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5x11 - Apotheosis #1

von Julian Wangler

Prolog

Jonathan Archer weiß, dass er gleich sterben wird.

Er hat nie an jene alte Vorstellung geglaubt, wonach man im Augenblick des Todes sein Leben noch einmal an sich vorbeirauschen sieht. Wenn er andere Leute darüber hat sprechen hören, konnte er in dieser Denkweise höchstens das Wunschdenken ausmachen, einen Nachtrag zu setzen: Jemand macht eine Erfahrung mit dem nahenden Ende seines Lebens, und in der Erinnerung daran fügt er im Geist nachträglich alle Höhepunkte seines Daseins hinzu.

Das tun Menschen, um der bevorstehenden Auslöschung des Selbst eine Art mentalen Kontrapunkt entgegenzusetzen. Schließlich ist das Gedächtnis eine kniffelige Sache, möglicherweise der trügerischste Aspekt aller Gehirnfunktionen.

In erster Linie hat Archer dieses Konzept bislang von sich gewiesen, weil er im Laufe seines Lebens als Sternenflotten-Captain dem Tod öfter begegnet ist als er es zählen könnte. Und all diese Male, da er nur um Haaresbreite davongekommen ist, hat er sein Leben nie an sich vorbeiziehen sehen.

Nicht, als er gegen Silik in der mysteriösen Temporalkammer an Bord der Helix kämpfte.

Nicht, als er, langsam erstickend der Marsatmosphäre ausgesetzt, John Frederick Paxton am Abschuss der Verteron-Phalanx zu hindern versuchte.

Nicht, als er sich auf Qo’noS mit BiQra auf Leben und Tod duellierte.

Nicht einmal, als er in der Stunde Null mit dem Gewicht der Welt auf seinen Schultern gegen den Reptilianer Dolim antrat.

Nie. Nicht einmal ansatzweise. Es gab diesen inneren Film nicht.

Jetzt erinnert er sich wieder an ein zurückliegendes Gespräch mit seinem taktischen Offizier – eine im Grunde treue Seele, die er viel zu oft zu hart behandelt und ihr wahrscheinlich deswegen bleibenden Schaden zugefügt hat. In dem besagten Gespräch gestand er sich möglicherweise zum ersten Mal ein, dass er sich dem Tod nie wirklich gestellt hat; dass er vor ihm davonlief. Und vielleicht deshalb sah er die Partitur seines individuellen Kosmos im Angesicht des Untergangs bisher nicht aufleuchten.

Bis heute. Bis jetzt.

Diesmal ist es anders. In dieser Sekunde, da Archer an den Rand des Abgrunds tritt, der ihm ein weiteres Fortkommen versperrt, erinnert er sich plötzlich an seinen Vater.

Henry. Sein Gesicht. Es ist seltsam: Plötzlich hat er es wieder vor Augen, als wäre es nie in der Vergangenheit versunken; als wäre ihm nicht der Lebenshauch auf den Holofotos und Videoaufzeichnungen weggeblasen worden. Das Antlitz ist gütig, es lächelt warm.

Archer erkennt, dass die Person, durch deren geistiges Auge er gerade sieht, nicht mehr er selbst ist, vielmehr sein Alter Ego. Es liegt mit einem gebrochenen Bein im Bett und hat Henry vor sich sitzen. Diesen Mann, der immer so voller Güte und innerer Ruhe gewesen ist, dass es ihn neidisch gemacht hat. Der Mann, der ihn nun in den Arm schließen und für ihn da sein würde. Und Derjenige, der gleich Worte sprechen würde, die alles veränderten: Warum fallen wir, Jonathan? Damit wir wieder aufstehen können.

Der Tag, an dem er mit Tango ausgeritten war, um es ihm zu beweisen.

Der Tag, an dem er gescheitert war und sich erst in dieser Niederlage selbst gefunden hatte.

Der Tag, an dem alles anders geworden war.

In diesem Moment der Introspektion, der sich nun wundersam vollzieht, fällt alles Belanglose von ihm ab. Archer sieht zum ersten Mal dem Tod ins Auge – und erhält im Gegenzug das Geschenk erleuchtender Erkenntnis…

All die Kraft hat er von Henry Archer bezogen. Von Henry, der an jenem besonderen Abend die richtige Entscheidung getroffen und ihm gezeigt hatte, dass man nicht perfekt sein muss, um Fortschritte zu erzielen, um über sich hinauszuwachsen. Nein, im Gegenteil, Fehler machen und Stolpern ist entscheidend für das Leben. Ein Junge hatte sich von seiner inneren Ungeduld befreien können. Zeit seines Lebens würde er aus dieser Entwicklungsphase das Charakteristikum unterschwelliger Impulsivität beibehalten, das die Vulkanier stets so an ihm kritisieren würden, aber es würde nur noch äußerlich sein, ihn nicht mehr behindern.

Die Ketten seines Erbes würden ihn nicht länger binden. Niemand anderes als sein Vater hatte ihn davor bewahrt. Aus dieser neu gewonnen Freiheit hatte er selbstbestimmt in die Fußstapfen Henry Archers treten können; als jemand, der nicht länger im Schatten eines Anderen versank.

Doch was ist jetzt noch übrig von ihm? Von diesem Stolz, der ihm erst die Stärke verliehen hatte, Fehler zu begehen und sich in ihnen zu finden… Ja, selbst schlimme Dinge im Namen des Größeren zu tun und auszuhalten.

Sein Werk war nicht mehr. Die Aussichten, mit denen es gewunken, das, was es möglich gemacht hatte – Frieden, Freiheit, Wohlstand –, lagen in Ruinen. Und mit ihnen die Träume, die seinen Sohn dereinst beflügelt hatten.

Die Erleuchtung kommt mit Schmerzen. Archers Universum zieht sich zusammen. Mit einer blutigen Hand greift er sich in die Tasche und holt etwas hervor, das ihm T’Pol vor einer Weile schenkte. Einen belanglos erscheinenden Splitter, ein Fragment.

Die Superwaffe der Xindi zu zerstören galt gemeinhin als unmöglich. Aber Sie haben es geschafft. Gerade jetzt scheint es mir angebracht, sich daran zu erinnern, dass auch das Unmögliche möglich ist.

Sie hatte an ihn geglaubt; sie alle hatten das getan. Und er hatte sich daran gewöhnt, der totalen Niederlage ein Schnippchen zu schlagen, die Möglichkeit des Scheiterns verdrängt. Irgendwann wurde es ganz normal. Wie in einer alten Lederjacke, welche man nicht mehr abzulegen gedachte, wähnte er sich sicher in der Perspektive, die eigentlich immer so zerbrechlich gewesen war wie sein menschliches Leben selbst.

Nun fragt er sich: Hat er in einer Welt der Illusionen gelebt? Es ist ihm, als ginge mit dem Einsehen der wahren Antwort auf diese Frage der letzte Glanz verloren, in dem sein in jüngster Zeit mehr und mehr erkaltetes Herz sich noch gewärmt, in dem es ein Refugium gefunden hatte.

Jetzt ist das alles nicht mehr.

Er hat verloren, was ihm lieb und teuer war, woran er seine Hoffnungen hängte.

Vor dem Vermächtnis seines Vaters ist er schließlich in Ungnade gefallen. Und vor allem, was darauf aufgebaut hat. Hatte.

Liebe, Freundschaft, Vertrauen. Versprechen.

Hinter ihm nähert sich das pure Böse, um ihn zu erledigen. Er kann seinen kalten Atem fast im Nacken spüren. Aber anstatt, dass ihm das Herz vor Adrenalin schlägt und er verbissen an die Chance einer Möglichkeit glaubt, so wie früher, gleitet sein Geist erneut ab.

Augenblicklich fragt sich Archer, unter welchen Bedingungen die Grenzen zwischen Gut und Böse eigentlich anfangen, zu verschwimmen. Ob er diesen Punkt erreicht hat. Und ob er nicht eine neue Wahrheit dahinter erkennt, die seine bisherige Sicht von der Welt als blasses Trugbild entlarvt.

Es ist beinahe eine Ironie… Im Augenblick des Untergangs auf eine verborgene Wirklichkeit zu stoßen, eines Besseren belehrt zu werden. Und dann wiederum passt es. Dass er alleine hier steht und dem Ende die Stirn bietet. Auf Ektaron hat er den Vorboten dieses Gefühls kennen gelernt; rückwärtig erscheint es ihm beinahe wie ein dunkles Omen. Vielleicht also kam das Unvermeidliche häppchenweise, vielleicht musste es so sein. So und nicht anders.

Er fügt sich und senkt den Blick hinab in die schattengetränkte, Hunderte Meter tiefe Schlucht, in die die gigantischen Wasserfälle von Kevratas hineinströmen, einer ganz und gar fremdartigen Welt.

Ihm ist, als erwarte er nur noch eine Antwort aus der Tiefe…
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