TrekNation

Das ultimative Archiv deutscher Star Trek Fanfiction!

Ein wandelnd Schattenbild

von Laurie

Kapitel #1

Er weiß nicht, wie lange er schon hier ist.

Die immerwährend gleichbleibende Beleuchtung in seinem kleinen Zimmer macht es unmöglich, die Zeit abzuschätzen. Seine Wächter bringen ihm zwar ab und an Essen, aber Leonard hat das Gefühl, dass sie eher nach Lust und Laune bei ihm vorbeischauen, anstatt einem festen Rhythmus zu folgen. Sie bleiben nie lange, stellen ihm nur ein Tablett auf den Boden und ziehen sich sofort wieder zurück, und jeder Versuch, mehr aus ihnen herauszubekommen als starre Blicke und wortlose Überheblichkeit, ist ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Es könnten zwei Tage sein oder fünf, seit man ihn gewaltsam von seinem Landetrupp fortgeholt und in dieses kleine, kahle, zu grelle Zimmer gesperrt hat – er weiß es nicht.

Er weiß nicht einmal, was sie von ihm wollen. Die Enterprise hat den Planeten Rhiakh nur angesteuert, um der Bevölkerung nach einem katastrophalen Erdbeben zu helfen, und anfangs lief alles nach Plan. Dass die Einheimischen ihre Dankbarkeit zeigen würden, indem sie ihn direkt nach dem Abschluss seiner Arbeit kidnappen, hat Leonard nicht erwartet, und er kann zu seiner Verteidigung nur anbringen, dass er nach den Strapazen der vorangegangenen Tage zu erschöpft war, um zu reagieren, als sie ihm von hinten einen Sack über den Kopf stülpten.

Wenn sie wenigstens mit ihm reden würden ... Seit er hier ist, hat niemand ein Wort mit ihm gesprochen, und langsam macht ihn das wahnsinnig. Er würde sich ja Mühe geben, sich kooperativ zu zeigen, wenn er denn wüsste, was sie wollen.

Die Stille ist erdrückend. Alles hier ist zu hell und zu ruhig und zu eng und wenn Jim sich nicht bald mit der Rettung beeilt, fürchtet Leonard, dass man ihn danach gleich in eine Zwangsjacke stecken und in eine andere Art von Gefängnis einliefern kann. Das nächste Mal, wenn einer seiner Kidnapper sich blicken lässt, wird er –

Ein Geräusch vor seiner Tür lässt ihn zusammenfahren. Er lässt den Löffel fallen, mit dem er versucht hat, Muster in den Boden zu kratzen, und kommt mühsam auf die Beine. Dass es nicht viel bringt, seine Kidnapper körperlich anzugreifen, hat er gleich zu Beginn seines unfreiwilligen Aufenthalts erfahren, aber vielleicht ist es einen weiteren Versuch wert? Es wäre schon ein Gewinn, wenn er es schafft, ihnen ihre Überheblichkeit für einen Moment auszutreiben.

Es knackt im Türschloss, Riegel werden zurückgeschoben und die Tür schwingt auf. Die Gestalt, die hindurchtritt, ist kleiner als seine Kidnapper und ... heller, als leuchte sie von innen heraus. In gewisser Weise hat sie das für Leonard schon immer getan. Er schafft es gerade noch, seinen zugegebenermaßen etwas unkoordinierten Angriff so weit abzufangen, dass der Neuankömmling ihn an den Oberarmen packen und stabilisieren kann.

„Bones!“

„Oh, Gott sei Dank.“

Seine Knie geben ein wenig nach, was nicht schlimm ist, weil Jim ihn weiterhin festhält. Er blickt Leonard prüfend an und er ist hier und er ist ... alleine? Aber es ist Jim, also sollte Leonard sich vermutlich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie er das angestellt hat. Er ist hier, um Leonard zu befreien, das ist die Hauptsache.

„Wieso habt ihr so lange gebraucht?“

Jim zieht ihn in den Gang. „Die Basis hier ist aus einem Material gebaut, das unsere Instrumente abblockt. Wir konnten dich nicht orten und die Einheimischen waren nicht sonderlich kooperativ. Wir müssten, äh, kreativere Methoden anwenden.“

Leonard überlegt kurz, ob er nachfragen soll, und beschließt dann, dass er es gar nicht so genau wissen will. Die Details können warten, bis Jim ihn nach Hause gebracht hat.

Eines muss er dann aber doch fragen. „Und was genau wollten die jetzt von mir?“

Jim zuckt mit den Schultern. Noch immer behält er einen lockeren Griff um Leonards Oberarm bei; die freie Hand hält einen Phaser, und Leonard denkt sich, dass Jim für genau so etwas geboren wurde – für Gefahr und Verantwortung und halsbrecherische Rettungsaktionen.

„Ehrlich gesagt wissen wir das auch nicht so genau. Wir glauben, dass sie dich einfach als Druckmittel benutzen wollten. Dass die Rhiakhani eine sehr misstrauische Spezies sind, hast du ja mitbekommen – es hat ewig gedauert, bis wir sie so weit hatten, dass sie sich von uns helfen ließen.“

Leonard nickt. An die Scherereien zu Beginn ihrer Mission erinnert er sich zu gut. Es wird lange dauern, bis er die Gesichter der Verletzten vergessen wird, denen er nicht helfen durfte, bevor er die Erlaubnis dazu bekommen hatte. All die verplemperte Zeit ...

„Völlig schwachsinnig“, murmelt er, immer noch hinter Jim her stolpernd. Der verdammte Gang nimmt einfach kein Ende, und als sie um eine Ecke biegen, könnte Leonard schwören, dass sie hier schon einmal gewesen sind. Aber er sagt nichts, folgt Jim einfach weiterhin, weil er nicht sicher sein kann, ob er seinen Sinnen nach dieser endlosen Zeit der Stille und Langeweile noch trauen soll, und weil Jim in solchen Situationen sowieso immer besser weiß, was zu tun ist.

„Sie dachten wohl, dass wir unser Wort doch noch brechen werden, und wollen dich als Absicherung oder so ähnlich“, sagt Jim. Unvermittelt bleibt er stehen und dreht sich zu Leonard um. Leonard kann nicht anders, als vor der plötzlichen Intensität in seinen Augen zurückzuweichen, und Jim lässt ihn los. „Haben sie dich irgendwas gefragt?“

Das ist ... nicht die Frage, die Leonard erwartet hat, aber er ist immer noch verwirrt und fühlt sich ein wenig von der Realität losgelöst, also antwortet er wahrheitsgemäß: „Nein, gar nichts. Das ist ja das Komische. Ich dachte, die wollen versuchen, die Geheimnisse der Föderation aus mir herauszukitzeln oder so was, aber nichts. Ehrlich gesagt wär’s mir auch lieber gewesen, wenn sie zwischendurch mal mit mir kommuniziert hätten.“

Jim blickt ihn immer noch undurchdringlich an und irgendwas daran ist komisch, doch noch versteht Leonard nicht ganz. Unsicher macht er einen Schritt nach vorne. „Wollen wir weiter?“

Jim rührt sich nicht vom Fleck. „Was für Geheimnisse der Föderation hätten sie denn wissen wollen? Wieso hätten sie dich so was fragen sollen?“

„Keine Ahnung! Das war doch nur so dahingesagt! Jim, was ist los?“

Langsam wird Jims Starren beängstigend. Leonard spürt, wie irgendetwas Hartes, Schmerzhaftes in ihm anschwillt. Lauter und lauter versucht sein Unterbewusstsein, ihm etwas zuzuflüstern.

„Nichts ist los. Ich will nur wissen, ob du ihnen nicht doch irgendwelche Geheimnisse verraten hast.“

„Wieso sollte ich –“

Und plötzlich wird ihm klar, was von Anfang an so seltsam war. Jim hat ihn nicht gefragt, wie es ihm geht. Natürlich, sie stehen unter Zeitdruck, aber das hätte Jim nicht daran gehindert, sich kurz von seinem Wohlergehen zu überzeugen. Er hat Leonard nicht gefragt, wie es ihm geht, aber jetzt will er von ihm wissen, ob er nicht zufällt irgendwelche klassifizierten Informationen verraten hat, und das ist so widersprüchlich, dass es nur eine Erklärung gibt.

Leonard tritt wieder zurück, versucht, sich nicht allzu offensichtlich nach einem Fluchtweg umzusehen, und versucht vor allem, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Es steht einen gegen einen – gut, er war nie der Beste im Zweikampf, aber er sollte zumindest in der Lage sein –

~°~

Es ist hell und still. Leonard sitzt auf dem Boden, und als er das Bein bewegt, rutscht der Löffel klirrend zur Seite. Er ist wieder in seinem Zimmer, er ist allein, und er ist so wenig verwirrt, dass es ihn selbst überrascht. Hauptsächlich ist er wütend.

„Was soll denn das?“, schreit er zur Decke hinauf. Er hat nicht viel Hoffnung, dass sich irgendjemand dafür interessiert, aber das Schreien tut gut. Es tut so gut, dass er noch ein wenig weitermacht, seine Kidnapper und ihren gesamten gottverlassenen Planeten beleidigt und erst, als er völlig außer Atem ist, erschöpft wieder zu Boden sinkt.

„Was wollt ihr denn von mir?“, flüstert er.

Sein Wutausbruch hat den Ärger restlos mit sich fortgespült; übrig bleiben nur Leere und Verzweiflung, und damit kann Leonard längst nicht so gut umgehen. Leere und Verzweiflung sind sehr viel gefährlicher als Wut.

Denk nach, sagt er sich. War in einer der Vorbesprechungen nicht die Rede davon, dass die Rhiakhani über telepathische Kräfte verfügen? Aber hieß es nicht auch, dass sie diese aus irgendwelchen religiösen Gründen unterdrücken und so gut wie nie anwenden? Hieß es nicht, dass sie eine prinzipiell friedliche Spezies seien? Davon, dass sie nichtsahnende Personen einsperren, die ihnen nur helfen wollen, und mit ihnen kranke Spielchen spielen, stand in den Berichten jedenfalls nichts.

„Was wollt ihr?“, fragt Leonard erneut, diesmal ein wenig lauter. Ein Bruchteil der Wut kehrt zurück, als er daran denkt, dass sie Jim für ihr Spielchen genutzt haben; ausgerechnet Jim. Es fühlt sich an, als hätten sie etwas angetastet, das für Leonard ein sicherer Rückzugsort ist; als hätten sie etwas, das für ihn immer positiv behaftet war, beschmutzt.

Er verbietet es sich, weiter daran zu denken. Jim wird kommen – der echte Jim – und ihn befreien, und die Rhiakhani werden ihre gerechte Strafe erhalten, und alles wird gut werden. Er muss nur durchhalten.

~°~

Er weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als ihn ein Geräusch auf dem Gang aus einem unruhigen Schlaf reißt. Benommen setzt sich Leonard auf seiner schmalen Pritsche auf. Vermutlich ist die Essenszeit gekommen und damit auch die perfekte Gelegenheit, seine Wut nicht nur ins Leere zu schreien, sondern einem Rhiakhani ins Gesicht zu sagen, was Leonard von ihnen und ihren Methoden hält.

Die Tür schwingt auf, bevor er es ganz auf die Beine geschafft hat, und herein kommt –

„Jim.“

„Bones?“ Verwirrung schleicht sich in dieses eine Wort. Jims Blick huscht durch die Zelle, fällt auf das unangetastete Essenstablett neben der Tür und landet schließlich wieder bei Leonard, der sich nicht von der Stelle bewegt hat. „Hey. Wir haben nicht viel Zeit. Kannst du laufen? Geht’s dir gut?“

Das harte, schmerzhafte Etwas in Leonards Innerem bröckelt ein wenig. Jim blickt ihn voller Sorge an, ist mit wenigen Schritten bei ihm, fängt an, ihn vorsichtig auf Verletzungen hin zu untersuchen, und endlich, als er Leonards Arm über seine Schultern zieht, löst Leonard sich aus seiner Starre. Er darf jetzt nichts hinterfragen, weil er sonst die ersten metaphorischen Schritte auf einem Weg unternehmen würde, der zu einer kleinen Tür mit der Aufschrift Wahnsinn führt.

„Mir geht’s gut“, sagt er. „Ich bin nicht verletzt. Sorry, Jim, es war einfach ...“

Er macht eine hilflose Geste, die die Stille und die immerwährende Helligkeit nur ansatzweise umgreifen kann. Jims offenkundige Besorgnis wächst. „Es ist vorbei, Bones, okay? Ich bring dich nach Hause.“

Und das tut er dann auch, ohne dass irgendetwas daran komisch ist, ohne dass Leonards Alarmglocken zu schrillen beginnen. Sie schaffen es aus der unterirdischen Basis, in der Leonard gefangen war, in die fast undurchdringliche Nacht hinaus, und danach dauert es nur wenige Momente, bis der Transporterstrahl sie erfasst. Leonard atmet die vertraute Luft des Transporterraumes ein, sieht das mitfühlende Nicken des Transporteroperators und muss heftiger als sonst blinzeln. Nach der ewigen Eintönigkeit ist das hier fast zu viel.

„Bones? Alles klar?“

Mühsam reißt er sich genug zusammen, um Jim in die Augen zu sehen. „Ja, es ist nur ...“ Er weiß nicht wirklich, wie er den Satz beenden soll, aber das ist in Ordnung. Das hier ist Jim; Jim hat immer schon gewusst, was Leonard meint, selbst wenn er es nicht in Worte fassen kann.

„Es ist nur gut, wieder hier zu sein. Verschwinden wir einfach von diesem verdammten Drecksloch und kehren nie wieder zurück. Ich hab genug von diesem Spinnern.“

„Das glaub ich.“ Mit einem schwachen Lächeln tritt Jim an die Transporterkonsole, legt seinen Phaser ab und überprüft irgendeine Einstellung. „Sie haben uns nicht mal gesagt, wieso sie dich überhaupt festgehalten haben. Ich hätte erwartet, dass sie versuchen, dir Informationen zu entlocken, aber das haben sie ja nicht mal, also ... Bones?“

Leonard ist stehen geblieben. Die Türsensoren, die ihn bereits erfasst haben, blinken ihn vorwurfsvoll an, bevor sich die Tür direkt vor seiner Nase wieder schließt.

„Das hab ich nicht gesagt“, sagt er.

„Was?“

Langsam dreht Leonard sich um. Jim steht immer noch an der Konsole und sieht genauso verwirrt aus wie der Transporteroperator neben ihm.

„Ich hab diesmal nicht gesagt, dass sie mich nichts gefragt haben.“

„Diesmal? Bones, was ...“

„Haben sie dir das gesagt?“

So vorsichtig, als nähere er sich einem verschreckten Tier, tritt Jim um die Konsole herum und auf Leonard zu. Leonard hasst alles daran und dennoch muss er sich zwingen, nicht zurückzuweichen.

„Ja, haben sie. Bones, vielleicht ist es am besten, wenn wir gleich zur Krankenstation gehen und dich durchchecken lassen, okay?“

Leonard will ihm glauben, er will es so sehr, dass es wehtut. Aber das schmerzhafte Etwas ist wieder zurück und verhindert, dass er Jim einfach so folgt, sich einfach so wieder in ein Leben einfügt, das vielleicht real ist, vielleicht aber ... nicht.

„Was genau haben sie dir gesagt, Jim? Was haben sie dich gefragt? Hast du ihnen irgendwelche Geheiminformationen verraten? Als Austausch?“

Jim ist jetzt direkt vor Leonard angekommen. Er streckt die Hand nach ihm aus, lässt sie aber wieder sinken, bevor er Leonard berührt. „Welche Informationen denn?“

Und das verrät ihn. Nein, nicht ihn. Das hier ist nicht Jim, Leonard weiß das, auch wenn er es noch nicht logisch erklären kann. Er weiß nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, wie Jim in einer solchen Situation reagiert hätte, aber er weiß, dass er nicht so reagiert hätte; er weiß, dass bei dem Wort Geheiminformationen nicht ein so hungriger Ausdruck über Jims Gesicht gehuscht wäre.

„Ich. Habe. Keine. Geheiminformationen. Okay? Hört auf damit! Ich habe keine –

~°~

Es ist hell und so still, dass seine letzten Wörter noch lange in dem kleinen Zimmer nachhallen. Leonard steht in der Mitte des Raumes, am Boden vor sich ein neues Tablett, und er weiß nicht, ob er weinen oder hysterisch lachen oder sich seine Hand brechen soll bei dem Versuch, ein Loch in die Wand zu schlagen.

Er entscheidet sich dafür, die Hände so sehr zu Fäusten zu ballen, dass es wehtut, und ins Nichts zu brüllen: „Ihr wollt Föderationsgeheimnisse, was? Okay, hier ist eines für euch: Die Föderation ist kein so großer Freund von Leuten, die jemanden kidnappen und gegen seinen Willen festhalten!“

Natürlich antwortet ihm niemand, was ihn nicht daran hindert, weiterzumachen. „Ihr könnt doch meine Gedanken lesen, oder? Ihr habt Jim und die Enterprise und alles aus meinem Kopf gezogen, also nehmt euch doch einfach noch das, was ihr wissen wollt, und lasst mich danach gehen! Kommt schon, worauf wartet ihr?“

Nichts passiert. Leonard spürt seinen Puls in den Ohren dröhnen und merkt, dass sein Herzschlag viel zu schnell ist, und er weiß, dass er sich beruhigen sollte, und kann es nicht.

„Ich kenne keine Geheimnisse, okay! Die wirklich wichtigen Sachen verrät das Oberkommando sowieso niemandem, und sicherlich keinem Medizinischen Offizier! Ich kenne einfach keine weltverändernden Pläne! Okay? Ich weiß nicht, was die Föderation oder die Flotte oder wer auch immer mit eurem Planeten vorhat, oder worum es euch sonst geht! Und ich weiß auch nicht, was euch das Recht gibt ...“

Ein Geräusch vor der Tür lässt ihn innehalten, außer Atem und zitternd und kurz davor, sich einfach auf den Boden zu setzen und so lange zu weinen, bis er vergessen hat, wieso er überhaupt weint.

Die Tür geht auf. Es ist Jim und er ist allein und er schaut Leonard voller Sorge an, und Leonard setzt sich tatsächlich auf den Boden und weint.

~°~

„Dann sagt mir doch wenigstens, welche Geheimnisse ihr wissen wollt! Vielleicht kann ich euch ja irgendwie helfen! Redet doch richtig mit mir!“

„Bones, es ist in Ordnung. Du bist in Sicherheit. Du bist daheim.“

Leonard fängt an zu lachen. Er lacht so sehr, dass Christine Chapel ihn am Ende betäuben muss, und als er wieder aufwacht, ist er zurück in seinem hellen, stillen Zimmer.

~°~

Manchmal schafft er es mit Nicht-Jim nur bis in den Gang hinaus, manchmal bis in den Transporterraum der Enterprise, manchmal in die Krankenstation, manchmal sogar bis in sein Quartier. Einmal landet er auch in der Arrestzelle, nachdem er einen Leutnant vom Sicherheitsdienst, der ihn am Arm gepackt hat, niedergestoßen hat.

Es spielt keine Rolle. Früher oder später passiert immer etwas, das die Illusion durchbricht, und er findet sich unweigerlich in dem hellen, stillen Zimmer wieder. Manchmal weigert er sich einfach, mit Nicht-Jim mitzugehen, weil er keine Lust hat, wieder und wieder auf einen winzigen Funken Hoffnung hereinzufallen und am Ende doch enttäuscht zu werden.

Es ist alles egal. Er wird für immer hier in diesem Zimmer gefangen sein, oder er wird von Illusion zu Illusion geworfen werden, oder vielleicht wird er ja wirklich befreit und kann es nie glauben, und dann wird er den Rest seines Lebens in einem Zustand der misstrauischen Habachtstellung verbringen und alles und jeden hinterfragen, bis sie ihn zu einem hoffnungslosen Fall erklären und ihn irgendwohin abschieben, wo er niemanden mehr stören kann ...

~°~

„Bones?“

„Ich will nicht mehr! Lasst mich in Ruhe!“

„Bones, was ist los? Was haben sie mit dir gemacht?“

„Lass mich in Ruhe!“

„Bones ...“

Leonard wirft sein Tablett nach Nicht-Jim und die Illusion zerplatzt früher, als er erwartet hat. „Erbärmlich“, murmelt er.

Es ist hell und still und leer und jetzt hat er nicht einmal mehr etwas zu essen.

~°~

„Bones?“

Leonard ist damit beschäftigt, seine Spiegelung in der Rückseite des Löffels zu betrachten. Er sieht nicht aus wie ein Wahnsinniger, findet er, zumindest noch nicht, aber vielleicht ist das nur eine weitere Illusion. Vielleicht eignen sich Löffel auch einfach nicht gut genug als Spiegel.

„Äh, Bones?“

Er dreht den Löffel um und sieht sich jetzt kopfüber, was fast noch besser ist.

„Bones?“

„Ich bin beschäftigt, komm später wieder“, murmelt er. Als er das nächste Mal von dem Löffel und seinem Spiegelbild aufblickt, ist Nicht-Jim verschwunden.

~°~

Er könnte sich umbringen. Der Gedanke kommt ihm natürlich früher oder später. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er damit den Kreislauf unterbrechen, aber dieser Plan hat einen eklatanten Haken: Danach wäre er, nun ja, tot. Wenn er tot ist, kann er seine Kidnapper nicht mehr für das büßen lassen, was sie ihm antun, und er wird Jim vermutlich nicht mehr so schnell wiedersehen, falls überhaupt.

Und außerdem ... Außerdem will er nicht sterben, nicht wirklich, noch nicht.

Hoffnung ist etwas Schreckliches.

~°~

Es ist hell und leer und langweilig. Leonard gelingt es endlich, mit dem Löffel eine Karikatur seiner Kidnapper in den Boden zu ritzen, und als er damit fertig ist, baut er Türme aus dem geschmacklosen Brei, den sie ihm immer bringen, nur um sie dann wieder zu zerstören. Er fängt an, Liegestütze zu machen, und stellt fest, wie untrainiert er ist. Er singt alle Lieder aus Cats the Musical, an die er sich noch erinnert (und das sind beschämend viele), er rezitiert Texte aus seinem alten Anatomie-Lehrbuch, er dichtet ein paar nicht sehr schmeichelhafte Limericks über die Rhiakhani und dann noch ein von Schimpfwörtern durchsetztes Sonett, er –

„Bones?“

„Verpiss dich.“

~°~

„Wieso ändert ihr nicht einfach mal eure Taktik? Schickt jemand andern als Fake-Jim oder ändert den Ablauf eures Szenarios? Vielleicht würde ich dann eher drauf reinfallen, ihr Idioten!“

Niemand antwortet ihm.

Es ist hell und leer und still. Leonard betrachtet den Löffel und überlegt sich, ob er das nächste Bild zur Abwechslung nicht einfach in seine eigene Haut ritzen soll, um wenigstens irgendetwas anderes zu spüren als Leere und Wut und Verzweiflung, und gerade, als er den Löffel in seinen Arm drückt, hört er ein Geräusch im Flur. Nachdenklich lässt er den Löffel sinken. Er könnte den Brei sammeln, sich daraus einen Miniatur-Pool bauen und den nächsten Nicht-Jim, der ihn stört, einfach darin ertränken ...

Die Tür schwingt auf und eine Gestalt schiebt sich ins Zimmer.

 „Ich bin beschäftigt“, murmelt Leonard.

„Doktor.“

Verwirrt blinzelt er zu der Gestalt hoch. Sie ist zu wenig hell, um Jim zu sein, und zu wenig haarig, um einer seiner Kidnapper zu sein, und außerdem kennt Leonard nur eine Person, die in einem so kontrollierten, emotionslosen Tonfall spricht, wenn sie sich in Wahrheit alles andere als unter Kontrolle hat.

„Oh, ihr habt eure Taktik endlich geändert. Ich bin stolz auf euch, gut gemacht.“

„Doktor McCoy?“

Nicht-Spock tritt auf ihn zu. Leonard macht sich nicht die Mühe, aufzustehen. Wenn er nicht mitspielt, zerplatzt die Illusion in der Regel schneller, und dann kann er früher mit seinem Brei-Projekt beginnen.

„Wusstest du, dass es mehr verschiedene Varianten von Weiß gibt, als man annehmen kann? Ich meine, schau dir die Wand an. Also richtig lange. Du wärst erstaunt, wie viele Weiß-Schattierungen du entdeckst.“

Nicht-Spock geht vor ihm in die Hocke, packt ihn am Handgelenk und nimmt ihm mit der anderen Hand den Löffel ab. Leonard kann sich nicht wehren, kann gar nichts tun außer dasitzen und Nicht-Spock anstarren, Nicht-Spock und ... und die drei Sicherheitsleute in ihren grellroten Uniformhemden, die an der Tür herumlungern und Leonard mit einer Mischung aus Verwirrung, Misstrauen, Entsetzen und so etwas wie vager Wiedersehensfreude betrachten.

„Leonard, schauen Sie mich an.“

Er muss gehorchen, er kann  nicht anders. Die Berührung an seinem Handgelenk ist fest und sanft zugleich, und von ihr strahlt Wärme in Leonards Körper ab und außerdem noch etwas anderes, so etwas wie Ruhe und ein Gefühl von alles wird gut.

Oh, denkt Leonard. Eine andere Form der Telepathie. Interessant, aber nichts, worauf er lange hereinfallen wird.

„Doktor McCoy, ich weiß, dass es Ihnen nicht gut geht. Ich weiß, dass das, was man Ihnen angetan hat, unentschuldbar ist. Aber wir benötigen Ihre Hilfe. Jim benötigt Ihre Hilfe.“

Leonard starrt in Spocks unergründliche braune Augen, sieht, wie wütend er hinter seiner betonten Zurückhaltung ist, und atmet kontrolliert ein und wieder aus, bis seine Welt sich einzig und alleine auf Spock verengt hat – auf Spock und auf diesen einen Satz, der schon immer die Macht hatte, sein Universum zum Stillstand zu bringen. Jim braucht seine Hilfe.

„Bringen Sie mich weg von hier“, flüstert er.

~°~

Es ist hell in der Krankenstation, aber nicht still. Es macht keinen Unterschied. Das vertraute Summen der Instrumente und das Gespräch zweier Patienten sind nicht genug, um Leonards Welt, die nur noch aus zwei Gedanken besteht, wieder zurechtzurücken; nicht einmal die halb skeptischen, halb erschrockenen Blicke seines Personals bringen seine Entschlossenheit ins Wanken. Es geht um Jim und Leonard ist Arzt. Er kann das Risiko nicht eingehen, dass es vielleicht keine weitere Illusion ist.

Die Erklärung, die Spock ihm geliefert hat, ist ebenso einfach wie erschreckend. Aus irgendeinem Grund glauben die Rhiakhani, dass die Föderation ihren Planeten gewaltsam unterwerfen und seine Ressourcen ausbeuten will, und um sich für einen Kampf zu rüsten, der nie stattfinden wird, haben sie die erstbesten Mitglieder der Sternenflotte entführt, die sie in die haarigen Finger bekommen haben. Unglücklicherweise waren diese erstbesten Mitglieder Jim, Spock und Leonard, und unglücklicherweise konnte niemand von ihnen den Rhiakhani das sagen, was sie hören wollen, weil die Föderation nun einmal nicht plant, ihren jämmerlichen Planeten zu versklaven.

Eine gefühlte Ewigkeit gefangen in Illusionen, sie alle, nur weil die Rhiakhani nicht in der Lage waren, vernünftig mit ihnen zu kommunizieren – oder, wie Spock vermutet, weil es ihnen Spaß bereitet hat, sie leiden zu sehen.

„Es scheint mir die logischste Erklärung zu sein“, sagt er. Er sieht dabei wütender aus, als Leonard ihn je erlebt hat, aber seltsamerweise ist das nicht im Geringsten beängstigend.

Weil es ihnen Spaß bereitet hat. Spaß. Leonard ist fast verrückt geworden, und Jim ... Jim konnte damit wohl noch weniger umgehen als er. Er hat einen seiner wagemutigen Pläne geschmiedet, erzählt Spock, und konnte seiner Zelle tatsächlich entkommen – nur dass er nicht weit kam. Sie haben ihn abgefangen, er hat sich gewehrt, und er wurde so dramatisch verletzt, wie nur Jim das hinbekommt.

Der einzige Glücksfall war, dass Spock mit seinen telepathischen Fähigkeiten die Illusionen brechen, sich befreien und gerade rechtzeitig zu Jim gelangen konnte, um ihn noch dort in der Basis wiederzubeleben.

Falls das alles nur eine weitere Illusion ist, ein elaboriertes Märchen, so hat es beängstigend viele Gemeinsamkeiten mit ihren Missionen aus der Vergangenheit, und es tastet beängstigend viele von Leonards Ängsten an. Jim hat sich verletzt und Leonard war nicht da, um ihm zu helfen.

„Doktor Sanchez konnte ihn vorerst stabilisieren“, sagt Spock, während sie auf den Operationssaal zueilen. „Aber ...“

Er muss nicht weitersprechen. Sanchez ist ein fähiger Arzt, aber er kann die nötige Operation nicht eigenständig durchführen. Er ist nicht Leonard.

Leonard beißt die Zähne zusammen, lässt den Löffel fallen, den er aus Gründen, über die er lieber nicht zu genau nachdenkt, mitgenommen hat, und gleitet so mühelos in die Rolle des Doktor McCoy, als wären die letzten Tage nie geschehen. Selbst Christines „Oh Gott, du siehst furchtbar aus“ kann ihn nicht herausreißen. Es geht um Jim, das ist schon lange fast das Einzige, was zählt.

~°~

Er findet erst wieder zurück in eine zu laute, zu hektische Realität, als die Operation hinter ihnen liegt, als Jim langsam aufzuwachen beginnt, als Leonard seine Hand so fest drückt, dass es sicherlich ihnen beiden wehtut.

„Jim? Hey, mach die Augen auf.“

Jims Hand zuckt in seiner, aber Leonard lässt nicht los. Auf der anderen Seite des Biobetts tauschen Spock und Christine einen besorgten Blick.

„Jim, schau mich an.“

„Lass mich in Ruhe“, flüstert Jim, so leise und undeutlich, dass Leonard ihn nur versteht, weil er von vornherein wusste, was Jim sagen würde. Er drückt Jims Hand noch ein wenig fester.

„Kannst du vergessen. Ich lass dich ganz sicher nicht in Ruhe, weil dann die Rhiakhani gewonnen hätten.“

Jetzt öffnet Jim die Augen. Sein Blick huscht durch den Raum, streift Christine, bleibt an Spock hängen und landet dann bei Leonard. „Das ist anders als sonst. Ist das real?“, fragt er.

Leonards Antwort ist die einzige, die er in dieser Situation geben kann. „Ja.“

Er glaubt es, er glaubt es wirklich, oder zumindest redet er sich in diesem Moment erfolgreich ein, dass er es glaubt. Er muss es glauben. Die Zweifel werden bleiben, vermutlich sogar für eine ganze Weile, aber wenn er sich ihnen jetzt schon hingibt, heißt das, dass die Rhiakhani von vornherein gewonnen haben, und das ist eine Vorstellung, mit der Leonard noch viel weniger leben kann als mit der ständigen Ungewissheit.

Jim schaut ihn lange an. In seinem Gesicht sieht Leonard seine eigenen Gefühle gespiegelt, all die Wut und die Verzweiflung und die Unsicherheit, aber dann lächelt Jim leicht und drückt Leonards Hand und das muss für den Moment genug sein.

Leonard reißt seinen Blick von Jim los und lässt ihn durch die Krankenstation gleiten, sieht Christine, die ihn ebenfalls anlächelt, und Spock, der ihm zunickt, und trifft seine Entscheidung. Wenn das hier eine Illusion ist, ist es zumindest nicht die schlechteste.

Er kann mit dieser Illusion leben.

Rezensionen