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5x10 - Interlude

von Julian Wangler

Prolog II

2155
Rura Penthe

Gouverneur RacH’kin stand kurz vor dem ruhmreichen Ende seiner Karriere. Als altgedienter Krieger, der schon auf den Schlachtfeldern von Gal’roQ gegen Miradorn und Gorn gekämpft hatte, gab es heute nicht mehr viel, das ihn noch überraschen konnte. Die plötzliche Explosion seines Balkons gehörte allerdings dazu.

Der mächtige Klingone sprang instinktiv auf. Berstende Hitze strich über sein Gesicht. Ungläubig verfolgte er, wie sein Schreibtisch in Flammen aufging, als brennendes Benzin aus einer geworfenen Brandflasche darüber floss. Der Werfer, der irgendwo draußen stehen musste, hatte zweifellos gehofft, die Bombe würde mitten im Zimmer landen, aber seine Wurfgenauigkeit ließ zu wünschen übrig.

RacH’kin spürte unbändige Wut über den offensichtlich schlampig ausgeführten, aber dennoch effektiven Anschlag in sich auflodern. Knurrend zog er seinen Disruptor aus dem Hüfholster und stapfte zum Balkon.

Er ignorierte die lodernde Glut und den erbärmlichen Gestank um sich herum und sah vom zweiten Stock hinunter auf den Platz. Normalerweise diente er der Versammlung aller Gefangenen seines Distrikts, wenn er eine Ansprache hielt, beispielsweise über die Verschärfung der Sicherheitsvorschriften oder dass bestimmte Häftlinge ihr Soll nicht erfüllt und in Kürze eine Bestrafung zu erwarten hatten.

Jetzt aber tobte hier das absolute Chaos, und je mehr RacH’kin darüber nachdachte, desto weniger wusste er, wie es dazu hatte kommen können. Was er indes wusste, war, dass seine Vorgesetzten alles andere als erfreut sein würden, bekam er die Situation nicht schnell wieder unter Kontrolle.

Kann es sein, dass Du auf Deine letzten Wochen im Dienst verweichlicht bist? Warum hast Du diesen feigen Angriff nicht vorhergesehen und frühzeitig vereitelt? Wie konntest Du Dir erlauben, in Deiner Wachsamkeit nachzulassen, Du alter Baktag?

RacH’kin ging hart mich sich selbst ins Gericht, als er sah, wie zwei Palgrenai über den Platz davon liefen, wo sich zurzeit Dutzende Wächter mit den rebellierenden Horden schlugen. Ein heilloses Durcheinander aus Körpern und Gliedmaßen, die ständig in Bewegung waren. Der Gouverneur war überzeugt, seine Peiniger soeben ausfindig gemacht zu haben und bleckte zorngeladen die Schorfzähne.

Er ließ die Palgrenai nicht aus den Augen. Ihre einfache Wollkleidung verschmolz mit den unverzierten Fassaden des Lagers, und die langen, gebogenen Krallen ihrer nackten Füße kratzten über den Steinboden. Trotz ihrer breiten Körper bewegten sie sich sehr schnell. RacH’kin sah selbst aus dieser Entfernung, dass der älteste der beiden Angreifer noch ein Heranwachsender war. Freilich entließ sie das nicht aus ihrer Schuld, und ebenso wenig würde es die Strafe, die sie nun zu erwarten hatten, mildern.

Palgrenai lebten seit einer Weile unter der Schirmherrschaft des Klingonischen Reichs, und doch hatten sie sich nie richtig daran gewöhnt, dass eines Tages das imperiale Banner in ihrem Heimatsystems gehisst worden war. Viele von ihnen waren eine einzige Brut der Aufmüpfigkeit und Gaunerei, ausgesprochen beharrlich darin, die Gebote ihrer neuen Herren zu missachten und Unruhe zu stiften. Da sie nur die Sprache einer harten Hand verstanden, war die Zahl der Palgrenai, die auf Rura Penthe einsaßen, in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen.

Offensichtlich hatten sie ihre Lektion immer noch nicht gelernt, und heute waren sie einmal mehr zu weit gegangen.

Rote Disruptorstrahlen folgten den Palgrenai auf Schritt und Tritt. Wenigstens einer von RacH’kins Aufsehern schien also ein funktionierendes Gehirn in seinem dicken Schädel zu haben. Er hatte, wenn auch verspätet, auf die armselige Attacke reagiert.

Die kochenden Energielanzen rissen den Boden hinter den zwei Jugendlichen auf, dann bohrten sie sich in die Wände eines kleinen Wachhauses, hinter dem die Fliehenden verschwunden waren.

RacH’kin bleckte Schorfzähne. „Idioten…“

Er meinte nicht die Palgrenai.

In diesem Moment wurde die Tür seines Büros geöffnet, und zwei Untergebene stürmten herein. Sie hielten Disruptorwaffen in den Händen und sahen sich suchend um. Als sie die Flammen auf dem Balkon sahen, drehte sich der höherrangige Bekk zu RacH’kin um. „Gouverneur, sind Sie verletzt?“

RacH’kin steckte die Waffe zurück ins Holster. „Natürlich nicht.“ Er drehte sich um und ging zur Tür. „Stellen Sie keine blöden Fragen, sondern löschen Sie das Feuer.“

Die Männer nickten mit einiger Verzögerung. Etwas unbedarft stellten sich die Wachen in der Folge an, während sie ihre Pelzmäntel opferten und die Flammen damit erstickten.

Im Gegensatz zu RacH’kin handelte es sich bei diesen Soldaten um QuchHa’: Klingonen, die mit dem Augment–Virus befallen worden waren, das im letzten Jahr in der Qu’Vat–Kolonie mutiert war, und nur durch eine Genmanipulation hatten gerettet werden können. QuchHa’ waren demgemäß kleiner und schwächer; ihnen fehlten die typischen vorstehenden Schädelknochen.

RacH’kin glaubte insgeheim, dass ihnen nicht nur Äußerlichkeiten fehlten, sondern auch innere Werte wie ein ausgeprägtes Ehrgefühl oder das Wissen um den wahren Weg des Kriegers, sonst wären sie doch im Gegensatz zu anderen Klingonen nicht in halbe Terraner transformiert worden. Sie hatte dieses Schicksal jedoch ereilt, andere dagegen nicht. RacH’kin glaubte nicht an Zufälle – wer das Los gezogen hatte, zu einem QuchHa’ zu werden, musste ein schlechterer Klingone sein als diejenigen, an denen diese unheilvolle Verwandlung vorbeiging.

Seit einer kürzlichen Gesetzesänderung war QuchHa’, zeigten sie nicht gerade außergewöhnliche Begabungen und bekamen entsprechende Empfehlungen, der Aufstieg an die Spitze der Militärhierarchie verwehrt, ebenso wenig konnten sie Mitglieder des Hohen Rats oder in den Orden des Bat’leth aufgenommen werden.

Wie ein Lauffeuer hatte sich das Virus binnen weniger Monate nahezu im ganzen Reich ausgebreitet. Dabei hatte es laut jüngsten Schätzungen rund vierzig Prozent aller Klingonen befallen und eine Gegenbehandlung nötig gemacht, um ein Massensterben zu verhindern.

RacH’kin, der selbst – Kahless sei Dank – zu den resistenten Individuen zählte, hatte zunächst unbändige Wut empfunden auf diesen p’taQ von K’Vagh und seinen Medizinerlakaien Antaak. Durch ihre wahnwitzigen und letztlich gescheiterten Experimente hatten sie dazu beigetragen, das Reich zu spalten – und einem Teil von ihm die Schande aufzuerlegen, fürs Erste nur mithilfe menschlicher DNA und vor allem einem menschenähnlichen Erscheinungsbild weiterleben zu können.

Mit der Zeit jedoch hatte RacH’kin, wie viele andere (resistente) Klingonen auch, seine Meinung geändert. Heute betrachtete er das, was vor einem Jahr geschehen war und immer noch anhielt, als zutiefst schicksalhafte Fügung für sein Volk. Eine Fügung, die machtpolitisch einiges ins Rolle brachte.

Klingonen neigten trotz aller puritanischen Bekundungen vom Ruf des Kriegers dazu, um die Macht zu buhlen. Jetzt war mit den QuchHa’ eine Art Subspezies entstanden, welcher der Zugang zu den wichtigen Positionen in Politik und Militär verwehrt blieb. Aus RacH’kins Sicht trieb ebendies den Ausleseprozess um Führer– und Folgerschaft im Reich voran, indem Rollen viel früher feststanden. Dadurch konnte mehr Zeit für den Kampf anstatt für sinnlose Ränkespiele verwendet werden. Die Politik hatte bereits reagiert und nahm das Aufkommen der QuchHa’ zum Anlass, eine neue politische Klasse im Reich einzuführen: die Jegh–pu’wI’; etwas, das zwischen vollwertigem Bürger– und Sklavenstand sein Dasein fristete.

RacH’kin hatte als einer der ersten das Geschenk in dieser vermeintlich schändlichen Entwicklung erkannt, und so verspürte er auch keine Verachtung in Bezug auf seine QuchHa’–Aufseher – nicht mehr als gegenüber den anderen normalen Klingonen in dieser Absteige. Im Gegenteil, die QuchHa’ hatten sich, von Ausnahmen abgesehen, als kompetente und effiziente Soldaten erwiesen, die gut für die ruhmlosen Aufgaben geeignet waren, die an einem Ort wie Rura Penthe erfüllt werden mussten. Zwar hatten sie nicht das gleiche Maß an Ehre aufzubieten wie ein Klingone mit Stirnhöckern, aber wenn sie dafür der Ehre des Reichs frönten, so waren sie letztlich dem großen Ganzen dienlich und mochten daraus ihre Erlösung beziehen.

Als nur noch Qualm vom Balkon aufstieg und die Wachen ins Büro zurückkehrten, wandte sich RacH’kin ihnen zu. „Wie schlimm ist es?“

„Schlimm genug. Die Aufständischen haben die unteren Ebenen überrannt.“, sagte der Größere.

RacH’kin überlegte. „Dort waren wir am schwächsten aufgestellt, oder nicht?“

„Ja, Gouverneur.“

Mit seiner rechten Hand, der zwei Finger fehlten, schien er die Luft zerkratzen zu wollen. „Sei es drum. Jetzt sitzen sie in der Falle. Wann werden unsere Verstärkungen eintreffen?“

„Die Truppentransporter werden in wenigen Minuten landen.“

„Ausgezeichnet.“

RacH’kin ging nicht ernsthaft davon aus, dass es den Gefangenen gelingen würde, auszubüchsen. Es hatte schon früher von Zeit zu Zeit organisierte Ausbruchsversuche gegeben. Sie waren immer gescheitert. Aber meistens hatte die Meute schon kapituliert, bevor es zu einer abschließenden Konfrontation mit den klingonischen Truppen hatte kommen können.

Die Energien dieses Aufstands waren ausdauernder, wie es schien. Das mochte nur ein vorübergehendes, vielleicht bedeutungsloses Zeichen sein, aber RacH’kin beschloss, es dennoch ernst zu nehmen.

Er strich sich über den gepflegten, grauen Bart. „Es ist interessant… Ich frage mich, warum unsere Häftlinge mit solcher Leidenschaft kämpfen. Wer hat sie angestachelt?“

Als keine Erwiderung von den beiden Soldaten kam – wie auch, er hatte sie auch nicht dazu befugt –, gab RacH’kin, nicht ohne reichhaltig Verachtung in der Stimme, selbst die Antwort. „Entweder leiden sie unter Gedächtnisschwund oder sie sind einfach nur dumm! Außerhalb dieses Komplexes gibt es nur die Eiseskälte und den sicheren Tod.“ Ihm kam ein flüchtiger Gedanke, und er schmälte den Blick. „Hat unsere Sensorenphalanx irgendein fremdes Schiff im Orbit aufgeschnappt?“

„Nein, Gouverneur. Der Kommandostand sagt, im ganzen System gibt es keinerlei Aktivität.“

„Dann ist es unsere Schuld: Wir hätten die Häftlinge ein wenig mehr an die frische Luft lassen sollen.“, lachte RacH’kin in einem förmlichen Polteranflug. „Sie müssen den Verstand verloren haben! Selbst, wenn ihnen jemand zur Flucht verhelfen könnte, müssten sie erst einmal das Magnetfeld überwinden. Ohne Wärmepflaster auf dem Rücken verenden sie nach den ersten Minuten.“ Er grinste finster. „Nun ja, vielleicht ist es genau das, was sie sich wünschen. Vielleicht haben sie beschlossen, alle miteinander Selbstmord zu begehen. Warum sollen wir ihnen den Gefallen nicht tun? Es gibt schließlich noch jede Menge anderer Kandidaten für Rura Penthe auf unserer Warteliste. Sagen Sie den Verstärkungen, sobald sie gelandet sind, sollen sie etwas Platz schaffen. Sie verstehen mich.“

„Ja, Gouverneur.“, gehorchten die beiden Männer im Gleichklang, verharrten aber.

RacH’kin bellte: „Worauf warten Sie dann noch?! Gehen Sie mir aus den Augen.“

Er verfolgte, wie die Untergebenen das Büro verließen, um seine Anweisungen auszuführen. „Idioten…“, raunte RacH’kin mit einem Kopfschütteln und schmiedete bereits einen neuen Plan, wie er den wahrscheinlich letzten Aufstand in seiner Dienstzeit als Gouverneur auf Rura Penthe niederschlagen konnte.

Schnell und rücksichtslos.

– – –

„Ein Zeichen von Kolledra und Konvekt. Es ist ihnen nicht gelungen, das Büro zu zerstören.“

„Inkompetente Palgrenaibrut…“

„Unsinn, sie waren die Besten für diese Aufgabe.“

„Wie auch immer: Wenn RacH’kin nicht schon rasend war, dann ganz sicher jetzt. Er wird es als Angriff auf seine Person werten. Für ihn war schon immer alles persönlich.“

„Dabei wollten wir nur die Kontrollterminals unschädlich machen, um diese verdammten Tore zu öffnen.“

„Spar Dir Deine Kräfte für den Nahkampf auf, meine verehrte Mivira. Sind Kolledra und Konvekt zumindest gut weggekommen?“

„Das sind sie. Sollen sie es erneut versuchen?“

„Nein. Wir hatten nur eine Chance. RacH’kin wird jetzt alles mit Wachen zustellen und tödliche Gegenmaßnahmen einleiten.“

„Dann ist der erste Plan gescheitert. Wenden wir uns dem Zweiten zu.“

„Du weißt, dass der Zweite sehr viel blutiger wird?...“

„Ja, und wenn der auch misslingt, dann haben wir keinen dritten Plan parat.“

„Falls wir uns einem dritten Plan zuwenden, wird niemand mehr von uns da sein, um ihn zu befolgen. Also sparen wir uns das Gerede. Die Zeit der Diskussionen ist vorbei. Wir sind bis hierher gekommen – es gibt kein Zurück.“

„Du hast Recht, Koloss. Gehen wir.“

Die Gruppe setzte sich furchtlos in Bewegung, während in den düsteren Gängen um sie herum unablässig Kampf– und Todesschreie erklangen, gelegentlich auch Disruptorfeuer und, so schien es zumindest, das Brechen von Knochen.

Mithilfe der geklauten KOM–Geräte wurden die anderen Häftlinge blitzschnell kontaktiert. Sie kamen wohl doch nicht so schnell hier heraus wie erhofft, und das bedeutete vor allen Dingen eines: Sie mussten Ruhe und Geduld bewahren, einen kühlen Kopf, wenn sie gegen die Soldaten des Gouverneurs bestehen wollten. Verstärkungen waren bestimmt schon unterwegs.

Ihr neues Ziel lag in der Generatorkammer. Eigentlich hatten sie diesen Abstecher vermeiden wollen, denn er führte durch Horden von Wachtposten. Doch wenn es ihnen glückte, die Energieerzeugungssysteme lahm zu legen, würden die Hochenergiezäune rund um die Anlage versagen. Dann konnten sie den Schutzwall überwinden und sich über die Tunnel einen Weg an die Oberfläche bahnen. Das war jetzt ihre letzte Option.

Der Mann in der Mitte griff sich an den Hinterkopf und ordnete den Zopf seines langen, silbergrauen Haars. Es war längst voller Schmutz und Filz, nur noch ein Abklatsch des gepflegten, wallenden Samtschopfs, den er einst besessen hatte.

Seit er in die Sklavenhölle dieses Systems gesteckt wurde, war viel Zeit vergangen. Das Tribunal auf Narendra III, welches ihn dereinst für ein Jahr verurteilte, hatte schließlich seinen Aufenthalt für unbegrenzte Zeit verlängert. Er war nie wieder nach Qo’noS zurückgekehrt. Er hatte erkennen müssen, dass man ihn hatte loswerden wollen. Die klingonische Justiz von heute war nur noch von Willkür und machtpolitischen Intrigen bestimmt, das wusste kaum jemand so gut wie er. Schon damals, in weiten helleren Tagen, hatte er in ein sich rapide verfinsterndes Herz geblickt.

Wie lange hatte er sein Gesicht schon nicht mehr im Spiegel betrachtet? Auch das Zeitgefühl war ihm längst abhanden gekommen. Hier unten erfuhr man nichts, nicht einmal von den Wachen. Wahrscheinlich wussten die Wachen genauso wenig wie sie, denn Rura Penthe war ein Job für den Abschaum der Verteidigungsstreitmacht.

Und jetzt war es endgültig zu spät, jemanden nach Uhr oder Spiegel zu fragen, die außer dem Gouverneur höchstwahrscheinlich niemand auf diesem erfrorenen Stück Fels besaß.

Umso beeindruckender, dass hier unten eine waschechte Gemeinschaft hatte zusammenwachsen können. Eine Gemeinschaft, die jetzt ihr Reifen unter Beweis stellte, indem sie das Unmögliche zu erreichen suchte.

Wer hätte das geglaubt? –

Der ehemalige Profiverteidiger der Ehre trommelte die Entehrten und Entrechteten zusammen, um etwas zu schaffen, das noch nie gelungen war. Ausbruch von Rura Penthe. Flucht aus dem erbarmungslosesten Internierungslager im gesamten Klingonischen Reich.

Bei genauerem Nachdenken darüber konnte einem glatt schlecht werden, erst recht jemandem, der nicht der Kriegerkaste entstammte. Und dann wieder empfand Koloss unglaublichen Stolz auf das, was hier nun seinen Lauf nahm. Ganz egal, wie es am Ende ausging.

Es war nicht irgendein Aufstand. Hier wuchs die Graswurzelbewegung, die sich aus den Verließen eines Imperiums erhob, um ihm irgendwann seine Ehre zurückzugeben. Koloss hatte lange auf diesen Tag hingearbeitet.

Schon vor vielen Jahren hatte er erkannt, wie tief das Klingonische Reich gesunken war, in welcher Selbstverleugnung es steckte. Doch er hatte nie den Mut besessen, zu dieser Erkenntnis zu stehen und zu handeln.

Das hatte sich erst zu ändern begonnen, als er eines Tages zum Verteidiger eines Erdenmannes wurde. Er hatte diese Aufgabe zunächst wider Willen angenommen, aber mit der Zeit lernte er den Terraner zu schätzen. Schließlich realisierte er, dass mehr Rechtschaffenheit in seinem Klienten steckte als in der gesamten politischen Führung des Klingonischen Reichs.

Erinnerungsbilder flackerten in seinem Geist auf, Stimmen wurden wieder lebendig.

Wie viele Fälle haben Sie gewonnen?, hatte der Mensch gefragt.

Und er hatte geantwortet: Oh, ich bin nicht sicher. Über zweihundert. Aber das ist schon viele Jahre her. Damals war das Tribunal noch ein Forum für die Wahrheit und nicht ein Werkzeug für die Kriegerklasse. Wir waren eine großartige Gesellschaft. Das ist noch gar nicht so lange her. Ehre wurde da noch verdient durch Integrität und Aktionen von wahrer Courage, nicht durch sinnloses Blutvergießen.

Trotz seiner Bemühungen, einen Freispruch für seinen Schützling zu erwirken, verlor Koloss den Prozess. Das Urteil der politisch unterwanderten und korrupten Justiz hatte längst festgestanden. Wegen seines flammenden Protests gegen den Schuldspruch wurde er an der Seite des Erdlings nach Rura Penthe geschickt. So war er ursprünglich hergekommen.

Jonathan Archer war längst von der Mannschaft seines Raumschiffs befreit worden – zu recht, denn seine Verurteilung basierte auf einer feigen Lüge, die Duras in die Welt gesetzt hatte. Koloss aber hatte sich entschieden, hier zu bleiben. Es war eine Gewissensentscheidung gewesen: Er hatte nicht gemeinsam mit dem wackeren Sternenflotten-Captain fliehen können. Der Grund dafür war seine Ehre gewesen – oder der Rest, der ihm davon geblieben war.

Zu lange hatte er im Namen dieses Staats gearbeitet, von dessen Gesetzen und Vorzügen profitiert, als dass er sich wie ein feiger Romulaner davonstehlen konnte, wenn er mit eben diesem Staat nun überkreuz lag.

Jemand, der die Flucht ergreift, kann keine Veränderung mehr initiieren., hatte er sich gesagt.

So lange hatte Koloss den Niedergang des Reichs hingenommen. Er war ein desillusionierter Anwalt gewesen, der nur mehr auf den eigenen Tod zu warten schien, ohne Sinn, ohne Ziel und ohne die Bereitschaft, etwas zu riskieren. Als er jedoch auf dem Friedhof der Fremden eintraf, war er bereits ein neuer Mann geworden, der wieder Feuer gefangen hatte. Dank der Gespräche mit Archer hatte er seinen Idealismus wiedererlangt und eingesehen, dass er immer noch an dieses Reich glaubte.

Er glaubte an eine Gesellschaft aus den Tagen seiner Kindheit und Jugend. Eine Gesellschaft, der Ehre wirklich etwas bedeutete und die dies in jedem Moment ihres täglichen Strebens und in jeder Faser ihrer Existenz einlöste. Es war eine Gesellschaft, die Kahless‘ Lehren nicht nur als Vorwand benutzte, um rücksichtslos zu morden, die Schwachen auszuplündern und das Reich aus reiner Gier nach Macht expandieren zu lassen.

Eigentlich war es eine Ironie: Inmitten des zu ewiger Bewegungslosigkeit erstarrten Winters von Rura Penthe hatte sein altes, ernüchtertes Herz wieder kraftvoll zu schlagen begonnen. Und Koloss war der Gedanke gekommen, dass man möglicherweise Gre’thor kennen musste, um wirklich zu verstehen, was Sto’Vo’Kor überhaupt war.

Drei Jahre hatte er hier unten gesessen. Drei Jahre, in denen er viele Minenarbeiter hatte schuften und sterben sehen. Im Durchschnitt überlebte man hier kaum zwölf Monate.

Koloss hatte unerbittlich gekämpft, gegen Krankheiten und Hunger. Sein Wille, zu überleben und ins Reich zurückzukehren, hatte ihn warm gehalten. In seiner spärlichen Freizeit hatte er zu schreiben begonnen; Gedanken über ein Klingonisches Reich, das seinen Namen verdiente, das wahrhaft in den Spuren des großen Gründervaters Kahless wandelte.

Nun, am heutigen Tag, waren es drei Jahre für diesen Moment. Ob der Kampf nun erfolgreich sein würde oder nicht. Das Beste war immer noch, dass er nicht allein dem Tod ins Antlitz sah, sondern umgeben war von Brüdern und Schwestern, die allesamt das Joch dieses vergifteten klingonischen Wesens erfahren und ihn zu ihrem neuen Führer auserkoren hatten.

Eine Bewegung zur Wiederherstellung der klingonischen Ehre, und er an der Spitze. Er, der große Revolutionär? Anfangs hatte sich Koloss noch gegen eine solche Bürde gewehrt, die man ihm auf seine alten Tage auferlegte. Mit der Zeit jedoch nahm er diese Rolle an, denn im Grunde entsprach sie seinem Wunsch, wieder eine höhere Bedeutung in den Dingen zu sehen. Wenn er in die Gesichter seiner treuen Anhänger schaute, wusste er, dass er eine Verantwortung hatte und dass seine eigenen Ängste und Zweifel hinter der großen Sache zurückzustehen hatten.

Schließlich bekam er ein Gespür dafür, was es hieß, jeden Tag so zu leben, als wäre es der letzte. Und heute war ein guter Tag zum Sterben.

Koloss erinnerte sich an die Abschiedsworte, die er einst an Archer richtete; Worte, die gleichsam zu einem Schwur für seine eigene Zukunft wurden. Sie haben mir erzählt, dass auf Ihrer Welt ein paar couragierte Männer etwas bewirkten. Ich bin nicht sicher, ob ich diese Courage besitze, aber ich weiß, dass ich meinem Volk niemals die verlorene Ehre wiederbringen kann, wenn ich als Flüchtling gelte.

Sie wissen, was das bedeutet., hatte der Sternenflotten-Captain erwidert. Sie sagten mir, die meisten Gefangenen hier überleben nicht ein Jahr.

Die meisten Gefangenen hier haben wenig, wofür es sich zu leben lohnt.

Ja, heute wusste Koloss: Sein letzter Tag bestand in der Aussicht, nach Sto’Vo’Kor zurückzukehren, weil er sich für eine noble Sache die Finger schmutzig gemacht hatte, vielleicht zum allerersten Mal in seinem Leben wirklich. Kam das Ende nun auf Rura Penthe oder nicht – der Pfad, den er eingeschlagen hatte, die Werte und die Haltung, die er vertrat, waren das Entscheidende. Das war sein Weg.

Wenige Minuten, bevor die große Schlacht um die Generatorkammer begann, schien seine Zukunft festzustehen. Er hatte seine wichtigste Bringschuld eingelöst, weil er den Verzweifelten Hoffnung gegeben hatte, und weil er sich selbst auf die Straße der Tugend zurückgekämpft hatte.

Alles andere war den Launen des großen Wandteppichs namens Geschichte überlassen.
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