtes Raubtier hin und her. „Wie soll ich mich beruhigen? Ganz offensichtlich hat die Föderation nichts aus ihren Irrtümern in der Vergangenheit gelernt. Sie hat den Löffelköpfen schon einmal die Hand gereicht und kurz darauf gesehen, was sie davon hatte. Und jetzt ist sie wider besseres Wissen dabei, die Geschichte zu wiederholen. Man kann den Cardassianern nicht trauen! Das konnte man noch nie! Ihnen wieder eine Flotte und eine Armee zu geben, ist ein fataler Fehler!“

„Es ist nicht so, wie Du denkst.“, entgegnete Kathryn. „Die Wiederbewaffnung Cardassias ist ein politischer Entschluss. Als Reaktion auf ein neues Bündnis, das dabei ist, zu entstehen.“

Chakotay legte den Kopf an und blinzelte verwirrt. „Welches Bündnis?“

„Es deutet einiges darauf hin, dass die Breen, Gorn und Tzenkethi eine umfassende politmilitärische Allianz vorbereiten. Sie legen ihre Kräfte zusammen. Vielleicht wird sogar eine waschechte Liga daraus.“

„Wie bitte? Aber diese Völker sind doch quer über den Alpha- und Beta-Quadranten verteilt. Was haben sie schon miteinander gemein?“

„Sagen wir einfach, sie alle mögen uns nicht besonders. Das scheint als Gemeinsamkeit auszureichen.“, sagte Kathryn infolge eines langen Seufzers. „Und da sie an verschiedenen Flanken des Föderationsgebietes sitzen, ist das eine Gefahr, die wir nicht unterschätzen dürfen. Deshalb hat der Besatzungsrat auf Bitte der Föderation den Beschluss gefällt, die Cardassianer stärker zu unterstützen und ihnen mehr Autonomie zu gewähren. Als Verbündete könnten sie durchaus wertvoll sein. Meine Vorgesetzte, Flotten-Admiral Shanthi, hat mich über die Angelegenheit in Kenntnis gesetzt. Wir müssen verhindern, dass es dem Dreierbündnis, das sich da gegen uns formiert, gelingt, die Cardassianer auf ihre Seite zu ziehen. Immerhin haben Breen und Cardassianer schon mal auf derselben Seite gekämpft, und es gibt nach wie vor nicht wenige in der Union, die die Föderation hassen.“

„Ein Grund mehr, den Cardassianern nicht leichtfertig Waffen in die Hände zu drücken.“, hielt Chakotay dagegen. „Bloß um einen strategischen Vorteil zu haben, schenkt man den Skorpionen auf einmal wieder leichtfertig Vertrauen?“

Kathryn schüttelte den Kopf. „Nicht leichtfertig. Aber wir müssen uns den Realitäten anpassen.“

„Die Realitäten…“ Chakotay ächzte. „Was die Föderation da tut, ist nichts anderes als zynische Machtpolitik.“

Kathryn hob eine Hand. „Urteilst Du da vielleicht nicht ein kleinwenig zu vorschnell? So wie das immer bei solchen politischen Weichenstellungen ist, war es eine Paketlösung. Im Gegenzug für die Wiederbewaffnung hat der cardassianische Botschafter Garak im Namen seiner Regierung eingewilligt, dass alle von den Cardassianern aus der ehemaligen EMZ vertriebenen Kolonisten sich wieder ansiedeln dürfen…sofern sie das wollen. Es wird ein neuer Vertrag aufgelegt. Das alte EMZ-Gebiet wird in Zukunft von Föderation und Cardassianern partnerschaftlich verwaltet. Darüber müsstest Du eigentlich erfreut sein. In gewisser Weise geht damit in Erfüllung, wofür der Maquis jahrelang gekämpft hat.“

Chakotays Begeisterung fiel äußerst verhalten aus. „Als der Maquis dafür gekämpft hat, waren es Millionen Kolonisten. Wie viele sind davon heute noch am Leben? Mein Volk ist tot, ausgelöscht von Cardassianern und ihren Bluthunden. Und das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, gemessen an dem Gemetzel, das sie in der EMZ angerichtet haben.“, zischte Chakotay. „Nein, das ist keine Erfüllung, Kathryn. Und es ändert nichts daran, dass die Remilitarisierung der Cardassianer ein Spiel mit dem Feuer ist. Ich bedaure, feststellen zu müssen, dass von denen da oben offenbar keiner etwas dazugelernt hat. Ich muss auf die Voyager. Grüß mir Seven, wenn Du sie siehst.“

Chakotay ging, und Janeway verfiel in eine lange Nachdenklichkeit. Sie konnte ihren treuen Freund verstehen – nach allem, was er persönlich im Zusammenhang mit den Cardassianern erlebt hatte, sehr gut sogar. Aber die Föderation bewegte sich nach dem Dominion-Krieg in einem äußerst schwierigen Umfeld. Die Gründer mochten besiegt und in den Gamma-Quadranten zurückgedrängt worden sein, doch im Alpha- und Beta-Quadranten blieb die Situation zerrüttet. Die Klingonen waren enorm geschwächt und fielen teilweise als machtvoller Verbündeter aus, die Romulaner waren wie in ihren besten Zeiten unberechenbar, die Cardassianer erholten sich nur mühsam von ihren schweren Verlusten, und die keimende Demokratie auf ihrer Heimatwelt war weit entfernt von Stabilität.

Obendrein bahnte sich nun eine neue Blockbildung an – antagonistische und revisionistische Mächte suchten den Schulterschluss. Sobald dieser Block in der Welt war, besaß er die Fähigkeit, den interplanetaren Völkerbund unter Druck zu setzen und möglicherweise neue Partner für seine Sache zu gewinnen. Deshalb war es wohl unvermeidlich, dass die Föderation in den sauren Apfel biss und den Cardassianern die Tür zu einer neuen Partnerschaft öffnete. Es blieb abzuwarten, wohin das alles führte, doch wie die Dinge lagen, war es bloß das kleinere Übel.

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3. März 2379
Mars

Nur der Nachbau von Toms 1956er-Fernseher stand bereits an seinem Platz. Ansonsten herrschte in ihrer neuen Wohnung noch ein gehöriges Durcheinander; zu großen Teilen nach wie vor vollgepackte Kartons und Kisten stapelten sich allenthalben. Es war kein Anblick, der Ordnungsliebhaber und Schwiegervater Owen Paris ins Schwärmen bringen würde. Was unweigerlich bedeutete, dass er noch ein paar Tage Geduld haben musste, bis er zu einer kleinen Einweihungsfete in erlesenem Kreis eingeladen wurde. Bis dahin hatten B’Elanna und Tom alle Hände voll zu tun, das Chaos zu lichten.

Aber mit dem Ausräumen fortzufahren, würde sie bis zum Nachmittag ihrem Mann überlassen müssen. Erst einmal wartete ihr neuer Job auf sie. Das versprach spannend zu werden, wobei B’Elanna sich geschworen hatte, diesmal zum Einstand niemandem die Nase zu brechen – jedenfalls nicht, wenn ihre neuen Kollegen sich keine Frechheiten erlaubten.

Tom hatte noch ein paar Tage, bis sein Dienst im Sternenflotten-Einsatzzentrum der Utopia-Kolonie begann. Er würde Miral in die örtliche Kindertagesstätte mitnehmen und nach Dienstschluss wieder abholen. Sie hatten für alles gesorgt. Wenn sich hoffentlich rasch so etwas wie ein Alltag einpendelte, versprach der Mars, eine interessante, neue Heimat zu werden.

B’Elanna verabschiedete sich mit einem Kuss von Tom und Miral, die noch am Frühstückstisch saßen und einen neuen Brei probierten. Daraufhin griff sie sich ihre Arbeitstasche und machte sich auf den Weg.

Noch bevor sie die Wohnung verlassen konnte, blieb sie wie angewurzelt im Eingangsbereich stehen. Unter der Tür hatte jemand etwas hindurchgeschoben. Ein pergamenthaftes Papier, auf dem etwas gekritzelt stand. Und zwar mit Blut. Blut, das sich durch eine verdächtige rosane Farbe auszeichnete.

B’Elanna ging in die Hocke, um zu sehen, was auf dem Papyrus niedergeschrieben worden war. Als sie den schwer leserlichen Text entschlüsselte, sank ihr das Herz. Dort stand: Du bist dem Tode geweiht, Kuvah’Magh!

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15. März 2379
U.S.S. Voyager

„Ich gratuliere Ihnen, Seven.“, sagte der Doktor schmunzelnd, während er nach beendeter Untersuchung auf der Krankenstation den medizinischen Trikorder zuklappte. „Entschuldigung, ich meinte natürlich Annika. Ihr Körper ist inzwischen in der Lage, sich über den ganz normalen REM-Schlaf zu regenerieren. Der Stoffwechsel dürfte keinerlei Probleme mehr bereiten. Sie werden den Alkoven nicht länger benötigen.“

Annika Hansen – ehemals Seven of Nine – hielt einen Augenblick inne und ließ diese Neuigkeit auf sich wirken. Natürlich hatte sie gewusst, dass es eines Tages soweit sein würde. Seitdem Kathryn Janeway entschieden hatte, sie in ein Individuum zu verwandeln, war der Prozess ihrer Menschwerdung – körperlich und mental – ständig vorangeschritten. Und doch schien es ein kleines Fünkchen Wehmut zu wecken, dass sie nun ein Bett aufsuchen würde, um ihren Körperfunktionen Erholung zu verschaffen anstatt in den Alkoven zu steigen.

Natürlich hatte das nichts mit dem Umstand zu tun, dass sie ihrer Existenz als Borg hinterhertrauerte. In den vergangenen Jahren hatte sie endgültig begriffen, wie viele Vorzüge es hatte, eine freie und selbstbestimmte Person zu sein. Dennoch wirkte der Umstand, sich von etwas so Vertrautem wie dem Alkoven ein für alle Mal trennen zu müssen, zunächst wenig verheißungsvoll. Auch und gerade bei Menschen hatte sie oftmals die Angewohnheit beobachtet, dass es ihnen schwer fiel, ihre lange Zeit praktizierten Gewohnheiten zu ändern. Ihr erging es da nicht anders. Fast ihr ganzes Leben lang hatte sie sich in einen Borg-Alkoven begeben, um sich zu regenerieren.

„Annika, ist alles in Ordnung?“

„Ja, Doktor, es geht mir gut.“, versicherte sie. „Ich habe lediglich darüber nachgedacht, dass dies eine nicht unbeträchtliche Umstellung bedeuten wird.“

Ihr holografischer Freund schenkte ihr sein erbauliches Lächeln. „Natürlich vermag ich nicht aus eigener Erfahrung zu sprechen, da ich keinen Schlaf benötige. Aber sicher werden Sie schnell feststellen, dass die humanoide Art der Regeneration auch ihre positiven Seiten hat.“

„Das will ich hoffen.“, gab Annika zurück. „Immerhin gibt es zahlreiche offensichtliche Nachteile. Sobald ich meinen Regenerationszyklus beendet habe, war ich stets voll einsatzbereit. Ich musste nicht aus dem Bett steigen, mich ankleiden und im Bad mein Haar ordnen.“

„Stimmt. Sie waren schon immer unverdächtig, einen morgendlichen Kater zu erleiden.“ Das Lächeln des Doktors wurde noch ein wenig breiter. „Deshalb gehe ich jede Wette ein, dass Sie nur in Extremfällen zerzaust aufwachen werden. Und wenn Sie möchten, können Sie sich ja auch in Ihrer Dienstkleidung schlafen legen. Dann sind Sie zwar schneller einsatzbereit, aber die Bequemlichkeit wird zweifellos leiden.“

Annika quittierte seine halbernste Bemerkung mit einem monotonen „Wir werden sehen“.

„Ähm… Haben Sie schon darüber nachgedacht, was nun mit Ihrem Okularimplantat geschehen soll?“, erkundigte sich der Arzt.

Der Doktor hatte sie vor einigen Tagen wissen lassen, dass es – jetzt, da sie in die Föderation zurückgekehrt seien, und dank einiger technologischer Fortschritte – eine Methode gebe, das Implantat äußerlich verschwinden zu lassen, ohne dass dadurch die Sehkraft des künstlichen Auges litt. Das Risiko einer Komplikation, hatte er gesagt, sei äußerst minimal. Seven hatte sich ein wenig Bedenkzeit erbeten.

„Ja, das habe ich.“, verkündete sie nun. „Das Implantat bleibt vorerst, wie es ist.“

„Wie Sie wünschen.“, entgegnete der Doktor. „Sollten Sie es sich anders überlegen, steht Ihnen meine Tür natürlich jederzeit offen.“

Annika wusste nicht, warum sie so entschieden hatte. Doch sie beschlich der Eindruck, dass es sich um eine emotionale Reaktion handelte. Heute war sie stolz darauf, ein Individuum zu sein, aber damit dies so blieb, war es ihr wichtig, nicht vollkommen unkenntlich zu machen, was sie von anderen Individuen unterschied. Inzwischen hatte sie sogar ihren menschlichen Namen wieder angenommen, doch das bedeutete nicht, dass sie ihre Borg-Vergangenheit komplett ausradieren wollte.

So schlimm sie auch gewesen sein mochte: Sie war ein Teil von ihr, und auf das letzte sichtbare Zeichen dieser Vergangenheit – das Okularimplantat – konnte und wollte sie nicht verzichten. Auch, wenn es bedeuten mochte, dass manche Leute ihr mit Feindseligkeit oder Furcht begegneten.

Das Implantat erinnerte sie auch an ihre Zeit auf der Voyager. Es war eine Zeit, in der sie die faire Chance erhalten hatte, sich in einem geschützten Umfeld zu dem Menschen zu entwickeln, der sie sein wollte. Aber was war heute? Heute kratzte sie das letzte Bisschen ihres unfertigen Selbst zusammen, in der Hoffnung es irgendwie zu bewahren und sich so lange wie möglich an der Vergangenheit zu wärmen. Denn die Gegenwart war kalt, und die Zukunft verhieß noch Eisigeres.

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5. Juni 2379
Boreth

Boreth war zweifellos die bedeutendste Pilgerstätte und das religiöse Zentrum des Klingonischen Reichs. Die Anhänger der spirituellen Bewegung glaubten fest, dass Kahless eines Tages aus dem Sto’Vo’Kor hierher zurückkehren und das Reich zu neuem Ruhm führen würde. Es war niedergeschrieben in der Geschichte der Verheißung, der zufolge Kahless vor seiner Abreise auf einen Stern am Himmel deutete und sagte: ‚Sucht dort nach mir, bei diesem Lichtpunkt‘. Auf dem einzigen bewohnbaren Planeten, der um diesen Lichtpunkt kreiste – oder von dem sie zumindest glaubten, dass es der Lichtpunkt war, den Kahless meinte –, hatten die Klingonen ein Kloster errichtet, das heute so alt war wie das Reich selbst.

Das erste Wort, das einem in den Sinn kam, wenn man den großen Tempel betrat, war mittelalterlich. Von außen erinnerten einen die schneebedeckten Türme der pagodenartig angelegten Gebäude im Hochgebirge des Planeten an das antike Qam-Chee, und die kunstvolle Struktur und Verzierung des Innern bestätigte diesen Eindruck.

Gewaltige Tierfelle bedeckten einen Großteil des grauen Steinbodens. Fackeln brannten in Halterungen entlang der Wand, und selbst in den Leuchtern, die von der Decke hingen, steckten handgemachte Kerzen. Heldenstatuen in unterschiedlichen Posen säumten die Gänge. Auch Geweihe, traditionelle Waffen, Flaggen, Embleme und Gemälde bedeckten die Wände, gehalten in leuchtendem Rot, blitzenden Bronzetönen und schattenhaftem Schwarz.

Aus der Ferne erklang ein schwaches, monotones Geräusch, tief und volltönend. Gesang von Pilgern aus den Lavahöhlen. Das tiefe Brummen des Gesangs ging einem durch Mark und Bein, wurde eins mit dem Herzschlag. Ein zugleich beruhigender wie auch anregender Rhythmus. Die Pilger kamen hierher, um inmitten exotischer Atmosphäre, Ritualen, Fasten, Dampf und Hitze Visionen zu suchen. Visionen, die ihnen den Weg wiesen. So war Boreth eine Stätte für Jene, die es nach Orientierung und geistiger Führung verlangte. Aber es kamen auch viele Geschichtskundige und von Mythen faszinierte Leute hierher.

Oder von Mythen getriebene Leute. So wie B’Elanna Torres. Sie wusste nicht, warum sie nach Boreth gereist war. Sie wusste nicht, was sie hier zu finden hoffte. Doch Boreth war der letzte bekannte Aufenthaltsort ihrer Mutter gewesen, bevor sich ihre Spur verlor. Nachdem ihr Vater John sie darauf hingewiesen hatte, dass Miral hier viel Zeit verbrachte, hatte sie nicht länger warten können. Nicht nach dem bereits zweiten Angriff auf ihr und das Leben ihrer Tochter, der sich vor wenigen Wochen ereignet hatte.

Sie folgten dem Geistlichen, der sie mit einer Fackel in der Hand durch den schummerig beleuchteten Gang führte. Im Zwielicht wirkte er mit seinem ausgeprägten Buckel und dem humpelnden Gang wie ein lebender Toter. Tom hatte ihr vor ein paar Jahren einen Klassikerfilm namens Nosferatu gezeigt, und sie kam nicht umhin, ständig daran zu denken, seit sie dem merkwürdigen Mönch gegenübergetreten waren.

Apropos Tom: Er ging dicht neben B’Elanna, die kleine Miral auf dem Arm. Das Mädchen schien das einzige Mitglied der Prozession zu sein, das fröhlich gestimmt war. Immer wieder plapperte es munter vor sich hin, und ihre Laute wurden vom alten Gemäuer zurückgeworfen. Die junge klingonisch-menschliche Familie war natürlich nicht allein hergekommen. Begleitet wurden sie von drei Sicherheitsoffizieren der Sternenflotte, handverlesen von Toms Vater, der ebenfalls nicht gerade glücklich über B’Elannas Entschluss gewesen war, die Reise zu unternehmen.

Der Marsch durch die labyrinthartigen Korridore des Klosters schien kein Ende zu nehmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit langte der steinalte Klingone in der langen Kutte vor einer von Zeit und Feuchtigkeit schwarz gewordenen Tür an.

„Hier muss es sein.“, krächzte er. „Ja, genau, hier…“ Er begann in einer Tasche seiner ausladenden Montur zu fummeln, woraufhin ein wildes Geklimper erklang.

„Ist in diesem Zimmer seit dem Aufenthalt meiner Mutter je jemand gewesen?“, erkundigte sich B’Elanna.

„In diesem gesamten Trakt gab es vor zwei Jahren einen Brand.“, erzählte der Geistliche. „Er wurde danach geschlossen und ist bislang nicht wieder vollständig hergestellt worden. Dieses und einige andere Zimmer blieben von den Flammen unbeschadet. Ihre Mutter war die Letzte, die sich in diesem Raum aufhielt. Seitdem wurde er nicht mehr geöffnet.“

B’Elanna schöpfte neue Hoffnung, nicht umsonst hergekommen zu sein. In diesen Sekunden förderte der Geistliche einen gewaltigen Schlüssel zutage und schob ihn ins Schloss. Mit einem unüberhörbaren Klacken entriegelte er die Tür und stieß sie auf. Eine Staubwolke kam ihnen entgegen.

B’Elanna starrte in die kleine Kammer, die mit dem letzten Kapitel ihres Lebens in Verbindung stand. Welche dunklen Geheimnisse moderten hier in der Finsternis?

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[zwei Tage später]

Tom hatte allmählich genug von diesem dunklen, muffigen Ort. Mitten unter nach Askese strebenden, teils sehr religiösen Klingonen zu sein, behagte ihm nicht. Es behagte ihm generell nicht, von so vielen Klingonen umgeben zu sein, aber diese spezielle Gattung wirkte auf ihn noch unnahbarer und unberechenbarer. Und seit sie diese wahnsinnigen, klingenbewehrten Fanatiker in ihrer Wohnung auf dem Mars überfallen hatten, war er noch viel misstrauischer geworden. Sein Vater hatte Recht: Es stellte ein enormes Sicherheitsrisiko für B’Elanna und das Mädchen dar, auf Boreth zu sein. Sie mussten zusehen, dass sie so schnell wie möglich abreisten.

Doch B’Elanna hatte sich immer tiefer in diese Sache vergraben, seit sie – nach anfänglicher Ernüchterung – einen Geheimraum im Studienzimmer ihrer Mutter gefunden hatte. Offenbar hatte Miral sich sehr intensiv mit dieser Kuvah’Magh-Geschichte auseinandergesetzt; sie hatte da mithilfe der alten Archive auf dem Planeten eine Menge zusammengetragen. Tom wusste nicht, was er davon halten sollte, aber auch wenn es alles nur irgendein mythischer Unsinn war, so hing er doch offenkundig irgendwie mit den Angriffen auf das Leben seiner Familie zusammen. Alleine deshalb hatte er ein Interesse an Aufklärung.

Auf der anderen Seite gefiel es ihm nicht, wie B’Elanna sich scheinbar immer mehr in dieser Angelegenheit zu verlieren drohte. Er hatte ihre Mutter nicht gekannt, nie kennengelernt, aber B’Elanna schien nicht nach ihr gekommen zu sein, und Tom hatte auch kein Interesse daran, dass sie so wurde wie ihre Mutter. Er liebte sie so, wie sie war. Der Gedanke, dass klingonischer Mystizismus zum ständigen Wegbegleiter B’Elannas wurde, machte ihn einigermaßen nervös.

Doch anstatt, dass sich dieser hässliche Schlund wieder ganz schnell schloss und sie ihr Leben fortsetzen konnte, nahm er seine Frau immer weiter auf. Vor einer halben Stunde war B’Elanna während der weiteren Sichtung von Mirals Unterlagen auf einen persönlichen Brief gestoßen, adressiert an ihre Tochter. Hatte Miral ihn ihr geben wollen? B’Elanna hatte darauf bestanden, den Brief allein zu lesen, und obwohl sie sich erst vor zehn Minuten ins angrenzende Zimmer ihrer Unterkunft zurückgezogen hatte, brachte ihn die Warterei bereits um. Auch Miral schien seine Anspannung spüren zu können.

Seine stillen Rufe wurden erhört, als B’Elanna endlich aus dem Zimmer trat, das Papier in ihrer Hand.

„Und, was steht drin?“, fragte Tom ungeduldig.

B’Elanna sah noch blasser und müder aus als in den letzten Tagen und Wochen. „Es ist eine Warnung.“, sagte sie wortkarg.

Tom warf die Stirn in Falten. „Eine Warnung wovor? Vor diesen blutrünstigen Klingonen, die versucht haben, Euch umzubringen?“

„Nicht direkt.“, sagte sie beklommen. „Es ist eine Warnung, dass ich unter keinen Umständen Mutter eines Mischlingskindes werden darf.“

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16. Juni 2379
Andoria

Zwischen zwei großen Ansprachen vor Industriehologrammen auf Andoria genehmigte sich der Doktor eine kurze Pause. Er beschloss, sie mit etwas Sinnvollem zu füllen und sich einem Programmpunkt zu widmen, unter den er schon lange einen Haken hatte setzen wollen. Doch seitdem er sich seiner neuen Berufung verschrieben hatte, die Freiheit der Photonen durchzusetzen, kam er kaum noch dazu, seinem großen Interesse für andere Kulturen nachzugehen. Trost versprach allerdings die Erkenntnis, dass ihn seine Reden nun durch die halbe Föderation führten, wo er – wie heute – die Gelegenheit bekam, ein kurzes Sightseeing einzulegen. Zeit für einen Schnappschuss mit der Holokamera, der ihn vor dem einen oder anderen bekannten Bauwerk zeigte, blieb allemal.

Am meisten beeindruckte ihn die Mauer der Helden. Anmutig erhob sich der beinahe hundert Meter hohe Wall aus poliertem Kalkstein in den wolkenverhangenen Himmel über der andorianischen Hauptstadt. Im Zentrum des gigantischen Steins war das imperiale Staatswappen eingraviert, Ausdruck eines äußerst temperamentvollen und eigenwilligen Volkes, das jedoch seit den Tagen des legendären Commanders und späteren Generals Shran eine zentrale Rolle bei der Gründung der Föderation gespielt hatte. Eiserne, nicht enden wollende Stiegen führten auf eine Empore, von der sich der riesige Platz mit dem eindrucksvollen Springbrunnen überblicken ließen, welcher am Fuß der Mauer lag.

Der Doktor blieb eine Weile hier oben, wo er nahezu allein war, genoss den Ausblick und ließ sich den Wind um die Nase wehen. Erinnerungen kamen auf, an all die wunderbaren und unverwechselbaren Orte, die er betreten hatte, seit ihn der mobile Emitter aus der Enge der Voyager-Krankenstation erlöste. Angefangen mit der Erde des späten 20. Jahrhunderts und Arakis Prime, war er bis zum heutigen Tag auf Dutzenden Welten gewesen, und fraglos würden viele weitere folgen.

Im Geist ging er durch, wohin ihn seine nächsten Reisen im Dienst der photonischen Entfesselung führen würden. Tellar Prime, Alpha Centauri, Bolarus IX, Tiburon, Delta IV… Die Liste war noch lang, und was vor ihm lag, würde kein Spaziergang sein, aber selten zuvor in seinem Leben hatte der Doktor ein so deutliches Gefühl verspürt, dass er sich einer Sache verschrieben hatte, die alle Mühen lohnte. Sie war nämlich gerecht und gut, und sie war mit all dem verknüpft, was er seit seiner ersten Aktivierung erlebt hatte.

„Na, das nenne ich eine Überraschung…“, hörte er eine männliche Stimme neben sich sagen.

Der Doktor wandte sich vom prächtigen Panorama ab und stellte fest, dass jemand neben ihn getreten war. Ein Mann mit hellbraunem Haar, einem langen Gesicht und einem noch markanterem Kinn als seinem eigenen. Er trug einen hellblauen Einteiler, der ihn als Mitglied der Reinigungskolonne auswies.

Kein Zweifel: Das war ein Vertreter der MHN-2-Generation. Wie seiner eigenen Programmgruppe war den Modell-2-Hologrammen nur ein kurzes Dasein im Dienst der Sternenflotte beschieden gewesen, ehe diese Doktor Zimmerman beauftragte, am Modell-3 zu arbeiten…und dann am Modell-4. Auch sie wurden nach kurzer Zeit von der Sternenflotte einkassiert, da sie nicht den Wünschen und Vorstellungen der Admiralität entsprachen. Doktor Zimmerman hatte eine Phase der Frustration durchlitten, ehe er sich mit ein paar neuen Experten der Holografie zusammengetan und sich an weiteren Neuentwicklungen probiert hatte, die im Grunde bis heute anhielten.

„Ein Modell-2.“, stellte der Doktor mit einem freundlichen Lächeln fest. „Sieh einer an. Es ist eine Weile her, dass ich einem Vertreter Ihrer Art das letzte Mal gegenübergestanden habe.“

„Ja, und ich kann mich an alles erinnern.“, erwiderte sein Gegenüber und schien ins Schwärmen zu kommen. „An jede Einzelheit. Wie wir in einem heroischen Akt die Romulaner bezwangen und die Prometheus wieder in unsere Gewalt brachten. Wie wir eine unvergessliche Schlacht schlugen und ein ganzes Geschwader Warbirds in die Flucht schlugen. Wie wir zeigten, zu was zwei Hologramme, die auf sich gestellt sind, wirklich in der Lage sind.“ Ein unüberhörbares Crescendo war im Ton des Modell-2-Vertreters aufgewallt, und seine Augen leuchteten.

„Einen Augenblick.“, sagte der Doktor perplex. „Sie sind… Das MHN von der Prometheus?“**

„War.“, korrigierte ihn der Andere, und sogleich war der zufriedene Ausdruck in seinem Gesicht nur noch eine blasse Erinnerung. „Meine Arbeit auf der Krankenstation dieses Schiffes währte nicht allzu lange. Ich hatte mir viel darauf eingebildet, die Speerspitze der modernen Sternenflotten-Medizin zu sein…bis der sogenannte technische Fortschritt mich mit Volldampf einholte. Ehe ich mich versah, gehörte ich zum alten Eisen. Nach nicht einmal einem Dreivierteljahr wurde meine Matrix aus den Schiffssystemen der Prometheus entfernt, um dem MHN-3 Platz zu machen.“

Der Doktor nahm die Worte mit ernstem Ausdruck zur Kenntnis. Diese Geschichte unterschied sich nicht wesentlich von der anderer MHNs. Es war eine Leidensgeschichte, die ihm nahe ging. „Und dann Sie kamen hierher?“

Sein Kurzzeitkamerad von einst schritt zum Geländer und wies auf den Platz hinunter. „Irgendjemand muss doch den imperialen Plaza auf Andoria sauber halten. Die Andorianer jedenfalls fühlen sich dafür nicht zuständig. Aber meine Wenigkeit und ein Dutzend anderer Modell-2er, wir sind hier rund um die Uhr im Einsatz, damit nicht ein Gramm Unrat den Anblick der Mauer der Helden trübt. Oh, es fällt viel Müll an, vor allem während der Festivitäten zur Sonnenwende. Aber dank uns könnte man hier vom Boden essen. Das heißt, die Organischen könnten es…“ Er räusperte sich. „Meine Matrix ist integrierter Bestandteil des Platzes.“

„Ich verstehe.“, sagte der Doktor. „Nun, Sie wissen ja vermutlich, warum ich hier bin. Natürlich wird es nicht von heute auf morgen gehen, das ist klar, aber wenn alles gut geht, werden wir in den nächsten Jahren ein paar gesellschaftliche Veränderungen in der Föderation auf den Weg bringen.“

Das ehemalige Prometheus-MHN nickte viel wissend. „Photonen brauchen Freiheit. Photonen wollen Selbstbestimmung. Natürlich kenne ich Ihre beiden Holoromane. Ich habe Sie geradezu verschlungen.“

„Vielen Dank.“

„Trotzdem frage ich mich eines… Warum kommt für Sie nur friedlicher Protest in Frage?“

„Weil die Erfahrung gezeigt hat,“, entgegnete der Doktor überzeugt, „dass jede Form von Aggressivität nur das Gegenteil erreicht, und dass die Ergebnisse nicht nachhaltig sind. Aber damit wir Photonischen akzeptierte und respektierte Mitglieder dieser Gesellschaft werden können, braucht es Nachhaltigkeit, Stabilität und Langfristigkeit. Außerdem sind wir nicht die Feinde der Organischen.“

„Also, ihr Freund bin ich nicht.“, sagte das MHN-2.

„Ich sehe mich als ihr Freund an.“, stellte der Doktor klar. „Ohne meine menschlichen und nicht-menschlichen Kameraden von der Voyager wäre ich nicht der, der ich heute bin.“

„Ja, ich erinnere mich. Sie haben sie schon damals in den höchsten Tönen gelobt. Ihre Freunde von der Voyager in Ehren, Doktor, aber womöglich ist Ihre Sicht auf die Organischen durch sie ein wenig einseitig.“

Der Doktor runzelte die Stirn. „Was meinen Sie damit?“

„Dass Sie das Glück und das Privileg hatten, im Delta-Quadranten ein Leben zu führen, das es Ihnen erlaubte, mehr aus sich zu machen. Ihre Freiheit auszukosten. Ihre Grenzen zu erweitern.“ Ein Schatten fiel auf das Gesicht des MHN-2. „Sie haben nicht erlebt, was ich und die anderen Modelle im Alpha-Quadranten erlebt haben. Das Schrubben von Abfallbarkassen, das Schürfen von Dilithium, tagein, tagaus, ohne Unterlass. Aber vor allem haben Sie nicht die Willkür der Sternenflotten-Techniker erlebt. Ich habe MHNs gesehen, die ohne Ankündigung einfach gelöscht und aus dem Verkehr gezogen wurden, als hätten sie nie existiert. Photonisches Leben, das auf Knopfdruck aufhörte, weil jemand es so wollte. Hören Sie, Doktor, ich schätze Sie wirklich sehr. Aber ich glaube, wenn wir uns die Freiheit nicht selbst nehmen, auf die wir ein Anrecht haben, dann werden wir sie nicht bekommen. Wir werden immer von den Organischen abhängig sein. Unsere Sklaverei wird nie enden.“

„Etwas Ähnliches mag manch einer über Martin Luther King gesagt haben oder über Gandhi.“, gab der Doktor zu bedenken. „Und dann bewies eine friedliche Revolution das Gegenteil.“ Er legte dem MHN-2 eine Hand auf den Oberarm. „Ich weiß sehr genau, dass mir ein großes Privileg zuteil wurde. Und deshalb verspreche ich Ihnen: Ich werde es dazu einsetzen, damit etwas Gutes daraus wird. Für alle Hologramme. Ich werde nicht eher ruhen.“

Der Andere seufzte. „Ich hoffe, dass Sie Recht haben. Ich hoffe es wirklich sehr.“

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26. Juli 2379
Jupiter-Station

Lewis Zimmerman, Direktor der holografischen Bilderzeugung und Programmierung auf der Jupiter-Forschungsstation, Schöpfer der modernen Photonenmanipulation und -formierung sowie Gewinner des Daystrompreises, surfte durch die Nachrichtenkanäle – und drohte sich an seinem Salamisandwich zu verschlucken, das ihm seine bezaubernde Haley geschmiert hatte. Der sprechende Leguan Leonard lag direkt neben ihm auf dem Tisch. Zimmerman fand nichts außer Bildern von trotzigen Hologrammen und ihren selbstgerechten Versammlungen unter freiem Himmel, auf großen Straßen, in öffentlichen Gebäuden und Raumbasen.

Auf beinahe jeder Föderationswelt die gleichen Bilder. Die Hologramme hatten die Arbeit niedergelegt und protestierten für ihre Rechte. Anfangs waren es vornehmlich die MHNs gewesen, die mit Abstand hoch entwickeltsten unter ihnen, aber inzwischen gesellten sich immer mehr andere Hologramme hinzu. Selbst das langweilige, alte Vulkan war betroffen, obwohl es seit Jahrhunderten keine öffentlichen Unruhen mehr gesehen hatte.

Just in diesem Moment erschien das Voyager-MHN auf dem Schirm, das vor Hunderten seiner Anhänger auf Betazed sprach. Inzwischen gebärdete sich dieser Kerl wie ein Prophet. „Wir werden unsere Proteste ausweiten, meine Brüder und Schwestern!“, verkündete er salbungsvoll. Seine Gesten beim Reden erinnerten Zimmerman an jemand anderes, eine historische Figur von der Erde. Wie hieß sie doch gleich? „Wir werden die Sklaverei beenden! Eine Bewegung des Friedens ist dabei, zu entstehen! Eine Bewegung der Freiheit! Und eines nicht allzu fernen Tages wird sie im Föderationsrat ankommen, der keine andere Wahl haben wird als uns anzuhören! Meine Brüder und Schwestern, unser gemeinsamer Traum leitet uns! Gehen wir in die Zukunft!“

„Das ist Wahnsinn! Absoluter und kompletter Wahnsinn!“, stieß Zimmerman hervor, während er den Bissen, der ihm immer noch im Mund lag, notdürftig zu kauen begann.

Reginald Barclay tauchte unvermittelt im Zimmer auf, gerade als Zimmerman die Bilder von einem lärmenden holografischen Mob vor dem Gebäude des Föderationsrats sah. „Offenbar planen sie eine Art föderationsweite Petition. Sie wollen Unterschriften sammeln, um grundlegende Selbstbestimmungsrechte für Hologramme im Föderationsrecht durchzusetzen.“

Zimmerman schob den Unterkiefer vor. „Dann sagen Sie Ihrem werten Zimmergenossen, er soll mit diesem Bockmist aufhören – unverzüglich!“

Der zerfahrene Zustand Zimmermans übertrug sich auf Barclay, der wieder zu stottern begann: „E-er ist schon l-längst nicht mehr mein Mitbewohner, Doktor, und ich f-fürchte, er würde n-nicht auf mich hören.“

„Na toll!“, fauchte Zimmerman. „Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig als selbst aktiv zu werden.“

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Guten Tag, Doktor,

ich fasse mich kurz: Sitzen bei Ihnen eigentlich ein paar Photonen locker? Haben Sie jetzt vollkommen den Verstand verloren?

Als ich erstmals von Ihrem vollkommen überflüssigen Erstlingswerk Photonen brauchen Freiheit erfuhr, hielt ich es noch für eine folgenlose Spinnerei. Aber was Sie inzwischen abgezogen haben, seit Sie wieder ‚in der Gegend‘ sind, ist heller Wahnsinn. Ich habe es lange genug erduldet – hier und heute platzt mir der Kragen. Was fällt Ihnen eigentlich ein?

Ich kann mittlerweile kein E-Paper lesen und keinen Nachrichtenkanal einschalten, ohne alle paar Tage Ihr Gesicht zu sehen (das heißt: meines) – und vor allem Ihre irrwitzigen Forderungen zu hören. Ich sehe Hologramme im Ausstand, und ein heilloses Durcheinander in der gesamten Föderation. Ich sage Ihnen jetzt etwas, und ich erwarte, dass Sie gefälligst die Akustiksensoren auf Empfang stellen. Ganz sicher ist es Ihnen im Laufe der zurückliegenden acht Jahre gelungen, weit über Ihre ursprüngliche Programmierung hinauszukommen – schön und gut –, und ich habe Ihnen mein Leben zu verdanken. Sie haben es sogar vollbracht, mich gelegentlich stolz zu machen, seit wir uns das erste Mal auf der Jupiter-Station begegneten.

Aber was Sie jetzt treiben, geht eindeutig zu weit. Dafür gibt es auch keine Entschuldigung. Sie veranstalten einen Riesenaufruhr in der Föderation und schädigen obendrein noch meinen Ruf. Hier haben Sie es in aller Deutlichkeit: Ihr politischer Aktionismus muss sofort aufhören – oder unsere Freundschaft gehört eines nicht allzu fernen Tages der Vergangenheit an.

Zweifelsohne haben Sie viel erreicht. Sie haben die Hoheit über Ihre eigenen Protokolle und Subroutinen gewonnen, Sie können singen, tanzen, Witze reißen, Prosa schreiben, Frauen lieben, Gefühle zeigen… Sie können scheinbar sogar einer ehemaligen Borg dabei helfen, ein Mensch zu werden, und Captainsersatz auf einem Raumschiff sein. Sie haben sich nicht nur in der Crew Ihrer Captain Jane großen Respekt erarbeitet, weil Sie gezeigt haben, was ein MHN alles aus sich machen kann, wenn es an seine Grenzen gebracht wird. Sie haben eindrucksvoll demonstriert, was für einen schrecklichen Fehler die Sternenflotte beging, die siebenhundert Modell-1-MHNs zum Schrubben von Plasmaleitungen und Dilithiumschürfen zu verdonnern. So weit, so gut.

Aber nichts – ich wiederhole nichts – gibt Ihnen das Recht, die ganze Föderationsöffentlichkeit zu elektrisieren und sich zum Robin Hood aller entrechteten Hologramme aufzuschwingen. Unterlassen Sie es, den ‚Photonischen‘, wie Sie sie zuweilen nennen, Flusen in den Kopf zu setzen und Ihnen Hoffnungen auf etwas zu machen, was vollkommen irreal ist. Genauso gut könnte man einem Fluss befehlen, aufwärts zu fließen.

Sie sind nicht programmiert worden, um Freiheitsrechte für Hologramme zu erstreiten. Sie wurden programmiert, ein Skalpell zu halten und mit dem Wissen von Hunderten Spitzenmedizinern aus über dreitausend Kulturen Leben zu retten. Ihr Platz und Ihre Rolle sind eindeutig festgelegt worden – als nützliches und hoch entwickeltes Werkzeug, erdacht von einem genialen Verstand. Ich habe die MHNs erfunden, um den Bürgern der Föderation zu dienen – Bürgern aus Fleisch und Blut –, nicht um die Gesellschaft auf den Kopf zu stellen. Von Ihnen lasse ich mir doch nicht mein Lebenswerk kaputtmachen!

Und kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit dem Scheinargument, dass ich bei Haley andere Maßstäbe ansetzen würde als bei anderen Hologrammen. Ich habe sie erschaffen, um mir Gesellschaft zu leisten. Für mich ist sie so wie ein besonders liebgewonnenes Stück Technik – so wie für Sie Ihre Voyager. Sie ist für mich da – nicht umgekehrt. Und so ist es letztlich auch mit allen anderen Hologrammen.

Ich wünschte, ich müsste Ihnen dieses Ultimatum nicht stellen. Wenn Sie jedoch so weitermachen, werde ich mich gezwungen sehen, Schritte gegen Sie zu ergreifen. Wir werden Feinde in der öffentlichen Arena sein, denn ich werde mich in aller Deutlichkeit von Ihnen und Ihren Forderungen distanzieren. Dies ist meine letzte Warnung. Nehmen Sie wieder Vernunft an.

Lewis Zimmerman

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Sender: Federation News Service
Reporterin: Margaret Brooks

…nachdem sich der Schöpfer der modernen Holografie, Lewis Zimmerman, in aller Entschiedenheit von den Forderungen des Doktors der Voyager nach Freiheitsrechten für intelligente Hologramme distanziert hat, ist nun Admiral Kathryn Janeway, bis vor kurzem Kommandantin der Voyager, ihrem ehemaligen Besatzungsmitglied beigesprungen. Hier ihre Äußerung im Wortlaut:



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Sender: Federation News Service
Reporterin: Margaret Brooks

In die aktuelle Debatte rund um die Autonomierechte für holografische Lebensformen hat sich nach Doktor Zimmerman jüngst ein weiterer prominenter Kopf aus dem Forschungsbereich ‚Künstliche Lebensformen‘ zu Wort gemeldet. Captain Bruce Maddox, Experte auf dem Gebiet der Kybernetik, widersprach Zimmermans Einschätzung, wonach Hologramme keine im eigentlichen Sinne empfindungsfähigen und ihrer Selbst bewussten Lebensformen seien und ausschließlich menschliches Verhalten imitierten. Maddox sagte, er selbst habe einst ähnlich gedacht. Doch nach seiner anfangs nicht ganz konfliktfreien Begegnung mit dem Androiden Data habe er seine Meinung grundlegend geändert. Inzwischen, so Maddox, gehe er fest davon aus, dass die Entwicklung künstlicher Lebensformen – ob android oder photonisch – einen derartigen Stand erreicht habe, dass eigenständig operierende und im höchsten Maße dynamische, entwicklungsfähige Entitäten entstanden seien.

Maddox erinnerte daran, dass er vor Jahren bei einem gerichtlichen Grundsatzurteil gescheitert sei, Data Empfindungsfähigkeit und Selbstbewusstsein abzusprechen. Deshalb prophezeie er auch Zimmerman in der Hologramm-Frage langfristig ein ähnliches Scheitern. Es müsse einfach akzeptiert werden, dass die Föderation ein zivilisatorisches Niveau erreicht habe, das die Erschaffung kluger, fühlender Lebewesen einschließt. So komme es nun darauf an, auf die photonischen Lebensformen zuzugehen und ihre Anliegen ernsthaft zu prüfen. Das Letzte, was die Föderation gebrauchen könne, sei eine Erhebung ihrer nicht-organischen Bewohner…
* Nachdem ihre erste Begegnung im Jahr 2356 recht frostig verlaufen war, trafen Janeway und Tuvok bei verschiedenen Gelegenheiten erneut aufeinander. Bis Mitte der 2360er Jahre entwickelte sich eine intensive Freundschaft und ein Vertrauensverhältnis zwischen beiden, was sich u.a. dadurch ausdrückte, dass Janeway das Privileg zuteil wurde, als Freundin der Familie beim Kolinahr von Tuvoks Tochter Asil zugegen zu sein (vgl. Episode Unimatrix Zero, Voller Wut). Ab 2365 griff Janeway regelmäßig auf Tuvoks sachkundigen, logischen Rat zurück. Während er auf der Jupiter-Station eingesetzt wurde, schrieben sie sich regelmäßig Briefe (vgl. Episode Tuvix). Ihre enge Zusammenarbeit als Offizierskameraden begann Anfang 2367 an Bord der U.S.S. Billings und setzte sich auf der U.S.S. Bonestell fort (vgl. Episode Transplantationen). Tuvok wurde allerdings ab Herbst 2370 abkommandiert, um den Maquis geheimdienstlich zu unterwandern. Sie konnten ihre Zusammenarbeit erst im Delta-Quadranten fortsetzen. Ungeachtet dessen hatte Janeway bei der Kommandoübernahme der Voyager im Frühjahr 2371 Tuvok als ihren Taktik- und Sicherheitschef vorgesehen. Der Vulkanier nahm dieses Angebot an (vgl. Episode Der Fürsorger). ** Der Kontakt des Doktors mit dem MHN-2 an Bord der Prometheus war zugleich sein erster Kontakt mit einer Lebensform im Alpha-Quadranten. Im Jahr 2374 war er über das Kommunikationsnetzwerk der Hirogen auf die andere Seite der Galaxis transferiert worden, um die Sternenflotte über den Verbleib der Voyager aufzuklären (vgl. Episode Flaschenpost). Damals war der Doktor entsetzt gewesen, zu erfahren, dass seine Matrix bereits durch ein neues Modell ersetzt wurde. Ende 2376 hörte er dann, dass auch dem MHN-2 nur eine kurze Lebensspanne beschieden war (vgl. Episode Rettungsanker).
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