[vor 1800 Jahren]
Die erste Hälfte der Nacht verbrachte Zakal damit, grünschwarzes Blut zu husten und dem Wind zu lauschen, der Sand an die Flanken der alten Bergfestung schleuderte. Es war dunkel in der großen, fensterlosen Kammer, abgesehen von dem matten Licht, das aus dem Zimmer der Eingeweihten filterte. Aber Zakal hatte genug Stürme gesehen, um sich diesen vorzustellen: eine gewaltige, vibrierende Säule aus rotem Sand, die alles umfasste, bis nur noch eine sich ständig bewegende Wüste blieb. Wer den törichten Fehler beging, sich bei solchem Wetter ohne Schutz nach draußen zu wagen, wurde am nächsten Tag als Mumie gefunden – vollkommen ausgetrocknet, die Haut wie Pergament, das bei der geringsten Berührung brach.
Gegen Mitternacht veränderte sich die Farbe der Flecken auf dem Tuch. Dunkles Grün ging in helles über, gewann die Tönung einer D’mallu–Rebe nach einem der seltenen Regenfälle.
Kurz darauf verließ ihn die Heilerin, deutliches Zeichen dafür, dass sie ihm keine Hilfe mehr gewähren, die Schmerzen nicht weiter lindern konnte. Und dass er noch vor dem Sonnenaufgang sterben würde. Der Kranke spürte ihre Erleichterung. Sie gehörte nicht zum Magischen Orden und hatte sich mit einer Mischung aus Verachtung und Entsetzten um ihren Patienten gekümmert. Denn es war Zakal, der Schreckliche, der größte aller Magiermeister, ausgestattet mit einem mächtigen Geist, der zweimal die Haut seiner Feinde geschmolzen hatte, auf dass sie brodelnde Pfützen zu ihren Füßen bildete.
Er sprach kein Wort, um die Heilerin zurückzuhalten, schloss nur die Augen und lächelte dünn. Es erschien angemessen, hier zu liegen und in der letzten Nacht seines Lebens das Heulen des Sturms zu hören. Vor achthundertsiebenundachtzig Phasen war er während eines solchen Sturms geboren worden, und seine Mutter hatte ihn Zakal genannt: Zorn, Wüstensturm.
Nach einer Weile döste er ein, doch ein Bild weckte ihn plötzlich: Khoteth, hager und jung und stark; sie zog den schwarzen Reisemantel enger um die Schultern und wirkte sehr ernst. Zakal sah Brauen, die unter dem Gewicht einer bestimmten Absicht nachzugeben schienen, sich dicht über den Augen wölbten. Khoteth durchquerte die Wüste, kam zu ihm. Zakal wusste dies mit unerschütterlicher Gewissheit, trotz der drei Eingeweihten, die im Nebenzimmer wachten, nicht über seinen alten, sterbenden Körper, sondern über eine weitaus gefährlichere Waffe: sein Bewusstsein. Selbst ihre gemeinsamen Bemühungen, ihn von der Wahrheit abzuschirmen, konnte nicht vollständig die Verbindung zu jener Frau unterbrechen, die er wie eine Tochter aufgezogen hatte. Khoteth spürte den bevorstehenden Tod ihres Meisters und würde eintreffen, bevor die Sonne aufging.
Die junge Hohenmeisterin riskierte ihr Leben, indem sie während eines Sandsturms durch die Wüste wanderte. Einmal mehr lauschte Zakal dem Wind. Möge er Khoteth verschlingen! Er versuchte, die alte Kraft zu sammeln, aber Fieber und die festen mentalen Schilde der Eingeweihten hinderten ihn daran. Zakal begnügte sich damit, den Sturm so zu bejubeln, als habe er ihn selbst beschworen. Trotzdem zweifelte er nicht daran, dass es Khoteth gelingen würde, das Ziel ihrer Reise zu erreichen.
Deshalb war er keineswegs überrascht, als einige Stunden später Khoteths Stimme das Gespinst seiner Fieberträume durchdrang.
„Meister? Ich bin gekommen.“
Draußen heulte der Wind nicht mehr; nur Zakal stöhnte, wandte das Gesicht der schwarzen Steinwand zu und verzichtete darauf, den Kopf zu heben. Die Präsenz seiner früheren Schülerin – jetzt der mächtigen Kaste der Hohenmeisterinnen angehörig (die noch älter war als die des Magischen Ordens) – erfüllte ihn einerseits mit Zuneigung und andererseits mit bitterem Hass.
„Geh fort.“ Er wollte diesen Worten den donnernden Tonfall der Autorität geben, doch sie klangen brüchig und schwach – das kraftlose Schnaufen eines alten Mannes. Zakal fühlte sich beschämt. Konnte dies die Stimme des Herrschers von ShanaiKahr sein, des mächtigsten und gefürchtetsten Gedankenlords von Vulkan? Er kannte mehr Geheimnisse der Macht als alle Hohenmeisterinnen zusammen, aber dummerweise hatte er zu viele von ihnen an jene Frau vertraut, die nun vor ihm stand. Zakal drehte den Kopf – ganz langsam, denn jede Bewegung ließ ihn schwindelig werden und verstärkte den Hustenreiz –, öffnete vom Fieber gezeichnete Augen und sah sie an, die er als Tochter geliebt und als Nachfolgerin erwählt hatte. Jetzt hasste er sie als Feind. „Verlass mich, Khoteth. Ich bin Dein Gefangener, aber Du kannst nicht bestimmen, wann ich sterbe. Ich habe noch etwas Zeit.“
Khoteth strich die Kapuze ihres Umhangs zurück, und rostfarbener Sand rieselte zu Boden. Eine sehr junge Frau. Zu jung für eine Hohenmeisterin, ja fast noch ein Kind!, dachte Zakal missbilligend. Doch die Verantwortung hatte bereits erste frühe Falten des Alters zwischen den Brauen entstehen lassen. Der Ernst in Khoteths Gesicht wich nun sorgfältiger Neutralität, doch Zakal bemerkte schwelende Emotion in den Augen, einziger Hinweis auf das Temperament, das Khoteth von Geburt an begleitet hatte. Als Kind war sie ein echtes Wunder gewesen, soweit es die geheimen Künste betraf: Sie saugte Zakals Wissen regelrecht auf und offenbarte dabei eine schier unersättliche Neugier. Zakal hing an der Macht, aber gleichzeitig stellte er sich einer unangenehmen Erkenntnis: Diese Halbstarke würde zu einer reifen Frau heranwachsen, die ihren Lehrer – den größten aller Lehrer – übertreffen konnte. Von vorneherein hatte dieses Potential in ihr gelodert, und das war es, was Zakal an ihr so gereizt hatte: eine ihm ebenbürtige Essenz zu finden. Es war mehr daraus geworden, die Zeit war mit ungeheuren Schritten weitergestrebt. Wenn man nicht in der Lage ist, den Feind zu besiegen, so gewinne man ihn als Freund. Und Zakal bestimmte das Mädchen zu seiner Nachfolgerin, denn eines Tages mochten ihm Khoteths Fähigkeiten die Möglichkeit geben, nicht nur über eine Stadt zu herrschen. Damals sah er sich bereits als Herr über alle westlichen Städte, und vielleicht wurde er sogar zum Meister der Nördlichen Hemisphäre. Zakal, der weise Lehrer und Berater, musste sich damit zufrieden geben, ein Bündnis mit dieser enormen Macht einzugehen, wenn er ihre Quelle nicht kontrollieren konnte.
Zakal war viel zu schwach, um sich aufzusetzen. Er blieb liegen, die Hände an schmerzende Rippen gepresst. Blut und Schleim füllten seine Lungen, und eine Zeitlang keuchte er hilflos. Khoteth betrachtete ihn ruhig, die Arme noch immer in den Falten des Umhangs verborgen. Zakal wusste, dass sie seinen Mantel verbrennen würde, sobald sie die Bergfestung verließ, stärker denn je zuvor.
„Wie kannst Du es ertragen, Deinen alten Lehrer so zu sehen?“, brachte der Sterbende mühsam hervor.
„Ich kenne Dich, Meister. Du verdienst kein Mitgefühl. Ich habe gesehen, wie Du gnadenlos getötet hast, ohne so etwas wie Schuld zu empfinden. Du bist nicht sühnebereit, also verdienst Du keine Gnade.“
Zakals Züge verhärteten sich: Aus der Mitleid erweckenden Grimasse wurde eine Fratze des Zorns. „Ja, Du hast Recht. Und aus dem gleichen Grund bist Du hier: Du willst mich töten. Vielleicht hast Du es nicht auf den Körper abgesehen. Aber auf meinen Geist. Du bist hier, um mir ein zweites Leben in Selbstbestimmung zu verweigern. Du willst mich Deiner Natur unterwerfen.“
„Ich brauche Dich, Meister.“, entgegnete Khoteth vollkommen unbeeinflusst. „Nortakh wird mit jedem Tag mächtiger. Anfangs erwog ich, Dein Katra den Winden zu überlassen. Aber jetzt nicht mehr.“
„Und Surak?“ Zakal hatte lange genug gelebt, um zu wissen, dass der Entwicklung eines Volkes manchmal die widersprüchlichen Tendenzen der Revolution einen Streich spielten. Surak war ein solcher Streich, und neben den zwei großen und vier kleineren Reichen hatte sich die Bewegung auf Vulkan ausgebreitet wie ein Lauffeuer.
„Nortakh teilt Suraks Vision nicht, aber er steht auch nicht gegen ihn. Um seine Macht zu sichern, verlässt er den Boden seiner Weltanschauung. Das macht ihn flexibler als unsereins. Und wenn wir unsere Werte nicht auch der Not zu opfern gedenken, müssen wir so unbezwingbar wie Nortakh verschlagen sein.“
Zakal hustete um ein neuerliches Mal ins Tuch und beobachtete, wie weitere Flecken darin entstanden. „Surak und Nortakh? Das wird niemals ein Bündnis. Ich verrate Dir, wieso: Surak wird vorher zu Staub zerfallen. Sein Friedensutopia ist ein kindischer Traum, eine Weigerung, die Realität zu akzeptieren. Alle Geschöpfe müssen gegeneinander kämpfen, und dabei setzen sich die Stärkeren durch – so lautete das eherne Gesetz des Lebens. Surak will, dass wir unsere eigene Natur leugnen.“ Schmerz entflammte in Zakals Brust, und er keuchte einmal mehr. Sein Leiden war so echt und offensichtlich, dass Khoteth aus der Fassung geriet und sich besorgt dem alten Mann näherte. Doch Zakal winkte sie mit dem blutigen Stoff zurück. Nach einigen Sekunden gelang es ihm wieder, verständliche Worte zu formulieren. „Surak wird Episode bleiben. Er wird keinen Erfolg erzielen. Irgendwann wird seinen Anhängern die Wesensblasphemie abgehen wie Schuppen von den Augen.“
„Bis dahin stecken andere vor ihm zurück. Karatek und seine Anhänger verlassen Vulkan. Damit Surak erfolgreich sein kann. Selbst Karatek ist die Sinnlosigkeit weiterer Kriege bewusst.“
Zakal war sprachlos. Karateks Vater, S’task, hatte bis zu seinem Tod eines der kleineren Reiche auf der Südhalbkugel beherrscht – im Raum Raal –, doch sein Zögling war ein Purist und Extremist geworden. Er träumte von der reinen Wesensart der Vulkanier; von einer Gesellschaft, die wieder zu sich fand. Damit wäre er erste Wahl für eine Allianz mit Zakals Territorium gewesen. Doch jetzt reiste Karatek ab? „Ungeheuerlich! Dieser Wurm!“, entfuhr es Zakal, wütend über die Feigheit Karateks und seiner Gefährten. Darüber hinaus demütigte es ihn, dass ihm die drei Eingeweihten im Nebenzimmer derartige Informationen vorenthielten. Wieder brodelte Schmerz in ihm, heißes Feuer, das von der Magengrube bis zur Kehle brannte.
„Es ist die Wahrheit.“, konstatierte die junge Hohenmeisterin kühl. „Zwölftausend bereiten sich auf die Reise an Bord eines Konvois vor. Er wird jenseits der Grenzen nach einer neuen Heimat suchen. Eine Heimat für Karateks wahres Reich.“
Lodernde Agonie verdrängte den Zorn aus Zakal. Die faulige Flüssigkeit in den Lungen schien sich in Säure zu verwandeln, die ihn innerlich verätzte, ihn langsam auffraß. Er nutzte Hass anstellte der Gedankenregeln, und damit schaffte er es, zumindest einen Teil der Pein aus der bewussten Wahrnehmung zu verbannen. „So steht es also…“, schnaufte er. „Diese Welt wird vergehen, unter der Regentschaften von Verrätern, während wahre Vulkanier ihr Geburtsrecht aufgeben. Im Namen der Elemente schwöre ich: Würde mich dieser sterbende Körper nicht fesseln, ich würde Karatek aufsuchen und überzeugen, hier zu bleiben und zu kämpfen. Ich nähme jede Gelegenheit wahr, Surak zu töten…“
„Ich weiß, Meister. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass Dein Katra nicht in die falschen Hände gerät. Bei mir wird es sicher sein.“ Khoteth holte eine bläuliche Kugel hervor. „Es wird Zeit.“
„Nein!“ Zakal versuchte zu schreien. „Ich lasse nicht zu, dass man mich beugt; ich bin der wahre Herrscher Vulkans. Meine Aufgabe ist noch nicht beendet.“ Aber seine Stimme war kaum mehr als ein unartikuliertes Röcheln.
Khoteth schüttelte den Kopf. „Du hast noch nie verstanden, was es bedeutet, einer größeren Sache zu dienen, Meister. Und dies ist Dein Untergang. Nicht jedoch für Dein Katra. Du solltest dankbar sein, dass es das Schicksal so gut mit Dir meint. Denn Du wirst für Vulkans Zukunft weiter eine Rolle spielen. Bei mir wird diese Rolle Dein Vermächtnis nicht korrumpieren. Nur bei mir, die ich Dein Reich übernehmen und lenken werde.“
Bitterkeit klebte an Zakals Daumen, und er begann zu husten, spuckte Blut in alle Richtungen. Während er verzweifelt nach Atem rang, ging ihm ein absurder Gedanke durch den Kopf. Ich ertrinke. Ich ertrinke mitten in der Wüste, wo es überhaupt kein Wasser gibt… Trotz der Schmerzen schüttelte er sich in einem stummen, fiebrigen Lachen.
Sanfte Arme halfen Zakal in eine sitzende Position, sodass er nach Luft schnappen konnte. Khoteth stand direkt neben dem alten Vulkanier und stützte ihn. Der sterbende Meister begriff, dass die jüngere Frau sein Leben aufs Spiel setzte. Die Kugel lag am Fußende des Bettes.
„Ich kann Dich zwingen.“, sprach Khoteth. „Aber ich mache keinen Gebrauch von dieser Möglichkeit. Nein, Du wirst mir Dich freiwillig zum Geschenk machen. Oder wählst den Weg in den unsicheren Äther der Elemente.“
Zakal verstand. Khoteth appellierte nicht nur an seine Selbstsucht, sondern auch an sein Verständnis als ihr Meister. Mitten im Dunst des sterbenden Selbst formte sich ein von Abscheu und Verachtung geprägter Gedanke, trat klar aus dem dunklen Nebel des Todes hervor: Ich habe eine Natter an meinem Busen gestillt! Eine Natter!
Es blieb ihm keine Wahl. Zakal schloss die Augen, lehnte sich an Khoteth und nutzte die finalen Sekunden seines Lebens, um eine Entscheidung zu treffen, deren Ausgang schon vorher festgestanden hatte. Das machte es weitaus bitterer. Der Versuch, die junge Hohenmeisterin mental zu übernehmen, grenzte an Tollkühnheit: Die drei Eingeweihten würden sofort eingreifen. Und selbst ohne ihre Hilfe bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass Khoteth als Sieger aus dem geistigen Gefecht hervorging. Vor allem aber: Je mehr er sich wehrte, desto schwieriger wurde es für sie, seine mentale Essenz in sich aufzunehmen. Konnte, wollte er das riskieren?
„Also gut…“, seufzte er schließlich.
Aber Khoteth brauchte seine Erlaubnis nicht. Als ihre kühlen Finger über die wüstenheiße Haut an den Schläfen des alten Meisters strichen, konzentrierte sich das Selbst im Körper auf einige letzte Gedanken:
Alles was ich bin, alles, was ich sein werde, wird Rache an Dir nehmen, Surak. Ich werde nie zulassen, dass Du Vulkan verdirbst. Solltest Du Erfolg haben – auch wenn es zehntausend Phasen dauern mag: Ich werde Dich davontilgen, Schandfleck. Meine Rache wird kommen…
Draußen verstummte der Wind.
Die erste Hälfte der Nacht verbrachte Zakal damit, grünschwarzes Blut zu husten und dem Wind zu lauschen, der Sand an die Flanken der alten Bergfestung schleuderte. Es war dunkel in der großen, fensterlosen Kammer, abgesehen von dem matten Licht, das aus dem Zimmer der Eingeweihten filterte. Aber Zakal hatte genug Stürme gesehen, um sich diesen vorzustellen: eine gewaltige, vibrierende Säule aus rotem Sand, die alles umfasste, bis nur noch eine sich ständig bewegende Wüste blieb. Wer den törichten Fehler beging, sich bei solchem Wetter ohne Schutz nach draußen zu wagen, wurde am nächsten Tag als Mumie gefunden – vollkommen ausgetrocknet, die Haut wie Pergament, das bei der geringsten Berührung brach.
Gegen Mitternacht veränderte sich die Farbe der Flecken auf dem Tuch. Dunkles Grün ging in helles über, gewann die Tönung einer D’mallu–Rebe nach einem der seltenen Regenfälle.
Kurz darauf verließ ihn die Heilerin, deutliches Zeichen dafür, dass sie ihm keine Hilfe mehr gewähren, die Schmerzen nicht weiter lindern konnte. Und dass er noch vor dem Sonnenaufgang sterben würde. Der Kranke spürte ihre Erleichterung. Sie gehörte nicht zum Magischen Orden und hatte sich mit einer Mischung aus Verachtung und Entsetzten um ihren Patienten gekümmert. Denn es war Zakal, der Schreckliche, der größte aller Magiermeister, ausgestattet mit einem mächtigen Geist, der zweimal die Haut seiner Feinde geschmolzen hatte, auf dass sie brodelnde Pfützen zu ihren Füßen bildete.
Er sprach kein Wort, um die Heilerin zurückzuhalten, schloss nur die Augen und lächelte dünn. Es erschien angemessen, hier zu liegen und in der letzten Nacht seines Lebens das Heulen des Sturms zu hören. Vor achthundertsiebenundachtzig Phasen war er während eines solchen Sturms geboren worden, und seine Mutter hatte ihn Zakal genannt: Zorn, Wüstensturm.
Nach einer Weile döste er ein, doch ein Bild weckte ihn plötzlich: Khoteth, hager und jung und stark; sie zog den schwarzen Reisemantel enger um die Schultern und wirkte sehr ernst. Zakal sah Brauen, die unter dem Gewicht einer bestimmten Absicht nachzugeben schienen, sich dicht über den Augen wölbten. Khoteth durchquerte die Wüste, kam zu ihm. Zakal wusste dies mit unerschütterlicher Gewissheit, trotz der drei Eingeweihten, die im Nebenzimmer wachten, nicht über seinen alten, sterbenden Körper, sondern über eine weitaus gefährlichere Waffe: sein Bewusstsein. Selbst ihre gemeinsamen Bemühungen, ihn von der Wahrheit abzuschirmen, konnte nicht vollständig die Verbindung zu jener Frau unterbrechen, die er wie eine Tochter aufgezogen hatte. Khoteth spürte den bevorstehenden Tod ihres Meisters und würde eintreffen, bevor die Sonne aufging.
Die junge Hohenmeisterin riskierte ihr Leben, indem sie während eines Sandsturms durch die Wüste wanderte. Einmal mehr lauschte Zakal dem Wind. Möge er Khoteth verschlingen! Er versuchte, die alte Kraft zu sammeln, aber Fieber und die festen mentalen Schilde der Eingeweihten hinderten ihn daran. Zakal begnügte sich damit, den Sturm so zu bejubeln, als habe er ihn selbst beschworen. Trotzdem zweifelte er nicht daran, dass es Khoteth gelingen würde, das Ziel ihrer Reise zu erreichen.
Deshalb war er keineswegs überrascht, als einige Stunden später Khoteths Stimme das Gespinst seiner Fieberträume durchdrang.
„Meister? Ich bin gekommen.“
Draußen heulte der Wind nicht mehr; nur Zakal stöhnte, wandte das Gesicht der schwarzen Steinwand zu und verzichtete darauf, den Kopf zu heben. Die Präsenz seiner früheren Schülerin – jetzt der mächtigen Kaste der Hohenmeisterinnen angehörig (die noch älter war als die des Magischen Ordens) – erfüllte ihn einerseits mit Zuneigung und andererseits mit bitterem Hass.
„Geh fort.“ Er wollte diesen Worten den donnernden Tonfall der Autorität geben, doch sie klangen brüchig und schwach – das kraftlose Schnaufen eines alten Mannes. Zakal fühlte sich beschämt. Konnte dies die Stimme des Herrschers von ShanaiKahr sein, des mächtigsten und gefürchtetsten Gedankenlords von Vulkan? Er kannte mehr Geheimnisse der Macht als alle Hohenmeisterinnen zusammen, aber dummerweise hatte er zu viele von ihnen an jene Frau vertraut, die nun vor ihm stand. Zakal drehte den Kopf – ganz langsam, denn jede Bewegung ließ ihn schwindelig werden und verstärkte den Hustenreiz –, öffnete vom Fieber gezeichnete Augen und sah sie an, die er als Tochter geliebt und als Nachfolgerin erwählt hatte. Jetzt hasste er sie als Feind. „Verlass mich, Khoteth. Ich bin Dein Gefangener, aber Du kannst nicht bestimmen, wann ich sterbe. Ich habe noch etwas Zeit.“
Khoteth strich die Kapuze ihres Umhangs zurück, und rostfarbener Sand rieselte zu Boden. Eine sehr junge Frau. Zu jung für eine Hohenmeisterin, ja fast noch ein Kind!, dachte Zakal missbilligend. Doch die Verantwortung hatte bereits erste frühe Falten des Alters zwischen den Brauen entstehen lassen. Der Ernst in Khoteths Gesicht wich nun sorgfältiger Neutralität, doch Zakal bemerkte schwelende Emotion in den Augen, einziger Hinweis auf das Temperament, das Khoteth von Geburt an begleitet hatte. Als Kind war sie ein echtes Wunder gewesen, soweit es die geheimen Künste betraf: Sie saugte Zakals Wissen regelrecht auf und offenbarte dabei eine schier unersättliche Neugier. Zakal hing an der Macht, aber gleichzeitig stellte er sich einer unangenehmen Erkenntnis: Diese Halbstarke würde zu einer reifen Frau heranwachsen, die ihren Lehrer – den größten aller Lehrer – übertreffen konnte. Von vorneherein hatte dieses Potential in ihr gelodert, und das war es, was Zakal an ihr so gereizt hatte: eine ihm ebenbürtige Essenz zu finden. Es war mehr daraus geworden, die Zeit war mit ungeheuren Schritten weitergestrebt. Wenn man nicht in der Lage ist, den Feind zu besiegen, so gewinne man ihn als Freund. Und Zakal bestimmte das Mädchen zu seiner Nachfolgerin, denn eines Tages mochten ihm Khoteths Fähigkeiten die Möglichkeit geben, nicht nur über eine Stadt zu herrschen. Damals sah er sich bereits als Herr über alle westlichen Städte, und vielleicht wurde er sogar zum Meister der Nördlichen Hemisphäre. Zakal, der weise Lehrer und Berater, musste sich damit zufrieden geben, ein Bündnis mit dieser enormen Macht einzugehen, wenn er ihre Quelle nicht kontrollieren konnte.
Zakal war viel zu schwach, um sich aufzusetzen. Er blieb liegen, die Hände an schmerzende Rippen gepresst. Blut und Schleim füllten seine Lungen, und eine Zeitlang keuchte er hilflos. Khoteth betrachtete ihn ruhig, die Arme noch immer in den Falten des Umhangs verborgen. Zakal wusste, dass sie seinen Mantel verbrennen würde, sobald sie die Bergfestung verließ, stärker denn je zuvor.
„Wie kannst Du es ertragen, Deinen alten Lehrer so zu sehen?“, brachte der Sterbende mühsam hervor.
„Ich kenne Dich, Meister. Du verdienst kein Mitgefühl. Ich habe gesehen, wie Du gnadenlos getötet hast, ohne so etwas wie Schuld zu empfinden. Du bist nicht sühnebereit, also verdienst Du keine Gnade.“
Zakals Züge verhärteten sich: Aus der Mitleid erweckenden Grimasse wurde eine Fratze des Zorns. „Ja, Du hast Recht. Und aus dem gleichen Grund bist Du hier: Du willst mich töten. Vielleicht hast Du es nicht auf den Körper abgesehen. Aber auf meinen Geist. Du bist hier, um mir ein zweites Leben in Selbstbestimmung zu verweigern. Du willst mich Deiner Natur unterwerfen.“
„Ich brauche Dich, Meister.“, entgegnete Khoteth vollkommen unbeeinflusst. „Nortakh wird mit jedem Tag mächtiger. Anfangs erwog ich, Dein Katra den Winden zu überlassen. Aber jetzt nicht mehr.“
„Und Surak?“ Zakal hatte lange genug gelebt, um zu wissen, dass der Entwicklung eines Volkes manchmal die widersprüchlichen Tendenzen der Revolution einen Streich spielten. Surak war ein solcher Streich, und neben den zwei großen und vier kleineren Reichen hatte sich die Bewegung auf Vulkan ausgebreitet wie ein Lauffeuer.
„Nortakh teilt Suraks Vision nicht, aber er steht auch nicht gegen ihn. Um seine Macht zu sichern, verlässt er den Boden seiner Weltanschauung. Das macht ihn flexibler als unsereins. Und wenn wir unsere Werte nicht auch der Not zu opfern gedenken, müssen wir so unbezwingbar wie Nortakh verschlagen sein.“
Zakal hustete um ein neuerliches Mal ins Tuch und beobachtete, wie weitere Flecken darin entstanden. „Surak und Nortakh? Das wird niemals ein Bündnis. Ich verrate Dir, wieso: Surak wird vorher zu Staub zerfallen. Sein Friedensutopia ist ein kindischer Traum, eine Weigerung, die Realität zu akzeptieren. Alle Geschöpfe müssen gegeneinander kämpfen, und dabei setzen sich die Stärkeren durch – so lautete das eherne Gesetz des Lebens. Surak will, dass wir unsere eigene Natur leugnen.“ Schmerz entflammte in Zakals Brust, und er keuchte einmal mehr. Sein Leiden war so echt und offensichtlich, dass Khoteth aus der Fassung geriet und sich besorgt dem alten Mann näherte. Doch Zakal winkte sie mit dem blutigen Stoff zurück. Nach einigen Sekunden gelang es ihm wieder, verständliche Worte zu formulieren. „Surak wird Episode bleiben. Er wird keinen Erfolg erzielen. Irgendwann wird seinen Anhängern die Wesensblasphemie abgehen wie Schuppen von den Augen.“
„Bis dahin stecken andere vor ihm zurück. Karatek und seine Anhänger verlassen Vulkan. Damit Surak erfolgreich sein kann. Selbst Karatek ist die Sinnlosigkeit weiterer Kriege bewusst.“
Zakal war sprachlos. Karateks Vater, S’task, hatte bis zu seinem Tod eines der kleineren Reiche auf der Südhalbkugel beherrscht – im Raum Raal –, doch sein Zögling war ein Purist und Extremist geworden. Er träumte von der reinen Wesensart der Vulkanier; von einer Gesellschaft, die wieder zu sich fand. Damit wäre er erste Wahl für eine Allianz mit Zakals Territorium gewesen. Doch jetzt reiste Karatek ab? „Ungeheuerlich! Dieser Wurm!“, entfuhr es Zakal, wütend über die Feigheit Karateks und seiner Gefährten. Darüber hinaus demütigte es ihn, dass ihm die drei Eingeweihten im Nebenzimmer derartige Informationen vorenthielten. Wieder brodelte Schmerz in ihm, heißes Feuer, das von der Magengrube bis zur Kehle brannte.
„Es ist die Wahrheit.“, konstatierte die junge Hohenmeisterin kühl. „Zwölftausend bereiten sich auf die Reise an Bord eines Konvois vor. Er wird jenseits der Grenzen nach einer neuen Heimat suchen. Eine Heimat für Karateks wahres Reich.“
Lodernde Agonie verdrängte den Zorn aus Zakal. Die faulige Flüssigkeit in den Lungen schien sich in Säure zu verwandeln, die ihn innerlich verätzte, ihn langsam auffraß. Er nutzte Hass anstellte der Gedankenregeln, und damit schaffte er es, zumindest einen Teil der Pein aus der bewussten Wahrnehmung zu verbannen. „So steht es also…“, schnaufte er. „Diese Welt wird vergehen, unter der Regentschaften von Verrätern, während wahre Vulkanier ihr Geburtsrecht aufgeben. Im Namen der Elemente schwöre ich: Würde mich dieser sterbende Körper nicht fesseln, ich würde Karatek aufsuchen und überzeugen, hier zu bleiben und zu kämpfen. Ich nähme jede Gelegenheit wahr, Surak zu töten…“
„Ich weiß, Meister. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass Dein Katra nicht in die falschen Hände gerät. Bei mir wird es sicher sein.“ Khoteth holte eine bläuliche Kugel hervor. „Es wird Zeit.“
„Nein!“ Zakal versuchte zu schreien. „Ich lasse nicht zu, dass man mich beugt; ich bin der wahre Herrscher Vulkans. Meine Aufgabe ist noch nicht beendet.“ Aber seine Stimme war kaum mehr als ein unartikuliertes Röcheln.
Khoteth schüttelte den Kopf. „Du hast noch nie verstanden, was es bedeutet, einer größeren Sache zu dienen, Meister. Und dies ist Dein Untergang. Nicht jedoch für Dein Katra. Du solltest dankbar sein, dass es das Schicksal so gut mit Dir meint. Denn Du wirst für Vulkans Zukunft weiter eine Rolle spielen. Bei mir wird diese Rolle Dein Vermächtnis nicht korrumpieren. Nur bei mir, die ich Dein Reich übernehmen und lenken werde.“
Bitterkeit klebte an Zakals Daumen, und er begann zu husten, spuckte Blut in alle Richtungen. Während er verzweifelt nach Atem rang, ging ihm ein absurder Gedanke durch den Kopf. Ich ertrinke. Ich ertrinke mitten in der Wüste, wo es überhaupt kein Wasser gibt… Trotz der Schmerzen schüttelte er sich in einem stummen, fiebrigen Lachen.
Sanfte Arme halfen Zakal in eine sitzende Position, sodass er nach Luft schnappen konnte. Khoteth stand direkt neben dem alten Vulkanier und stützte ihn. Der sterbende Meister begriff, dass die jüngere Frau sein Leben aufs Spiel setzte. Die Kugel lag am Fußende des Bettes.
„Ich kann Dich zwingen.“, sprach Khoteth. „Aber ich mache keinen Gebrauch von dieser Möglichkeit. Nein, Du wirst mir Dich freiwillig zum Geschenk machen. Oder wählst den Weg in den unsicheren Äther der Elemente.“
Zakal verstand. Khoteth appellierte nicht nur an seine Selbstsucht, sondern auch an sein Verständnis als ihr Meister. Mitten im Dunst des sterbenden Selbst formte sich ein von Abscheu und Verachtung geprägter Gedanke, trat klar aus dem dunklen Nebel des Todes hervor: Ich habe eine Natter an meinem Busen gestillt! Eine Natter!
Es blieb ihm keine Wahl. Zakal schloss die Augen, lehnte sich an Khoteth und nutzte die finalen Sekunden seines Lebens, um eine Entscheidung zu treffen, deren Ausgang schon vorher festgestanden hatte. Das machte es weitaus bitterer. Der Versuch, die junge Hohenmeisterin mental zu übernehmen, grenzte an Tollkühnheit: Die drei Eingeweihten würden sofort eingreifen. Und selbst ohne ihre Hilfe bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass Khoteth als Sieger aus dem geistigen Gefecht hervorging. Vor allem aber: Je mehr er sich wehrte, desto schwieriger wurde es für sie, seine mentale Essenz in sich aufzunehmen. Konnte, wollte er das riskieren?
„Also gut…“, seufzte er schließlich.
Aber Khoteth brauchte seine Erlaubnis nicht. Als ihre kühlen Finger über die wüstenheiße Haut an den Schläfen des alten Meisters strichen, konzentrierte sich das Selbst im Körper auf einige letzte Gedanken:
Alles was ich bin, alles, was ich sein werde, wird Rache an Dir nehmen, Surak. Ich werde nie zulassen, dass Du Vulkan verdirbst. Solltest Du Erfolg haben – auch wenn es zehntausend Phasen dauern mag: Ich werde Dich davontilgen, Schandfleck. Meine Rache wird kommen…
Draußen verstummte der Wind.
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