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Das Wunder von Atlanta

von Emony

Kapitel 2

„Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Jim, nachdem er einen Blick auf das Haus – oder besser, die Villa – geworfen hatte. Der Taxifahrer drehte sich zu ihm herum und funkelte ihn genervt an. „Okay, schon gut.“ Er drückte seinen Daumen auf das Panel, um zu bezahlen. Die Fahrt hierher war nicht gerade billig gewesen, aber immerhin hatte er es im Wagen warm gehabt und ein paar Stunden schlafen können. „Frohe Weihnachten.“

Jim stieg aus, holte seine Tasche aus dem Kofferraum und trat auf den Gehweg. Das Haus wirkte wie ein kleines Schloss auf ihn. Weshalb hatte Bones nie erwähnt, dass seine Familie wohlhabend war? Hatte Bones ihm deshalb nie viel von seiner Familie erzählt? Jim trat zögerlich auf das Haus zu. Die Veranda war riesig und umgab die gesamte Front des Anwesens. Acht Säulen trugen das Vordach, an dessen Regenrinne eine Lichterkette hing, die den Eindruck erweckte, dass kleine funkelnde Sterne vom Dach herab regneten. Die Säulen waren mit Tannenzweigen, roten und goldenen Glaskugeln geschmückt.

Jim stand da und war sich sicher, dass er mitten in einem Weihnachtstraum gelandet war. Das obere Stockwerk war etwas weniger dekoriert, dafür war jedes Fenster mit einer eigenen Lichterkette geschmückt. Und in einem der oberen drei Fenster stand eine einsame Kerze. Ihr Schein war schwach, aber stark genug, dass Jim von unten die Flamme tanzen sehen konnte. Ob das Bones’ Schlafzimmer war?

Den Atem anhaltend wagte er sich noch ein paar Schritte weiter auf das Haus zu und betrat schließlich die wenigen Stufen zur Veranda. Neben der Tür hing ein ovales, kupfernes Namensschild, auf dem unverkennbar ‚McCoy’ stand. Er war definitiv richtig, konnte es aber trotzdem nicht glauben. Und zu allen Überfluss war er früh dran. Der Taxifahrer hatte es offenbar eilig gehabt wieder zurück nach Iowa zu kommen und war wie ein Verrückter gefahren. Nun ja, Jim nahm es ihm nicht übel. Die Straßen waren nahezu leer gewesen. Nur hier und da in den Städten, die sie durchquerten, war etwas mehr los gewesen.

Die Sonne würde erst in circa einer Stunde aufgehen, wenn Jim sich nicht vollkommen irrte. Also beschloss er, es sich auf der Veranda bequem zu machen und zu warten, bis jemand im Haus wach wurde. Allerdings hoffte er, dass es Bones sein würde. Denn wie um alles in der Welt sollte er Bones’ Eltern erklären, dass er sich mitten in der Nacht von Riverside Iowa bis hierher durchgeschlagen hatte?

Die eisige Kälte hielt Jim wach. Er saß schlotternd auf der kleinen Holzbank und starrte auf das Haus gegenüber. Es war nicht ganz so schön wie das der McCoys und etwas kleiner, dafür war der Garten reicher bepflanzt und es war deutlich stärker, fast schon übertrieben geschmückt und wirkte dadurch kunterbunt. Jim zog den dezenten Schmuck der McCoys vor. Er war schön anzusehen, lud zum träumen ein, erschlug einen jedoch nicht.

Irgendwann dämmerte es, und die ersten Sonnenstrahlen kamen zwischen den kahlen Bäumen und den Häusern durch. Jim spürte seine Extremitäten nicht mehr, und auch sein Gesicht fühlte sich vollkommen steif an. Und als die Haustür der McCoys geöffnet wurde und Bones, in Bademantel und vollkommen zerzaustem Haar heraustrat, um die Morgenzeitung zu holen, konnte Jim nur eine Grimasse machen, anstatt ihm ein Lächeln zu schenken. Und wann war eigentlich der Zeitungsjunge gekommen? Jim hatte nichts bemerkt. Oder war er etwa eingenickt und hatte ihn deshalb verpasst?

„Seit wann bist du da?“, fragte Leonard nur und kam sofort mit besorgtem Gesichtsausdruck auf Jim zu. Die Zeitung klemmte er sich unter den Arm.

Jim versuchte seinen Kiefer aus der Starre zu lösen. „B-bin n-nicht s-sicher.“

„Verdammt, Jim. Komm rein.“ Leonard zog ihn an den Armen hoch. „Du bist eiskalt. Und deine Lippen sind ganz blau.“

„W-wollte d-dich n-nicht w-wecken.“

„Super, danke. Aber erfrieren war eine Option? Bist du von allen guten Geistern verlassen, Mann?“, grummelte Leonard, schnappte sich Jims Tasche und führte ihn am Ellbogen ins Haus.

Jim konnte nur ein weiteres Mal staunen. Sofort empfing ihn angenehme Wärme. Es war ganz still im Haus. Alle Anderen schliefen offenbar noch.

„Hier rein. Setz dich an den Kamin. Ich bin gleich bei dir.“ Leonard schob Jim ins Wohnzimmer, wo ein kleines Feuer im Kamin prasselte. Das Holz war fast niedergebrannt, dennoch verlieh es dem Raum eine angenehme Temperatur und ein wohliges Ambiente.

Jim ließ sich dankbar in den Sessel vor dem Kamin sinken und streckte seine eisigen Hände Richtung Feuer aus. Die Wärme brannte in seinen Fingern, war beinahe schmerzhaft. Er konnte Bones im Hintergrund schimpfen hören und musste lächeln. Wie war es möglich, dass er Bones nach nur wenigen Tagen so sehr vermisst hatte? Wann war es unmöglich geworden auch nur eine Woche ohne diese Schimpftiraden auszukommen?

Leonard kehrte nach ein paar Minuten zurück. Er trug ein Tablett mit dampfenden Tassen in der einen Hand, in der anderen trug er eine dicke Decke; unter dem Arm etwas, das Jim nicht gleich identifizieren konnte. Leonard warf ihm die Decke auf den Schoß und stellte das Tablett ab. Darauf befand sich neben den Tassen, wie Jim jetzt erfreut feststellte, ein Teller mit Sandwiches.

„Zieh die Schuhe aus“, verlangte Leonard.

„Ich hab kalte Füße“, beschwerte sich Jim.

„Ach was, Klugscheißer. Das hab ich mir durchaus gedacht. Jetzt mach und widersprich mir nicht. Ich bin Arzt, ich weiß was ich tue.“

Ungeschickt gelang es Jim die Schnürsenkel seiner Stiefel zu öffnen. Seine Finger fühlten sich allerdings immer noch taub an, und Bones schien nicht sonderlich geduldig zu sein. Das war Bones eigentlich nie, wenn er zu wenig Schlaf hatte, was in seinem Beruf leider oft der Fall war. Dennoch hatte Jim erwartet einen entspannten Bones vorzufinden. Immerhin war er hier im Wunderland Atlanta.

Schließlich kniete Leonard sich vor ihn hin und half Jim mehr oder weniger behutsam aus den eisigen Stiefeln. „Man könnte meinen, dass jemand, der in Iowa zuhause ist, wo man mit Schnee zu dieser Jahreszeit rechnen muss, richtige Winterstiefel besitzt. Aber nein, du natürlich nicht. Du trägst deine bescheuerten Sternenflottenstiefel.“

„Die sind bequem.“

Leonard verdrehte die Augen. „Und Baumwollsocken hast du auch keine, wie ich annehme? Was sind das für dünne Dinger?“ Er riss Jim ungefragt die Socken von den Füßen und setzte sich gänzlich auf den Allerwertesten. Und noch ehe Jim sich beschweren konnte, streifte Leonard ihm ein paar dicke Wollsocken über.

„Die jucken“, gab Jim kleinlaut von sich.

„Die sind vor allem warm. Und jetzt deck dich zu, trink deinen Tee und iss was.“

„Ja, Dad.“

Leonard erstarrte. Sofort fiel ihm Joanna wieder ein. Sein Blick war stumm auf das Feuer gerichtet, als er begann, Jims eisige Füße zu massieren, um die Blutzirkulation anzuregen.

Jim starrte Löcher in Bones’ Hinterkopf, gehorchte aber – wie eigentlich ständig, wenn Bones ihn mit Doktor Befehlen überhäufte. Er vertraute Bones’ Urteil. Bones war im Grunde die einzige Person, der er vollkommen und in jeder Hinsicht vertraute.

„Du hättest mir ruhig sagen können, dass du reich bist“, sagte Jim dann mit halbvollem Mund und spülte das Sandwich mit Tee runter.

„Ich bin nicht reich“, widersprach Leonard. „Ich hab dir doch erzählt, dass Jocelyn alles bekommen hat.“ Nun ja, alles bis auf Joanna. Er hatte ihr alles andere gelassen, damit sie ihm die Tochter nicht nahm, und sie hatte lieber das Geld und das Haus genommen. „Das Haus gehört meinen Eltern, nicht mir.“

„Aber du wirst es sicher erben und …“

„Hey“, sagte Leonard scharf und wandte sich zu Jim um, „über so etwas denke ich nicht nach. Ich will das nicht hören. Meine Eltern sind gesund, und dafür bin ich mehr als dankbar. Es ist mir scheißegal, ob ich irgendwann etwas erbe, oder ob sie ihr Hab und Gut verprassen. Ich habe seit Abschluss meines Studiums für mich selbst gesorgt.“

„Südstaatenstolz“, lächelte Jim. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht kränken.“

Leonard atmete tief durch. „Schon gut. Ich weiß, dass du das nicht wolltest. Es fällt mir nur schwer daran erinnert zu werden, dass meine Eltern nicht unsterblich sind.“

„Wem erzählst du das.“ Jim seufzte leise. Er konnte sehen, dass Bones seine ungünstige Wortwahl sofort bereute. „Wissen deine Eltern, dass du mich eingeladen hast?“, fragte er dann, um das Thema zu wechseln.

„Nein“, gestand Leonard kopfschüttelnd. „Wie fühlen sich die Füße an? Wärmer?“

„Ja, aber es tut gut, wenn du sie massierst. Mach ruhig weiter“, grinste Jim.

Leonard rollte erneut die Augen und schüttelte den Kopf. „Von wegen, ich brauch jetzt erstmal Kaffee.“ Er setzte sich in den zweiten Sessel und sah Jim einen Moment lang an. Der verschlang die Sandwiches geradezu und hatte seinen Tee bereits ausgetrunken. „Meine Mutter wird dich lieben.“

Jims Augenbrauen schossen in die Höhe, sodass sich kleine Falten in seiner Stirn bildeten. „Ah ja?“

Leonard nickte. „Sie liebt es zu kochen und noch mehr, wenn es ihren Gästen schmeckt. Und bei deinem Appetit wird sie dich vergöttern.“

Jim grinste und schluckte den letzten Bissen runter. „Und was ist mit deiner Geheimnis umwobenen Joanna? Wird sie mich auch lieben?“

Leonard versteifte sich erneut. „Sie ist keine Frau, Jim. Und ob sie dich mögen wird … Vermutlich ja. Ihr habt viel gemeinsam.“

„Ha. Klasse. Wer ist sie? Wann lerne ich sie kennen? Ist sie hier?“ Sein Blick wanderte automatisch Richtung Foyer. Jim nahm an, dass die Schlafzimmer im oberen Stockwerk untergebracht waren.

„Sie wird bestimmt bald aufstehen. Ich werde sie sicher nicht wecken“, erwiderte Leonard. „Möchtest du noch einen Tee? Mehr zu essen?“

„Ja und ja. Wenn es keine Umstände macht.“

Leonard nickte und stemmte sich aus dem Sessel. „Bin gleich zurück.“

„Kann ich dir helfen?“

„Nein. Bleib sitzen und wärm dich weiter auf. Dass du mir vor Weihnachten krank wirst, kann ich nun wirklich nicht brauchen.“

Jim sah Bones nach, als dieser ins Foyer verschwand, und somit aus seiner Sicht. Nach wenigen Minuten hörte er Schritte, wandte abermals den Kopf und lächelte. Über sein Lächeln huschte allerdings ein kleiner Schatten, als da nicht wie erwartet Bones stand, sondern ein verschlafenes Mädchen, das sich die Augen rieb und ihn anstarrte, als sei er ein fremdes Alien. Nun ja, fremd war er ja tatsächlich.

„Hi“, grüßte Jim das Kind und frischte sein Lächeln auf.

„Wer bist du denn?“

„Jim Kirk“, stellte er sich vor und erhob sich. „Und wer bist du?“

„Joanna.“

Okay. Bones hatte nicht übertrieben, als er gesagt hatte, dass Joanna keine Frau war. Und jetzt wusste er auch, warum sie nicht Bones’ Freundin war, oder als heiß durchging. „Freut mich, dich kennen zu lernen, Joanna. Ich bin ein Freund von Bones.“

„Wer ist Bones?“

„Leonard. Ich meine natürlich Leonard.“ Er hatte Bones nie mit seinem echten Namen angesprochen. Das fühlte sich merkwürdig auf der Zunge an.

Hinter Joanna tauchte plötzlich Bones auf und presste die Lippen aufeinander. Jim sah ihn selten mit diesem verbissenen Gesichtsausdruck. Und wenn Bones dieses Gesicht machte, dann nur, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte.

„Du hast mir verschwiegen, dass du eine entzückende kleine Schwester hast“, sagte Jim. Eine gewisse Ähnlichkeit war kaum zu leugnen. Sie hatte Bones’ Haar- und Augenfarbe und seine Lippen.

„Sie ist nicht meine Schwester“, sagte Leonard und trat dicht an Joanna heran, um ihr seine freie Hand auf die Schulter zu legen. In der anderen balancierte er das Tablett mit Jims Tee und Sandwich Nachschub.

„Deine Nichte?“

Das Mädchen gluckste. Leonard schüttelte den Kopf. Jim starrte seinen besten Freund ratlos an.

„Kommst du nicht auf das Naheliegende, Jim?“

Dieser schüttelte den Kopf und sah immer wieder von Joanna zu Bones und wieder hinab auf das Kind. „Sie kann nicht deine Tochter sein.“

Leonard nickte leicht. „Ich hätte dir von ihr erzählen sollen.“

„Machst du mir einen Kakao, Daddy?“, unterbrach Joanna, sah zu Leonard auf und Jim zuckte leicht zusammen.

Wie hatte Bones ihm das verschweigen können?

„Gleich, Schatz. Geh schon mal in die Küche. Ich bin in einer Minute bei dir.“ Er küsste Joanna flüchtig, als diese nickte und verschwand, und sah dann wieder Jim an. Erneut mit diesem Gesichtsausdruck, den Jim nur selten bei ihm sah.

„Warum, Bones? Wieso um alles in der Welt hast du mir das nie erzählt?“

Jim war gekränkt, und Leonard konnte es mehr als gut nachvollziehen.

„Anfangs wollte ich es nicht. Ich wollte an der Akademie ein neues Leben anfangen.“

„Ein Doppelleben?“

Leonard schüttelte leicht den Kopf. „Nein, Jim. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass … Du bist ein Partymensch. Immer mit Vollgas unterwegs. Ich hatte einfach nie das Gefühl, dass du viel von Familie hältst, und dementsprechend wollte dich nicht mit meiner … Belasten ist das falsche Wort. Aber ich dachte, ich …“

Jim fuhr sich fahrig durchs Haar. „Was, Bones? Dass du dein Kind vor mir verstecken musst?“

„So war das nicht, nein. Sie ist wie ein Schatz, den ich zu hüten versuche. Du hast immer abfällig von den Kindern deines Bruders gesprochen, und ich dachte eben, dass du Kinder nicht leiden kannst und …“

„Verdammt, Bones. Hast du gedacht, ich würde dich nicht als Freund wollen, wenn ich es wüsste? Glaubst du das?“ Die Kinder seines Bruders waren verzogene Rotznasen. Ja, verdammt, er mochte sie nicht besonders. Aber das hieß doch nicht, dass er Bones’ Tochter nicht akzeptieren konnte.

„Ich weiß es nicht, okay. Ich weiß nicht, warum ich es dir nicht sagen konnte. Und irgendwann war dieses Geheimnis normal für mich geworden, und ich fand nie den richtigen Moment es dir zu sagen.“

Jim seufzte, fuhr sich abermals durchs Haar und trat einen Schritt auf Bones zu. „Danke für die Einladung, aber ich kann nicht bleiben. Ich gehe wohl besser.“

„Wohin denn?“, fragte Leonard kopfschüttelnd und hielt Jim am Arm fest. „Und wo wir beim Thema Verschwiegenheit unter Freunden sind; ich weiß, dass du die letzten Jahre bei Gary warst, wann immer ich hierher kam. Warum hast du mir immer Lügengeschichten über die Zeit bei deiner Familie erzählt?“

Jim schluckte und atmete tief durch. „Weil ich mich geschämt habe, Bones, deshalb. Weil ich nirgendwo hingehen konnte. Weil ich nirgendwo hingehöre.“

Leonard presste die Lippen zusammen, schloss die Distanz zu Jim und nahm ihn in den Arm, so gut das mit nur einer freien Hand ging und unter Berücksichtigung des Tabletts, das er nach wie vor trug. „Du bist manchmal eine Plage, Jim Kirk, aber du gehörst definitiv zu mir. Du bist mein bester Freund. Und ich will, dass du dir das merkst. So lange ich atme, hast du jemanden, zu dem du kommen kannst. Egal wann, egal weshalb.“

Jim schloss die Augen und lehnte seinen Kopf an Bones’. „Du hättest mir von ihr erzählen sollen. Es muss hart gewesen sein, sie nie zu erwähnen“, sagte er sanft.

„Ja“, brummte Leonard und nickte schwach. „Das war es.“

„Keine Geheimnisse mehr, einverstanden?“ Jim löste sich von Bones, um ihm in die Augen sehen zu können.

„Einverstanden.“

„Daddy!“

Leonard verdrehte die Augen. „Sekunde, Jojo. Bin gleich da.“

„Sie ist genauso ungeduldig wie du“, witzelte Jim, nahm Tasse und Teller vom Tablett und marschierte an Bones vorbei in Richtung Küche. „Kommst du, Daddy?“

„Nenn mich gefälligst nicht so“, schimpfte Leonard und folgte Jim, der lachend die Küche betrat.

„Was möchtest du denn essen, Baby?“, fragte Leonard seine Tochter, während er ihren Kakao machte.

„Cornflakes“, erwiderte Joanna und beäugte Jim kritisch. „Dad hat oft von dir erzählt. Was hast du angestellt, dass du hier bist?“

Jim verschluckte sich an seinem Tee. „Toll, Bones. Du verbreitest Lügen über mich?“ Er sah von Joanna vorwurfsvoll zu ihm hinüber. „Ich hab gar nichts angestellt“, sagte er dann zu dem Mädchen.

Joanna hob eine Augenbraue und sah genau wie ihr Vater aus, wenn er Jim kein Wort glaubte. Ein Schauer lief Jims Wirbelsäule entlang. Die Ähnlichkeit war unglaublich.

„Jojo, wir haben doch gestern dieses Buch gelesen“, erinnerte Leonard sie und Joanna nickte, „und genau wie Nikolas hat auch Jim keine Familie, zu der er gehen könnte. Im Grunde hat mich das, was du gestern gesagt hast, auf die Idee gebracht, ihn einzuladen.“

„Du bleibst also über Weihnachten bei uns?“, fragte Joanna in deren Blick Mitgefühl aufleuchtete und trank einen Schluck ihres Kakaos, noch ehe Leonard die Tasse abstellen konnte.

„Sieht so aus, ja“, nickte Jim.

„Bist du ein Waise?“

Jim schüttelte den Kopf. „Nicht richtig, nein.“

Leonard konnte nicht verhindern, dass Joanna seinen besten Freund mit einer Reihe neugieriger und für Jim vermutlich mehr oder weniger schmerzvoller Fragen überhäufte, die dieser erstaunlich geduldig beantwortete.

***

Joanna hatte sich ins Badezimmer zurückgezogen, um sich die Zähne zu putzen. Das gab den beiden Männern ein paar Minuten unter sich. „Meine Eltern werden bald aufstehen.“

„Was willst du ihnen erzählen?“

Leonard räumte das Geschirr in die Spüle. „Dasselbe wie Joanna.“

„Wird das okay für sie sein?“

„Bestimmt“, nickte Leonard. „Aber ich warne dich vor, Jim. Meine Eltern sind ein wenig anders.“

„Anders als was? Meine Mutter und Frank? Na, das hoffe ich doch.“ Jim grinste ein wenig gezwungen.

Leonard seufzte. „Meine Mutter versucht derzeit eine Frau für mich zu finden.“

„Ob sie mir auch eine sucht?“, fragte Jim zum Spaß. Er bemerkte Bones’ ernstes Gesicht. „Okay, du findest die Idee blöd.“

„Und wie. Was soll ich mit noch so einer Frau? Ich hab schon alles, außer Joanna, an die erste verloren. Ich lasse mich nie wieder auf so etwas ein. Und wer weiß, was für psychische Schäden diese Frau hat, die meine Mutter diesmal für mich auserkoren hat.“

„Wieso?“, fragte Jim und versuchte, nicht allzu breit zu grinsen.

„Sie ist seit einer Weile geschieden und hat eine Tochter.“

Jim nickte nachdenklich. „Und das ist so schlecht, weil …?“

„Hast du vergessen, in welchem Zustand du mich kennen gelernt hast?“

„Das war die beste Anmache, die ich je bekommen hab“, grinste Jim nun breit, „wie könnte ich das je vergessen.“

„Anmache? In welchem Universum bitte ist das eine Anmache gewesen? Ich war vollkommen betrunken und ein psychisches Wrack.“

„Du warst entzückend direkt.“

Leonard verdrehte die Augen. „Mein Lieber, du hast wirklich nen Vogel.“

„Im Ernst, Bones. Du warst am Boden, ja. Aber nicht hoffnungslos, und du hattest dein Leben im Griff. Du hast dich bei der Sternenflotte eingeschrieben und neu angefangen. Manch anderer hätte sich vielleicht ganz und gar in Alkohol ertränkt.“

„Anfangs wollte ich das nur zu gern. Aber da war auch noch Joanna …“

Beide schwiegen einen Moment, dann beschloss Jim die Stimmung wieder etwas anzuheben. Immerhin war bald Weihnachten, da wollte er nicht die alten Narben wieder aufreißen. „Also, wenn du diese Frau nicht willst, versuche ich vielleicht mein Glück bei ihr.“

„Kommt nicht in Frage, Jim“, entgegnete Leonard und schüttelte den Kopf. „Was willst du mit jemandem, der eine Scheidung hinter sich und somit ein gebrochenes Herz und noch dazu ein Kind hat?“

Jim sah Leonard lange an. Er sah ihn sogar so lange schweigsam an, dass es Leonard mit jeder verstreichenden Sekunde unangenehmer wurde.

„Was?“, brach es dann aus Leonard heraus.

Jim bekam jedoch keine Gelegenheit ihm zu antworten, da hinter ihm jemand leise an den Türrahmen klopfte.

„Ma, guten Morgen“, grüßte Leonard, warf Jim einen Blick zu, den dieser als warnend empfand, und ging zu seiner Mutter hinüber, die im Zugang zur Küche stand.

Jim erhob sich sofort und setzte sein schönstes Lächeln auf, als er Bones folgte.

„Ma, ich möchte dir gerne meinen Freund James Kirk vorstellen. Jim, das ist meine Mutter.“

„Mrs. McCoy, es freut mich sehr Sie endlich kennen zu lernen. Bones hat schon so viel von Ihnen und Ihrem Mann erzählt.“

„James“, grüßte sie und reichte ihm die Hand.

„Jim. Ich bevorzuge Jim.“

Sie nickte. „Bones. Was für ein Name ist das?“, fragte sie dann.

„Der bescheuerte Spitzname, den ich Jim verdanke“, erklärte Leonard seiner Mutter. „Ist eine lange Geschichte.“

Jim machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber Leonard ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Ma, ich habe Jim eingeladen, über die Ferien hier zu bleiben. Seine Mutter ist auf einer Mission für die Sternenflotte unterwegs und kann deshalb dieses Jahr nicht auf der Erde sein.“ Dass sie seit Jahren nie da war, wenn Jim sie brauchte, erwähnte er lieber nicht.

Eleanora nickte, konnte sich jedoch einen besorgten Gesichtsausdruck nicht verkneifen. „Wir haben aus dem vierten Schlafzimmer allerdings einen kleinen Trainingsraum gemacht, Leonard.“

„Was? Wann? Und wieso weiß ich davon nichts?“

„Es schien nicht wichtig, da es weder für dich noch für Joanna von Relevanz war. Das vierte Zimmer stand ewig leer. Und wir fanden die Idee gut.“

„Sich fit zu halten ist auf jeden Fall eine gute Idee, nicht wahr, Bones? Als Arzt findest du das doch auch gut.“

„Ja, schon“, sagte Bones zerknirscht. „Aber …“ Er sah mit einem Hauch von Verzweiflung zu Jim.

„Ich kann Ihnen höchstens die Couch anbieten“, sagte Eleanora an Jim gewandt.

Jim lächelte. „Couch klingt super. Ich schlafe bei Bones auch dauernd auf der Couch.“

„Ich dachte, ihr wohnt zusammen.“ Eleanora sah ihren Sohn fragend an.

„Nein, Ma. Ich wohne im Mediziner Block. Jim ist bei den Drittsemestern untergebracht. Er verirrt sich nur gerne in mein Quartier, weil er dort besondere Pflege bekommt, die er manchmal braucht.“

„Äh, danke, Bones.“ Jim zog die Stirn kraus. WAS erzählte Bones seinen Eltern und Joanna eigentlich über ihn? „So oft ist das gar nicht“, verteidigte er sich.

„Ich nahm an, Sie wohnen mit Leonard zusammen“, erwiderte Eleanora und schmunzelte leicht.

„Also doch oft“, fügte Leonard hinzu und klopfte Jim freundschaftlich auf den Oberarm, woraufhin dieser schmollte und sich geschlagen gab.

„Sie sind jedenfalls herzlich willkommen zu bleiben“, sagte Bones’ Mutter dann zu Jim und schenkte ihm ein ehrliches Lächeln. „Leonard, dein Vater will in einer Stunde aufbrechen.“

„Kein Problem, Ma. Wir haben schon gefrühstückt. Ich geh dann eben duschen.“ Dann sah er Jim an, der etwas hilflos wirkend neben ihm stand. „Du kannst dich auch frisch machen, Jim.“

„Wo geht ihr nachher hin?“

Natürlich. Woher sollte Jim das auch wissen? „Einen Weihnachtsbaum kaufen. Das ist Tradition bei uns. Du kannst uns gern begleiten. Wir treffen uns dann später mit meiner Ma und Joanna auf dem Weihnachtsmarkt.“

„So was gibt es bei euch?“, fragte Jim etwas erstaunt.

„Selbstverständlich, Jim.“

„Leonard, du kannst ja unser Bad benutzen und Jim deins“, schlug Eleanora vor und goss sich Kaffee ein, ehe sie sich an den Tisch setzte.

„Gute Idee, Ma.“ Er legte Jim leicht die Hand auf den Rücken. „Dann komm, ich zeig dir, wo mein Schlafzimmer ist.“

Bones’ Hand berührte ihn nur ganz leicht, dennoch kribbelte es seltsam an Jims Rücken. Bones hatte ihn schon so oft angefasst – meist aus medizinischen Gründen, er war kein allzu großer Freund von Körperkontakt, wie Jim schon sehr früh hatte feststellen müssen – aber dieses Kribbeln hatte Jim nie zuvor verspürt, und es irritierte ihn für einen Moment. Dennoch folgte er Bones bereitwillig ins obere Stockwerk und starrte immer noch etwas durcheinander den Rücken seines Freundes an, als dieser voraus ging. Unabsichtlich rutschte Jims Blick etwas tiefer und er stolperte, als sein Blick auf Bones’ Hintern fiel.

„Was treibst du?“, fragte Leonard, als er das Poltern hörte, sich zu Jim herumdrehte und ihm, den Ellbogen greifend, wieder auf half.

Jim konnte nur den Kopf schütteln. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Bones warf ihm einen skeptischen Blick zu.

An der Wand, die Treppe entlang, hingen unzählige gerahmte Fotos. Und als Jim genauer hinsah – vor allem um Bones’ Blick auszuweichen – entdeckte er Kinder- und Jugendbilder von Bones, die sofort ein Lächeln auf sein Gesicht zauberten. „Du hattest langes Haar?“, fragte Jim amüsiert und hatte dabei ein ganz bestimmtes Bild im Auge.

„Erinnere mich nicht daran. Ich hab meine Mutter sicher schon hundertmal gebeten diese furchtbaren Bilder wegzuwerfen, aber sie weigert sich standhaft.“

„Kann ich verstehen“, sagte Jim, meinte damit allerdings die Entscheidung Eleanoras, nicht Bones’ Wunsch. „Wie alt warst du auf diesem hier?“ Er deutete auf ein Bild, auf dem Bones ein hellblaues Jeanshemd und einen Dreitagesbart trug, das halblange Haar reichte fast auf seine Schultern.

Bones’ zuckte die Achseln. „Anfang oder Mitte zwanzig, würde ich sagen. Weiß nicht mehr so genau. Wieso?“

Jim lächelte nur und schüttelte ganz leicht den Kopf. Bones sah umwerfend auf dem Foto aus und er wünschte sich ein bisschen, ihn schon damals gekannt zu haben. Als sein Blick weiter wanderte, entdeckte er ein Foto auf dem Bones ein Baby im Arm hielt. Zweifellos handelte es sich dabei um Joanna. Widerwillig machte Bones ihm Platz, so dass er die Fotos etwas genauer betrachten konnte. Bones lächelte das Baby in seinen Armen verträumt an. „So glücklich hab ich dich nie zuvor gesehen“, sagte Jim fast ein wenig ehrfürchtig und zeigte auf das Bild.

Leonard nickte leicht und verzog etwas den Mund. „Sie ist das Beste, was mir je im Leben passiert ist. Sie kam ganz ungeplant und hat mein Leben auf den Kopf gestellt.“ Erneut erinnerte er sich an den Tag, als er seine kleine Jojo das erste Mal gesehen und gehalten hatte. „Ich war mit meinem Studium noch nicht ganz fertig, sonst hätte ich sie wahrscheinlich selbst entbunden“, erklärte er Jim. „Aber ich war bei der Geburt dabei und muss gestehen, dass ich Jocelyn für die ersten Minuten vergessen hatte, als ich Joanna in den Armen hielt. Ich habe nie zuvor so viel für einen Menschen empfunden und ich glaube, dass Jocelyn das gemerkt hat. Nachdem Jojo auf der Welt war, war Jocelyn für mich zweitrangig.“

„Ungewöhnlich. Nach meiner Erfahrung sind es eher die Mütter, die eine so tiefe Beziehung zu ihren Kindern entwickeln. Immerhin tragen sie die Babys aus, stillen und versorgen sie.“

Der Hauch eines wehmütigen Lächelns huschte über Leonards Züge. „Jocelyn war keine typische Mutter. Sie wollte nie Kinder haben. Vermutlich klappte es deshalb mit dem Stillen nicht. Zudem war sie ständig eifersüchtig auf Joanna.“

„Auf ihre Tochter?“, kam es ungläubig von Jim.

„Das war zum Teil meine Schuld. Ich war wie verzaubert von Joanna.“ Leonard schwieg einen Moment und fügte dann sanft hinzu: „Ich bin es noch.“

Jim sah an Bones eine Seite, die ihm vollkommen neu war. Dieser chronisch schlecht gelaunte Mann hatte doch tatsächlich ein absolutes Herz aus Gold. Und Jim hatte so ein Gefühl, dass er in diesen Ferien noch sehr viel mehr über Bones lernen würde.
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