Bis ans Ende aller Tage
Prolog
Die Party und die Nacht waren lang. Es war inzwischen dreizehn Uhr dreißig und Roger sah sich um. Die meisten seiner Wettbewerber erwachten langsam mit einem heftigen Brummschädel und versuchten sich zu orientieren. Fast alle waren noch sehr unsicher auf den Beinen, wenn Sie überhaupt so weit hochkamen.
Es war das letzte Rennen der Serie gewesen und kurz nach der Siegerehrung hatte die Sportorganisation im ehemaligen Europa beschlossen, diese Oldtimer-Fahrzeugrennen, die mit alten Verbrennerfahrzeugen ausgetragen wurden, endgültig zu verbieten. Es war ein Entscheidungsprozess, aber letzten Endes war es nun so gekommen.
In dem Bewusstsein, dass man sich wahrscheinlich nicht mehr in dieser Runde treffen würde, hatten die Kontrahenten spontan beschlossen, eine riesige Abschiedsfeier zu starten, bei der jeder eingeladen war. Fahrer, Mechaniker, Presseleute und die Funktionäre, ebenso wie die Besitzer der Rennställe. Alle waren gekommen und so wurde es eine der Besten, wenn nicht sogar die beste Fete, die man auf dem ehemals europäischen Kontinent gesehen hatte.
Roger van Dyke, war vermutlich der Einzige der aufgrund seiner Abneigung alkoholischer Getränke nüchtern geblieben war und so hatte er zwar einen klaren Kopf, sah aber auch überdeutlich all das Chaos, welches die Partyrunde veranstaltet hatte.
Mario Nannini, der Zweite im letzten Rennen trat neben Roger, der am Türrahmen stand und in die große Halle sah. „Es ist schon ein Jammer, dass das nun endet. Ich war mir so sicher, dass ich im nächsten Jahr den Titel hätte holen können.“
Roger antwortete, ohne sich von dem Blick in die Halle abzuwenden, in der noch viele Partyleichen auf Sofas, Hockern oder einfach auf dem Boden schliefen. Einer war sogar an der Bar zusammengesackt und lag mit seinem Kopf auf dem Tresen.
„Das glaubst Du doch selbst nicht, an mir wärst du auch im nächsten Jahr nicht vorbeigekommen.“, erklärte er scherzhaft, auch wenn ihm bewusst war, dass es nicht allein am Fahrer lag, sondern zu einem großen Teil auch an den Fahrzeugen. Aber noch wichtiger waren gute Mechaniker die inzwischen dünn gesät waren, vor allem diejenigen, die sich mit der Technik dieser überalterten Motoren gut auskannten. Das machte viel aus.
Junko Miyachi stieß zu ihnen und hielt sich den Kopf. „Habt ihr den Fluggleiter gesehen, der mich gestern Abend überrollt hat?“, stellte sie eine rhetorische Frage.
„Du meinst den, der auch mich erwischt hat?“, kam die brüchige Stimme von Rhonda Meyers, „Ich glaube der wollte in die Stattmitte.“, flachste sie, während sie zu der Gruppe trat.
Carl Getters raffte sich in der Mitte der Halle auf und kam mit langsamen Schritten auf die Gruppe zu. Als er direkt vor ihnen stand, konnte man die Alkoholfahne aus seinem Mund noch deutlich wahrnehmen.
„Ach Mann, ich will nicht, dass es aufhört. Kommt lasst uns noch irgendwas machen. Irgendwas total verrücktes, so wie einen Orbitalsprung auf die Erde oder eines von diesen anderen Adrenalinangeboten. Ich hab‘ so Bock auf eine neue Sichtweise, ich wüsste nicht mal was ich jetzt anfangen soll.“
Es waren noch nicht alle ganz auf der Reihe, deshalb erhielt er nicht gleich eine Antwort, bis Roger van Dyke sich dazu äußerte. „Manchmal bekommt man eine gute Anregung, wenn man seine Situation von einem anderen Standort betrachtet. Was haltet ihr davon nach New Berlin zu fliegen und sich die Welt aus einer anderen Perspektive anzusehen?“
Die fünf jungen Rennfahrer überlegten keine Sekunde. Schon nach fünf Minuten war ein Flug zum Mond gebucht, bei dem man diese Idee umsetzen konnte.
Der Regelverkehr zwischen Erde und Mond war in einer engen Taktung vorgesehen, so wie es einmal Busverbindungen auf der Erde gegeben hatte. Die fünf jungen Leute hatten nur kleines Gepäck für einen kurzen Ausflug dabei. Man beschränkte sich auf das Nötigste.
Obwohl es auf dem Mond mehrere faszinierende Ziele gab, wie Tycho City und Lake Armstrong, hatten sie sich entschieden, zunächst in ein kleines Hotel in New Berlin einzuchecken. Von dort aus ging es auf eine geführte Tour zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt.
Dabei zählten unter anderem das ursprüngliche Kernmodul mit seinem Kuppeldach zu den beliebtesten Zielen. Aber auch der Ort der ersten Mondlandung wurde sehr stark nachgefragt, was allerdings eine größere Reise beinhaltet hätte. Während sich seine Rennkollegen einen Spaß daraus machten, die niedrige Schwerkraft für große Sprünge und groteske Verrenkungen zu nutzen, die allesamt scheinbar wie in Zeitlupe abliefen, interessierte sich Roger wesentlich mehr für die Technik, die genutzt wurde, um dieses Projekt zu realisieren. Schon am zweiten Tag ging er allein auf Entdeckungstour und konnte die Entwicklung der Technik von der Gründung der Stadt 2143 bis ins heutige Jahr 2350 recht gut nachvollziehen.
Schon auf dem Lastenpendler, auf dem er damals angeheuert hatte, war die Technik eines der interessantesten Themen gewesen, dem er mit Begeisterung nachgegangen war. Sein Streifzug brachte ihn immer weiter in eine Gegend, in der nur noch wenige Touristen zu sehen waren.
Vor einem großen Plakat machte er halt. Es war eine Information der Sternenflotte, die Berufsausbildungen anbot. Techniker, Wissenschaftler, medizinische Qualifikationen und weiterführende Ausbildungen für leitende Offiziere, um das Kapitänspatent zu erwerben.
Zugegeben, die Sternenflotte war auch eine militärische Organisation, aber der Fokus lag deutlich auf den einzelnen Themen und mit einem Abschluss war man auch in der Privatwirtschaft gern gesehen. Zudem, so wusste Roger von dem ein oder anderen Bekannten, konnte man sich sein Spezialgebiet größtenteils selbst aussuchen, eine Möglichkeit die ihm sehr imponierte, denn mit strikten Vorgaben und klarer Unterordnung hatte Roger eher schlechte Erfahrungen gemacht, weshalb er sich entschieden hatte seinen eigenen Weg zu gehen. Doch das Leben fing gerade erst an und er brauchte eine Herausforderung, die ihn reizen konnte.
Roger machte kehrt, nahm ein Flugtaxi und war schnell wieder in der Kernstadt, wo sich seine Unterkunft befand. Es war inzwischen spät am Abend und seine Reisekollegen warteten bereits auf ihn.
„Hey komm, wir ziehen nochmal los. Wir müssen ja schon in wenigen Tagen wieder zurück. Lass uns was anstellen, lass uns Party machen.“, forderte Rhonda ihn auf und nachdem alle auf ihn einredeten, erklärte sich Roger bereit mitzugehen.
In einem Pulk liefen Sie in den engen Gassen der Kernstadt einem abendlichen Abenteuer entgegen.
Plötzlich zog ihn Mario am Arm und schleifte ihn durch eine Tür. Nur kurz konnte er das Schild lesen „Hofbräuhaus New Berlin“. Innen war alles in einem europäischen Stil gehalten, der an einen südlichen Bundesstaat in Zentraleuropa erinnerte. Es gab bayrische Weißwürste, die Musikkapelle, die live auf der Bühne spielte, verwendete authentische Blas- und Zupfinstrumente und es ging hoch her. Einige der Gäste schienen die damalige Landestracht zu imitieren, die sie sicher im Shop gegenüber erstanden hatten. Die Herren trugen Lederhosen und einen Filzhut auf dem Kopf die Damen trugen ein Dirndl in verschiedenen Ausführungen.
Auch die Bedienung eine große und starke Frau, die mit ihren beiden Händen insgesamt zehn große Bierkrüge trug und in diesem Etablissement beschäftigt war, hatte ein Dirndl an. Sie war also passend gekleidet und versorgte die Gäste mit Speisen und Getränken.
Mario setzte sich an einen freien Platz, der eigentlich nur aus zwei Holzbänken und einer dicken Holzplatte als Tisch bestand. Ein einziger Wink reichte aus und fünf Krüge mit dem Fassungsvermögen von je einem Liter Bier, standen auf dem Tisch.
Wohl oder übel musste Roger mittrinken, obwohl er solche Getränke lieber mied.
„Auf dass es uns nie langweilig wird!“, rief Junko Miyachi und hob das schwere Glas an. Die großen Gläser schlugen gegeneinander und ein Teil des Inhalts schwappte unter dem begeisterten Grölen der jungen Leute auf den Tisch.
Nach einem tiefen Zug aus dem Glas sprang Carl Getters auf und zitierte die Bedienung herbei.
Schon nach wenigen Minuten stand vor jedem ein Teller mit zwei Weißwürsten, einem Klecks süßen Senfs und eine frische warme Brezel.
„Ich hab‘ mal gehört, die Weißwürstel dürfen das zwölf Uhr Läuten nicht hören.“, bemerkte Roger, während er versuchte die Würste, so wie in der beigelegten Anleitung gesehen aus der Pelle zu zuzeln.
„Das kann aber doch nur in grauer Vorzeit gewesen sein und außerdem ist es ja erst elf Uhr Abends!“, kam es prompt von Rhonda mit vollem Mund zurück.
„Na da war wohl eher das Mittagsläuten gemeint, weil die Menschen damals noch nicht die Haltbarmachung erfunden hatten. Frische Speisen waren auch gekocht nur sehr begrenzt haltbar.“, ließ sich nun Junko vernehmen, die ebenfalls damit zu kämpfen hatte, wie man die Wurst aus der Pelle bekommt.
„Jetzt hört endlich auf mit dem Gezeter, ich will meinen Spaß haben, also hoch die Tassen.“, war es von Carl zu hören. Erneut klangen die Gläser beim Zusammenstoß über dem Tisch und läuteten eine weitere lange Nacht ein.
Zwei Tage später stand die Abreise an. Man hatte gegenseitig die Adressen ausgetauscht und sich versprochen in Kontakt zu bleiben, aber Roger machte sich nichts vor. In kürzester Zeit würde jeder seinen eigenen Weg gehen und man würde nur noch selten voneinander hören. Solche Sachen hatte er schon öfter erlebt, unter anderem im Kasino des Lastenpendlers. Von all den Versprechungen auf Wiedersehen waren ihm nur zwei bekannt, die bedingt durch eine geschäftliche Verbindung weitere Kontakte pflegten.
Beim Auschecken kam es allerdings zu einer Überraschung, mit der niemand gerechnet hatte. Die Dame an der Rezeption informierte die Truppe, dass der Regelverkehr aufgrund von einigen Unruhen im Raumbahnhof für Allgemeinverkehr eingestellt worden war.
Sie hatte allerdings eine Umbuchung auf ein Shuttle der Sternenflotte vorgenommen, dass die kleine Gruppe noch aufnehmen konnte. Ein Flugtaxi war bereits bestellt worden und so konnten die fünf Personen schnell zum Sternenflottenhafen von New Berlin gebracht werden.
Während der Fahrt waren noch einmal die Kontaktversprechen aufgekommen und auch Roger sagte zu, dass er sich um weitere Treffen bemühen würde. So hatten sie gar nicht bemerkt, dass sie inzwischen angekommen waren und als die Tür aufging, standen Sie direkt vor dem Sternenflottenhangar.
Roger war beeindruckt. Die Sternenflotte hatte hier einen sehr professionellen Auftritt hingelegt. Alles war klar strukturiert, die Wege waren mit Farben auf dem Boden markiert, so dass es leicht fiel sich zurecht zu finden.
Sie betraten das Gebäude, wurden von einem Offizier der Sternenflotte begrüßt und nach ihrem Wunsch befragt. Mario meldete sich zu Wort. “Wir hatten für heute unseren Rückflug gebucht, aber es gab wohl Schwierigkeiten im allgemeinen Raumhafen. Unser Hotel hat dann einen Transfer mit der Sternenflotte organisiert.“ Mario reichte dem Lieutenant eine Karte, die dieser in sein Anzeigengerät steckte.
„Verstehe. Sie müssten sich aber beeilen, die Fähre startet in wenigen Minuten. Folgen Sie den orangenen Linien. Die führen sie direkt zum Startplatz.“
Während die anderen sich angeregt unterhielten schaute sich Roger van Dyke um. Das alles sah sehr geordnet aus, klare Linien, klare Ansagen und ein Ausblick auf das Leben in der Flotte konnte er auch sehen. Auch wenn die Organisation auf militärischen Grundwerten aufbaute, so war es sicherlich eine solide Ausbildung, die nicht nur im Weltraum, sondern auch in der Privatwirtschaft ihre Anerkennung fand. Kadetten, Offiziere und sogar ein Captain mit seinem Commander kreuzten seinen Weg. Alles machte einen entspannten Eindruck. Nach Drill, blindem Gehorsam und eingefahrenen Bahnen, sah das nicht aus und Roger erhielt den Eindruck, dass dies möglicherweise ein neuer Weg für ihn sein konnte.
Das Executive Shuttle war zwar nicht ganz so exklusiv ausgestattet wie die Regelverbindung, vor allem fehlte eine Stewardess, die Getränke und kleine Snacks servieren konnte. Das war bei der Flotte nicht üblich, dafür war der Ritt zur Erde aber besonders kurz. Zwischen Start und Landung vergingen keine fünfzehn Minuten. Nachdem die fünf das Shuttle verlassen hatten stellten Sie allerdings fest, dass sie auf dem Raumhafen der Sternenflotte in San Francisco gelandet waren und sie darum einen Anschlussflug auf der Erde benötigten. Während sich die anderen schnell verabschiedeten, hatte sich Roger hier im Raumhafen noch ein wenig umgesehen.
Langsam trottete er in Richtung Ausgang und sah mehrere Offiziere, die hier ankamen oder abflogen. Er nahm an, dass sie von Schiffen der Sternenflotte stammten und hier waren, um Befehle zu erhalten oder mit neuen Aufträgen wieder loszufliegen.
Am Ausgang nahm er sich noch eine Informationsbroschüre mit, die darüber Aufschluss gab, wie eine Karriere bei der Sternenflotte aussehen konnte. Natürlich nutzte man dabei die Mittel der Übertreibung und der Faszination für das Weltall aus. Ein Schiffsdesign wurde skizziert, das in absehbarer Zeit in die Flotte integriert werden sollte, doch Roger lebte im hier und jetzt. Er wusste, dass dies ein Wunschdenken vieler jungen Leute war, die Realität sah jedoch meist ganz anders aus. Doch er fand, es sei eine Überlegung wert.