von Nerys
Eine verhüllte Gestalt huschte wie ein Schatten durch die nächtlichen Korridore des Habitatrings. Der Saum des langen dunklen Mantels wehte bei jedem Schritt um lederne Stiefel. Das Gesicht blieb unter der tief in die Stirn gezogenen Kapuze verborgen. Hier und da hielt die vermummte Person inne, um die Beschriftungen der verschiedenen Sektionen und die Raumnummern zu studieren. Sie schien genau zu wissen, wohin sie wollte, jedoch Mühe zu haben, ihr Ziel auch zu finden. Fast lautlos bewegten sich ihre Füße durch die Gänge, bis sie schließlich vor einer Tür stehen blieb. Sie hatte ihren Bestimmungsort gefunden, denn sie brachte ein in Stoff gewickeltes Bündel aus den Falten ihres Umhangs zutage und legte es behutsam auf die Schwelle. Mit einem aufmerksamen Blick zu beiden Seiten zog sie nun einen zylinderförmigen Gegenstand aus einer der Manteltaschen. Behandschuhte Finger huschten über die metallische Oberfläche, woraufhin der nächtliche Besucher mit dem weiten Mantel im Flimmern eines Transporterstrahls verschwand. Zurück blieb nur das Bündel an der Türschwelle.
Die Jahre beim Widerstand hatten Kira Nerys gelehrt, stets auf der Hut zu sein. Selbst aus einem tiefen Schlaf vermochte sie rasch mit scharfen Sinnen zu erwachen. Das Chronometer zeigte vier Uhr morgens. Es war das vertraute durchdringende Geräusch des Türmelders, das sie geweckt hatte. Unmutig über die nächtliche Störung zog sie sich etwas über und tappte auf bloßen Füßen in den Wohnraum.
„Herein“, sagte sie harsch in Richtung der Tür, die sich daraufhin zischend öffnete. Wer auch immer Einlass begehrte, sollte wissen, dass er nicht willkommen war. Auf der Schwelle stand einer von Odos Deputys in ockerfarbener Uniform. Der blonde Bajoraner gehörte wohl den Sicherheitsteams an, die in diesen unruhigen Zeiten nachts durch die Korridore patrouillierten. Er wirkte verlegen, doch bevor er den Mund zu öffnen vermochte, erklang etwas, das Kira innehalten ließ. Sie kannte dieses Geräusch und ihr Blick folgte dem des jungen Mannes hinab zur Türschwelle vor die Spitzen seiner Stiefel. Im Halbdunkel entdeckte sie ein zitterndes Bündel. Vollkommen verblüfft ließ sie sich in die Hocke sinken. Zwischen den Stoffen blickte das faltige Gesichtchen eines Säuglings hervor, der unglücklich wimmerte. Behutsam hob sie das kleine Wesen hoch. Sobald sie sich wieder zur vollen Größe aufgerichtet hatte, sah sie den Deputy fragend an.
Dieser schüttelte den Kopf. „Leider habe ich niemanden gesehen. Das Baby lag schon vor Ihrer Tür, als ich vorbei kam. Wahrscheinlich hätte ich es nicht einmal bemerkt, hätte es nicht geweint. Soll ich den Constable informieren?“
„Das erledige ich. Setzen Sie nur Ihre Runde fort und achten Sie darauf, ob Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt.“
„Aye“, antwortete der junge Mann, machte kehrt und verschwand bald um die Biegung des Korridors.
Mit dem Baby in den Armen kehrte Kira in ihr Quartier zurück. Das kleine Wesen wirkte so zerbrechlich. Wie Kirayoshi nach seiner Geburt. Es konnte nicht älter als ein paar Tage sein und war den feinen Falten an seinem winzigen Näschen nach bajoranisch. Aber woher kam es? Warum hatte man es ihr vor die Tür gelegt? Sie eilte ins Schlafzimmer, wo ihr Kommunikator auf dem Nachtkästchen lag, und tippte ihn an.
„Kira an Bashir und Odo. Treffen Sie mich auf der Krankenstation!“
Während die Stimme des Formwandlers neutral wie immer klang, reagierte der Arzt verschlafen und missmutig. Beide bestätigten die Anweisung und Kira schlüpfte rasch in ihre Uniform, ehe sie mit dem Findelkind ihr Quartier verließ.
Odo erwartete sie bereits, um sie mit einem verwunderten Blick zu empfangen. Momente später kam Bashir heran geeilt. Er war unfrisiert und hatte dunkle Ringe unter den Augen.
„Meine Güte, was ist denn so dringend?“ wollte er sogleich wissen. „Es ist mitten in der Nacht.“
„Es tut mir wirklich leid, Ihren Schönheitsschlaf zu unterbrechen, Julian, aber es gibt Arbeit für Sie“, antwortete Kira mit einer Portion Sarkasmus und hielt dem verdutzten Arzt das Baby entgegen. „Das Kleine wurde vor Kurzem vor meiner Tür zurückgelassen. Untersuchen Sie es, damit wir sicher sein können, dass es ihm gut geht. Vielleicht finden Sie auch Hinweise auf die Person, die es zurückließ.“ Sobald er den Säugling vorsichtig aus ihren Armen gehoben hatte, wandte sie sich an Odo. „Um diese Uhrzeit wird niemand die Station verlassen haben. Nimm dir die Sicherheitsprotokolle vor. Ich möchte denjenigen finden, zu dem dieses Baby gehört.“
Der Formwandler nickte. „Ich informiere meine Patrouillen, damit sie auf alles möglicherweise Verdächtige achten. Wenn du mich brauchst, bin ich in meinem Büro.“ Er bedachte sie mit einem liebevollen Blick, der ihr ein Lächeln ins Gesicht zauberte, ehe er sich auf dem Absatz umwandte und davon eilte.
„Colonel?“
Die Stimme des Doktors aus der Richtung der Diagnoseliege weiter hinten im Raum. Er hatte das Baby inzwischen aus dem weichen Stoff geholt und ließ den medizinischen Tricorder knapp über dem kleinen Körper auf und ab gleiten. Sie trat neben ihn, wobei sie den auf der Liege zappelnden Säugling fixierte. Seine Lippen machten saugende Bewegungen, während die winzigen Finger suchend in der Luft umher tasteten. Er war hungrig.
„Das Baby ist männlich, bajoranisch und etwa fünfzig Stunden alt“, erklärte ihr der Arzt mit Blicken auf die Anzeigen seines Tricorders. „Unser kleiner Gast braucht Nahrung, ist ansonsten aber kerngesund. Ich werde eine entsprechende Säuglingsmilch replizieren und dann eine genetische Probe entnehmen. Inzwischen können Sie vielleicht damit etwas anfangen? Das war bei seinen Füßen mit in die Decke gewickelt.“ Er reichte Kira ein Datenpadd.
Neugierig beäugte sie das Gerät, bei dem es sich optisch um Ferengi-Technologie handelte. Ob Quark wie so oft seine dreckigen Finger im Spiel hatte? Wenn ja, würde Odo das sehr schnell herausfinden. Sie suchte an der Seite die Taste zum Aktivieren, woraufhin auf dem Display Text erschienen. Es handelte sich jedoch nicht um die kantigen Ferengi-Zeichen, sondern um bajoranische Schrift. Diese Aufzeichnung ist geschützt. Identifizieren Sie sich, las sie. Ihre Braue wanderte in die Höhe. Welchen Sinn hatte es, dem Findling das Padd mitzugeben, wenn den Inhalt niemand außer dessen Ersteller zu lesen vermochte.
Bashir kehrte mit einer Babyflasche zurück, die mit weißer Flüssigkeit gefüllt war. „Möchten Sie ihn füttern? Sie haben damit ja Erfahrung.“ Er grinste leicht.
Mit einem Nicken nahm sie den kleinen Buben auf die Arme und ließ sich das Fläschchen in die freie Hand geben. Sobald der Sauger seinen Mund berührte, schlossen sich die kleinen Lippen darum. Gierig begann er zu trinken. Sie bedachte Bashir ihrerseits mit einem Lächeln. Anscheinend kannte der Säugling bereits Nahrung aus Flaschen. Während er seinen Hunger stillte, bemerkte er das Hypospray mit der kleinen Glasphiole nicht, das der Arzt benutzte, um eine Blutprobe zu nehmen. Kira setzte sich vorsichtig, um ihn beim Trinken nicht zu stören, auf die Liege. Ihre Gedanken glitten zu ihrem Patensohn Kirayoshi, den sie vor eineinhalb Jahren ebenso in den Armen gehalten hatte. Durch diese Schwangerschaft mit ihren Höhen und Tiefen war ihr bewusst geworden, wie gerne sie eines Tages selbst Mutter sein mochte. Doch anscheinend sollte es nicht sein, denn sie verschenkte ihr Herz immer wieder an die falschen Männer dafür. Shakaar hatte ihr damals klar gemacht, dass er keine Kinder wollte, und Odo, den sie über alles liebte, konnte es aufgrund seiner so andersartigen Physiologie nicht. Der Bub hatte sich nun satt getrunken, sodass sie ihn vorsichtig gegen ihre Schulter lehnte, damit er ein Bäuerchen machte. Er gähnte und die schmalen Augen fielen ihm vollends zu, während sie leise ein bajoranisches Schlaflied summte.
„Er scheint sich bei Ihnen wohl zu fühlen“, kommentierte Bashir, der unbemerkt neben der Liege aufgetaucht war.
Kiras verträumtes Lächeln wuchs in die Breite. „Ja, offenbar. Aber wir müssen seine Familie finden, oder denjenigen, der ihn vor meiner Tür ausgesetzt hat. Wann werden Sie das Ergebnis der genetischen Untersuchung haben?“
„In ein paar Stunden. Ich lasse es Sie umgehend wissen. Inzwischen bleibt er am besten hier.“
Er winkte der Nachtschwester, einer noch sehr jungen dunkelhaarigen Bajoranerin, welche bisher damit beschäftigt gewesen war, im Arztbüro vor dem Computer Routinerarbeiten zu erledigen. Natürlich hatte sie die Vorgänge auf der Krankenstation immer wieder interessiert verfolgt, weswegen er ihr nur wenige Anweisungen geben musste. Nachdem ein Babybettchen bereit gemacht worden war, legte Kira den kleinen Buben behutsam hinein. Bis zum Dienstbeginn zog es auch sie wieder in ihr warmes Bett. Bashirs Gähnen sagte ihr, dass es ihm ähnlich ging. Nachdem sie dem schlafenden Säugling ein letztes Mal zärtlich über die Wange gestreichelt hatte, machte sie sich auf den Rückweg in ihr Quartier.
Die wenige verbliebene Zeit der Nacht fand Kira kaum Ruhe. Ihre Gedanken glitten immer wieder zu dem Findelkind auf der Krankenstation. Sie fragte sich, ob es nur Zufall war, dass man ihr den Kleinen vor die Tür gelegt hatte, oder sie mit Absicht gewählt worden war. Das Padd, das noch in Bashirs Reich lag, konnte vielleicht Aufschluss geben, wenn es gelang, den Sicherheitsmechanismus zu umgehen.
Zu Dienstbeginn erschien sie gerädert auf der Ops. Es fühlte sich jeden Morgen aufs Neue furchtbar ungewohnt an, das Büro des Kommandanten zu betreten und sich an den Schreibtisch zu setzen. Doch bis Captain Sisko von der Erde zurückkehrte, war es ihr Büro. Wenn er zurückkehrte. Sie hoffte so, dass er es tat, denn sie wusste nicht, wie sie in diesen Kriegszeiten der Verantwortung gerecht werden sollte, die er auf ihren Schultern gelassen hatte. Sie konnte als Soldatin auf dem Schlachtfeld kämpfen, aber sie war keine brillante Strategin. Der Entscheidungsschlag in diesem Krieg rückte näher. Jeder spürte das. Es war wie ein Vulkan, dessen Feuer im Inneren schwelte, bis es sich eines Tages mit überwältigender Kraft weit hinauf in den Himmel entladen würde. Die Furcht vor diesem Moment umklammerte ihr Herz wie eine eiskalte Hand.
Auf die Berichte, die vor ihr am Tisch lagen, vermochte sie sich im Moment nicht ausreichend genug zu konzentrieren. Woher der kleine Gast auf der Krankenstation wohl stammte? Sobald Bashir die genetische Analyse abschloss, würde es endlich ein paar Antworten geben. Sie hoffte, dass sich die Familie des Kleinen rasch aufspüren ließ. Bestimmt vermissten seine Eltern ihn sehr. Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie weh es tat, das Baby aufgeben zu müssen, das man zuvor in sich gespürt hatte. Keine Mutter vermochte diesen Schritt freiwillig zu setzen. Oder doch?
Ein hoher Pfeifton des Computers verkündete den Abschluss eines der laufenden Prozesse. Bashir wandte sich von dem schlummernden Säugling ab, um wieder in sein Büro zurückzukehren. Auf Tastendruck erschien eine Reihe von Daten auf dem Bildschirm. Was er da las, ließ ihn sich gespannt auf seinem Stuhl aufrichten. Die äußere Analyse sowohl des Jungen als auch seiner Kleidung und der Decke, in die er gewickelt worden war, zeigte eine messbare Tachyonrestsignatur auf. Hastig betätigte er einige Tasten, woraufhin weitere Informationen eingeblendet wurden. Die Werte ließen nur einen Schluss zu, doch freilich war ihm bekannt, dass unautorisierte Transportvorgänge Sicherheitsalarm auslösten. Er tippte vom Ermittlerdrang beseelt auf seinen Kommunikator.
„Bashir an Odo. Ich habe etwas, das Sie interessieren dürfte.“
„Ich bin ganz Ohr“, antwortete die Stimme des Sicherheitschefs sogleich.
Bashir wartete einen Moment, um die Spannung zu schüren, ehe er zu einer Erklärung ansetzte. „Unser Findling wurde vermutlich auf die Station gebeamt.“
„Doktor, es wäre stiller Alarm ausgelöst worden, hätte das jemand ohne Genehmigung versucht. Ich werde dennoch die Protokolldaten der vergangenen Nacht sichten. Der Ursprung eines Ort-zu-Ort-Transports könnte uns weiterhelfen, falls tatsächlich ein solcher durchgeführt wurde.“
„Danke, Constable. Benachrichtigen Sie mich bitte umgehend, sollten Sie auf etwas stoßen.“
Ein Zirpen, das auf die knappe Bestätigung des Formwandlers folgte, verriet, dass der Komkanal geschlossen worden war. Bashir widmete sich wieder seinem Computer. Er wollte Colonel Kira einige Antworten mehr präsentieren können, wenn sie kam, um nach dem Findelkind zu sehen. Auch ihn interessierte das Ergebnis der genetischen Analyse brennend. Die übrige Zeit, bis diese endlich abgeschlossen war, beschäftigte er sich damit, die Aufzeichnungen über die am Vortag angekommenen Raumschiffe, vor allem der Personentransporter von Bajor durchzusehen. Doch es war keine Familie oder einzelner Erwachsener mit einem so kleinen Kind dabei. Das Jüngste unter ihnen war ein vierjähriges Mädchen, dessen Vater beim bajoranischen Militär arbeitete, und den er flüchtig kannte. Dann endlich ertönte das Pfeifen, auf das er gewartet hatte. Aufgeregt rief er die Ergebnisse des genetischen Tests ab. Er hatte den Computer die DNA-Muster auch gleich mit sämtlichen verfügbaren Daten vergleichen lassen. Vor Verblüffung blieb ihm der Mund offen stehen, als er die Angaben auf dem Bildschirm las. Das konnte unmöglich richtig sein! Er startete eine Systemdiagnose, um das Ergebnis danach noch einmal zu überprüfen.
Gegen Mittag betrat Colonel Kira die Krankenstation. Sie wurde sogleich vom leisen Plärren des Säuglings empfangen, den die diensthabende Schwester mit hilflosem Gesichtsausdruck aus dem Strampelanzug zu befreien versuchte, um ihn zu wickeln. Dankbar wich sie zur Seite, als die ältere Bajoranerin ihr bedeutete, sie ablösen zu wollen. Während sie dem Buben, der weiterhin unglücklich jammerte, die frische Windel anlegte und ihn danach wieder anzog, bereitete die Schwester eine Flasche mit Säuglingsnahrung zu. Kira nahm ihn vorsichtig hoch und lehnte ihn an ihre Brust, sodass er ihren Herzschlag spüren konnte. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, gab sie ihm die Flasche.
„Er scheint Sie zu mögen“, stellte die Schwester lächelnd fest. „Bei mir war er die ganze Zeit sehr unruhig und am Vormittag wollte er nicht viel trinken.“
Kira erwiderte das Lächeln. „Ich habe auch den Eindruck.“ Sie genoss das warme Gefühl, das der kleine Bursche in ihr verursachte. Mit ihm in den Armen begab sie sich zu Doktor Bashir, der ihre Ankunft jetzt erst bemerkt zu haben schien und sie zu sich winkte.
„Wissen Sie, dass Ihnen das vorzüglich steht?“ Er wies mit einem Grinsen auf den Buben, der immer noch sichtlich zufrieden aus der Flasche trank.
„Danke... denke ich. Trotzdem hoffe ich, gleich von Ihnen zu hören, dass Sie wissen, wohin er gehört. Er sollte bei seiner Familie sein und nicht hier.“
Bashir berichtete ihr zunächst von den Hinweisen auf einen Transportvorgang, welche er gefunden hatte. Noch hatte sich Odo nicht gemeldet, aber pflichtbewusst, wie der Formwandler war, würde er das gewiss tun, sobald er Neuigkeiten hatte. Gespannt hörte Kira zu. Am Gesichtsausdruck des Arztes erkannte sie, dass es noch viel mehr gab, was er zu sagen hatte, und dass es ihm schwer fiel, nicht sofort mit seinen Erkenntnissen heraus zu platzen.
„Die genetische Analyse ist mittlerweile ebenfalls beendet und ich habe sehr interessante Ergebnisse.“ Er deutete auf den freien Sessel vor dem Schreibtisch. „Sie setzen sich wohl besser, Colonel.“
Irritiert kam sie der Aufforderung nach und blickte zu ihm auf, während er am Computer Eingaben tätigte. Die Daten und Grafiken, die nun auf dem Bildschirm erschienen, ergaben natürlich wenig Sinn für sie. Der Kleine schien endlich satt zu sein, weshalb sie das Fläschchen vor sich auf dem Tisch abstellte. Mit einem Räuspern wies der Arzt auf die Abbildung.
„Das hier ist das DNA-Muster unseres kleinen Gastes. Wie Sie sehen können, sind die Gene aufgeschlüsselt. Hier haben wir einerseits die, die von der Mutter vererbt wurden und andererseits hier die des Vaters.“ Während er sprach, deutete er auf die entsprechenden Bereiche der Grafik. „Ich habe diese Muster mit den Aufzeichnungen im Computer verglichen und tatsächlich Übereinstimmungen gefunden. Es gibt keinen Zweifel an den Ergebnissen, da ich den Vergleich wiederholte und obendrein eine Systemdiagnose durchführte.“
Kira hob verwundert die Augenbraue. „Raus damit, Julian! Auf der Ops wartet noch jede Menge Arbeit auf mich.“
Bashir gab einige Daten ein, woraufhin weitere Muster eingeblendet wurden, die sich mit der Anzeige überlagerten und die, wie sogar Kira als Laie erkannte, ziemlich genau passten. „Sie können selbst sehen, dass eine über neunzigprozentige Übereinstimmung vorliegt. Die biologische Mutter dieses Kindes sind Sie.“
„Was??“ stieß sie ungläubig hervor. „Julian, das ist lächerlich! Ich würde es wohl wissen, wäre ich schwanger gewesen und hätte vor ein paar Tagen ein Kind zur Welt gebracht. Ich schlage vor, Sie lassen Ihren Computer gründlich vom Chief überprüfen.“
Der Arzt winkte ab. „Mit dem ist alles in Ordnung, glauben Sie mir. Die Gene lügen nicht. Die zweite Spur, die Sie hier sehen, stammt vom Vater des Jungen. Auch in diesem Fall konnte ich eine Übereinstimmung finden. Und zwar mit Bareil Antos.“
Kira lachte auf und schüttelte ungläubig den Kopf. „Vedek Bareil ist vor ein paar Jahren in dieser Krankenstation gestorben. Es ist kaum möglich, dass ein Toter ein Kind zeugt, nicht wahr?“
„Ich habe nicht von Vedek Bareil gesprochen. Es besteht kein Zweifel daran, dass er nicht in Frage kommt. Sein Pendant aus dem Spiegeluniversum ist jedoch genetisch völlig ident mit ihm, und soweit ich mich erinnere, waren Sie bei seinem Besuch auf unserer Seite recht nun ja... vertraut mit ihm.“
Für einen Moment glitten Kiras Gedanken zu dem anderen Bareil zurück. Ja, sie war tatsächlich im Begriff gewesen, tiefere Gefühle für ihn zu entwickeln. Doch dann war ihr eigenes verhasstes Gegenstück aufgetaucht. Sie verscheuchte die Überlegungen. „Seine Anwesenheit hier liegt weit mehr als ein halbes Jahr zurück, wie Sie wissen. Selbst wenn ich wirklich von ihm schwanger gewesen wäre und heimlich ein Kind zur Welt gebracht hätte, wäre es inzwischen älter.“ Sie blickte auf den Säugling in ihren Armen hinab. Der Bub schlief schon fast, schien jedoch ihre momentane Aufregung zu spüren. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine zu schmalen müden Schlitzen verengten Augen nachtdunkel waren. So wie ihre und auch wie die von Antos gewesen waren. Gab es einen tieferen Grund, weshalb er sich bei ihr so offensichtlich wohl fühlte? Erkannte er ihre Stimme und den Rhythmus ihres Herzens wieder?
„Ich nehme an, Ihre Gedanken wandern gerade in dieselbe Richtung wie meine zuvor. Selbst wenn ich Grund hätte, Ihre Worte zu bezweifeln, könnte ein medizinischer Scan eindeutig feststellen, dass Sie nicht entbunden haben. Und doch ist der kleine Bursche in Ihren Armen unwiderlegbar der biologische Abkömmling von Kira Nerys. Ich gehe jede Wette ein, dass Odo den Ursprung des Transporterstrahls nicht findet, und zwar, weil er nicht in unserem Universum liegt.“
„Die Intendantin“, murmelte Kira tonlos. „Sie meinen also, dass mein Pendant von der anderen Seite die Mutter dieses Kindes ist?“
Bashir nickte bestätigend. „Entweder das, oder Sie haben geflunkert.“
Sie wusste, dass er mit diesem Satz nur die Stimmung lockern wollte, doch das gelang nicht. Ihr wurde speiübel bei der Vorstellung, dass die Intendantin aus dem Spiegeluniversum, die zwar genetisch ident mit ihr war, aber dennoch grundverschieden, die Mutter des kleinen Buben sein sollte. Diese vergnügungssüchtige gewissenlose Person.
„Ich glaube, dass Sie hier einige Antworten finden werden.“ Er reichte ihr den Ferengi-Datenblock, der dem Baby mitgegeben worden war.
„Der Inhalt ist verschlüsselt, Julian. Nur derjenige, der ihn erstellt hat, kann...“ Kira unterbrach sich. Wenn die Intendantin diese Botschaft zurückgelassen hatte, dann mit Sicherheit, damit sie diese lesen konnte. Und nur sie.
„Indessen spricht nichts dagegen, dass Ihr Sohn die Krankenstation verlässt. Er ist völlig gesund. In Ihrer Nähe wird er sich viel wohler fühlen als hier. Das heißt natürlich, wenn Sie bereit dazu sind, sich seiner anzunehmen. Ansonsten muss er hier bleiben, bis jemand von der bajoranischen Jugendfürsorge eintrifft, welche bereits von mir in Kenntnis gesetzt wurde.“ Julian streichelte dem Säugling behutsam über die Wange. „Auf jeden Fall braucht unser kleiner Freund einen Namen.“
„Dalan“, sagte sie nur leise.
Ein Grinsen erschien auf Bashirs Lippen. „Ein schöner Name. Ich trage ihn in seine medizinische Datei ein. Verraten Sie mir, was er bedeutet?“
„Wanderer. Jor Dalan ist jemand, der wandert, weil er auf der Suche nach sich selbst ist. Eine alte Erzählung.“ Kira betrachtete den kleinen Jungen liebevoll. Bashir hatte von ihrem Sohn gesprochen. Aber war er das wirklich? Sie hatte ihn nicht geboren und doch war er genauso von ihrem Blut, wie von dem der Intendantin. „Ich nehme ihn einstweilen mit zu mir, bis über seinen weiteren Verbleib entschieden ist. Die wenigen Tage seines bisherigen Lebens müssen ein ungeheurer Stress für ihn gewesen sein, jetzt soll er ein wenig zur Ruhe kommen. Ich hole ihn heute Abend, sobald ich mein Quartier entsprechend vorbereitet habe. Miles und Keiko leihen mir bestimmt Kirayoshis alte Wiege.“
Julian nickte verständnisvoll, als sie an ihm vorbei marschierte, um wieder in den Hauptbereich der Krankenstation zu gelangen. Er beobachtete sie verstohlen dabei, wie sie mit Dalan im Arm auf und ab ging, bis er schließlich schlief, sodass sie ihn in sein Bettchen legen konnte. Was sie soeben erfahren hatte, war gewiss nicht leicht zu verdauen und er verstand, dass sie Zeit brauchte.
Ruhelos wanderte Kira im Büro des Stationskommandanten umher. Die Padds mit den Berichten auf dem Schreibtisch waren nebensächlich. In der Hand hielt sie den Ferengi-Datenblock, doch bisher hatte sie sich noch nicht dazu durchringen können, die Verschlüsselung zu überwinden. Sie sah dem Inhalt mit gemischten Gefühlen entgegen. Natürlich war sie neugierig, aber sie wollte mit der Intendantin nichts zu tun haben. Sie seufzte. Es ging hier nicht um sie oder ihr Gegenstück, sondern einzig um Dalan. Um seinetwillen war es wichtig, zu erfahren, was immer dieses Padd beinhaltete. Sie ließ sich auf den Sessel hinter dem Schreibtisch fallen, nahm einen Schluck von dem längst kalt gewordenen Raktajino und betätigte die seitliche Taste, die den Datenblock aktivierte. Wieder erschien der Hinweis darauf, dass der Inhalt geschützt war. Welchen Verschlüsselungsmechanismus vermochte sich die Intendantin auszudenken, von dem sie sicher sein konnte, dass ausschließlich ihr Pendant in der Lage war, ihn zu lösen? Einen Code zu umgehen, war mit den entsprechenden Hilfsmitteln nicht schwer. Jemand wie Quark schaffte das mit Leichtigkeit. Ob sie ihn um Hilfe bitten sollte? Aber vielleicht zerstörte sich der Datenspeicher bei einem gewaltsamen Zugriff selbst, der Intendantin war eine solche Maßnahme zuzutrauen. Nein, es musste eine andere Möglichkeit geben, eine ganz simple. Versuchsweise legte sie den rechten Daumen auf das Display unterhalb des noch immer eingeblendeten Hinweises. Tatsächlich blinkte ein Kontrolllämpchen an der Oberseite grün auf und die Anzeige wechselte. Das Abbild ihres eigenen Gesichts erschien. Nur das Diadem im Haar verriet, wen sie wirklich vor sich hatte.
„Ah Nerys, du hast meine Nachricht gefunden“, begann die Intendantin mit dem für sie so bezeichnenden süffisanten Lächeln. „Du fragst dich bestimmt, wie du zu der Ehre kommst. Nun, du kennst meine Seite und es hat sich nicht gerade zum Besseren verändert, seit unserer letzten Begegnung. Antos ist tot, aber sein Sohn lebt und eines Tages wird er das fortsetzen, was ich beginne. Er wird Bajor zu einer Macht führen, die die Allianz erzittern lässt. Bei dir ist er sicher bis dahin. Beschütze ihn, Nerys. Ich weiß, du würdest mir nie freiwillig einen Gefallen tun, aber sieh ihn dir genau an. Er ist von deinem Blut, ein Teil von dir und du weißt es. Du wirst gut zu ihm sein, weil du immer gut bist.“
Das Bild wurde wieder dunkel, doch Kira starrte weiterhin verdattert auf die Anzeige. Sie konnte nicht so recht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Die Intendantin wollte, dass sie ihren kleinen Sohn groß zog, damit er irgendwann dieses andere Bajor regieren konnte. Ihre Herrschsucht war nicht neu und freilich war sie skrupellos genug, um ihr eigenes Kind in ihre Machenschaften einzubeziehen. Sie dachte an Dalan, der glücklicherweise noch viel zu klein war, um etwas von alldem zu ahnen. Ein hilfloses unschuldiges Baby, nichts mehr als das. Ein Baby, das es verdient hatte, in einer geborgenen Umgebung zu leben.
Das Zirpen des Türmelders ließ Kira aufsehen. Sie war früh in ihr Quartier zurückgekehrt, um zu meditieren. Das half ihr meistens, ihren Geist zu sortieren, wenn es ihr schwer fiel klare Gedanken zu fassen. Eine kleine Rauchwolke stieg auf, als sie die Kerze ausblies, die sie für die Meditation verwendete. Sie fühlte sich jetzt ein wenig besser. Mehr denn je sehnte sie sich nach den Personen, die über die vergangenen Jahre zu ihren engsten Freunden geworden waren. Jadzia, die in ihrer lockeren Art immer ein aufmunterndes Wort parat hatte und in deren Augen die Weisheit mehrerer Leben lag. Ihr Tod war noch so nahe, dass Kira oft, wenn sie morgens aus dem Turbolift auf die Ops trat, erwartete ihre gute Freundin zu erblicken - mit einem Grinsen auf den Lippen und einem Becher Raktajino in der Hand. Und Benjamin Sisko, der Abgesandte, dessen Rat nach all den anfänglichen Meinungsverschiedenheiten für sie unschätzbar geworden war. Noch hatte sie die Hoffnung auf seine Rückkehr nicht aufgegeben. Seine Rolle in diesem Krieg und für Bajor war nicht zu Ende. Sie hätte vieles dafür gegeben, jetzt mit einem der beiden die Gedanken austauschen zu können.
„Herein“, sagte sie mit bemüht fester Stimme.
Es war Miles O’Brien, der sie über die große silbergraue Box in seinen Armen mit seinem üblichen leicht verschmitzten Grinsen bedachte. „Hallo Nerys. Hier ist die Wiege, wie gewünscht. Wenn du möchtest, helfe ich dir rasch beim Aufbauen.“
Sie trat beiseite, damit er hereinkommen konnte und nahm sein Angebot nur allzu gerne an. Kurz darauf hockten beide umgeben von den Einzelteilen auf dem Boden des Wohnraumes.
„Hast du dir das eigentlich gut überlegt?“ fragte er, ohne sich in der Konzentration für seine Arbeit stören zu lassen. Den Korb hatten seine geschickten Finger bereits fachkundig zusammengesteckt.
„Es ist ja nur vorübergehend.“ Kira reichte ihm ein weiteres Bauteil. „Die Krankenstation ist kein Ort für ein Baby und morgen schon soll jemand von der Jugendfürsorge eintreffen, dann sehen wir weiter. Aber bis dahin kann er sich hier von dem Stress der letzten Tage erholen. Neue Orte, neue Gesichter, das war bestimmt alles ein bisschen viel für ihn.“
„Das verstehe ich. Es macht mir nur Kopfzerbrechen, wessen Kind das ist. Julian hat mir ausgiebig von der anderen Seite berichtet, ich denke nicht, dass er ein Detail ausgelassen hat.“
Sie schmunzelte. Ja, das glaubte sie ihm aufs Wort, so wie sie Bashir kannte. „Miles, er kann nichts dafür, wer seine Mutter ist. Genau wie keines der halbcardassianischen Kinder, die während der Besatzung geboren wurden, etwas für die Umstände seiner Zeugung konnte. Es ist falsch, ein unschuldiges Baby dafür verantwortlich zu machen, wem es sein Leben verdankt.“
Das sah er ein und er äußerte keine Bedenken mehr, während sie gemeinsam die Wiege fertig aufstellten. Schließlich stand die Schlafstatt neben ihrem eigenen Bett. Sie bestand aus hellem Nadra-Holz, das auf Bajor sehr beliebt für Möbel war. Dazu replizierte Kira orangefarbene Wäsche und ein Stofftierchen, die sich über der Wiege anbringen ließ. Es war ein weißer Vogel, dessen Unterseite der Schwingen und des Schwanzes tiefblau waren. Ein Hori, der hoch auf den Bergen lebte, wo fast immer Schnee lag, und der betörend sang. An seinem Bauch hing eine Schnur mit einem kleinen Griff, der dazu diente. Wenn man daran zog, erklang die Melodie eines bajoranischen Schlafliedes. Sie musterte ihr Werk zufrieden. Der Kleine sollte sich hier wohl fühlen, solange er blieb. Miles grinste leicht. Das Leuchten in seinen sanften Augen verriet, dass er sich gerade der Babyzeit seiner eigenen Kinder entsann. Kirayoshi war mit seinen anderthalb Jahren gerade dabei dieser zu entwachsen. Als er ging, begleitete die Bajoranerin ihn zu seinem Quartier, wo er ihr noch das Tragekörbchen aushändigte, das ebenfalls seinem Sohn gehört hatte. Mit diesem begab sie sich zur Krankenstation, um Dalan zu holen. Der Bub schlief, doch kaum dass sie an sein Bettchen heran trat, erwachte er, als spürte er ihre Anwesenheit.
Odos lippenloser Mund formte ein Lächeln, während er Kira beobachtete. Sie saßen zusammen auf dem Sofa im Quartier der Bajoranerin, ihr Kopf ruhte auf seinem Schoß und seine linke Hand hatte sich in eine Decke verwandelt, die er über ihren im Schlaf entspannten Körper gebreitet hielt. Mit der anderen strich er zärtlich durch ihr dunkles Haar. Ehe ihr vor über einer Stunde die Augen zugefallen waren, hatte sie ihm von ihrem Tag berichtet, an dem es ihr gelungen war, ihre Pflichten auf der Ops und Dalans Bedürfnisse einigermaßen zu vereinbaren. Obwohl er von Kindern keine Ahnung hatte, mangelte es ihm nicht an Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie anstrengend es sein musste, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ein so kleines hilfloses Wesen zu sorgen. Seine Gedanken wanderten zu dem Formwandlerbaby, dessen er sich vor einiger Zeit angenommen hatte. Freilich ließ es sich nicht mit einem humanoiden Kind zu vergleichen, aber auf seine Weise war es ebenso schutzbedürftig. Er hatte viel von ihm gelernt und mochte diese Erfahrung auf keinen Fall missen.
Aus dem kleinen Gerät auf dem Beistelltisch erklang das Jammern eines Säuglings. Odo ergriff es, um mit einem Fingerdruck den eingebauten Sichtschirm zu aktivieren. Darauf konnte er sehen, dass das Baby in seiner Wiege aufgewacht war. Er machte Anstalten, Kira vorsichtig zu wecken, doch das erwies sich nicht mehr als nötig. Sie richtete sich bereits verschlafen auf. Augenblicke später war sie auf den Beinen und im Schlafzimmer verschwunden. Mit Dalan kehrte sie zurück. Odo beobachtete sie, um mehr über das humanoide Familiengefüge zu lernen. Das war ein Thema, über das er bisher nur wenig wusste. Sein Blick blieb Kira nicht verborgen, sie lächelte in sich hinein. Behutsam legte sie ihm den Kleinen in die Arme, seinen verdutzten Gesichtsausdruck nicht beachtend.
„Warte Nerys“, begann er, „ich habe keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht!“
„Du musst nichts tun, als ihn zu halten“, antwortete sie grinsend, während sie vor den Replikator trat und die Spezifikationen für die Säuglingsmilch eingab, die sie von Bashir erhalten hatte. Nachdem sie die Milchflasche aus dem Ausgabefach entnommen hatte, kehrte sie zu Odo zurück, der reichlich hilflos wirkte. Sie ließ sich neben ihn auf das Sofa sinken, doch anstatt ihm Dalan abzunehmen, zeigte sie ihm, wie man ihn nur mit einer Hand hielt. In die freie drückte sie ihm das Fläschchen. Sobald der Sauger in seiner Reichweite war, schlossen sich die Lippen des kleinen Buben darum und er begann gierig zu trinken.
Odo blickte sie fragend an. „Mache ich es so richtig?“
„Halte die Flasche nicht ganz so hoch, sonst ist es einwandfrei.“ Sie grinste breit über die kindliche Begeisterung, die jetzt deutlich seinem Gesicht geschrieben stand. „Du siehst süß aus. Ich bin sicher, du wärst ein guter Vater.“
„So, meinst du das?“ Seine starre Neutralität kehrte zurück. „Aber wir werden nie zusammen Kinder haben können.“
„Wir haben ihn.“ Sie wies auf Dalan. „Du kannst dir meine Verblüffung vorstellen, als Julian mir mitteilte, dass ich die Mutter des Kleinen bin. Ich dachte, er hätte endgültig den Verstand verloren. Aber er hat recht, ich bin seine Mutter. Er kennt meine Stimme, den Rhythmus meines Herzens. Spielt es da wirklich eine Rolle, dass nicht ich ihn geboren habe, sondern sie? In unseren Adern fließt das gleiche Blut. Es hat sich nur alles anders entwickelt. Vielleicht... vielleicht wäre ich wie sie, hätte ich ihr Leben gelebt.“ Dieser bittere Gedanke erschreckte sie zutiefst, doch sie konnte ihn nicht von sich weisen.
Der Formwandler schüttelte den Kopf und nahm ihre Hände in seine. „Selbst dann könntest du niemals wie sie sein. Als wir uns zum ersten Mal begegneten, kanntest du kaum etwas anderes als Gewalt, aber du hast nie zugelassen, dass sie dich kontrolliert.“
„Dalan darf niemals wie sie werden! Wenn wir ihn als unseren Sohn annehmen, können wir ihm beibringen, was Liebe ist und Gerechtigkeit.“
Überrascht legte Odo den Kopf schief. „Ich weiß nicht, ob ich ein so guter Vater wäre, wie du es dir offenbar denkst. Schließlich habe ich überhaupt keine Ahnung davon, was das bedeutet. Wenn es dein Wunsch ist, wäre ich bereit es zu lernen. Ich bin aber sicher, dass du eine wunderbare Mutter wärst und er in deiner Obhut zu einem guten Mann heranwüchse. Dennoch solltest du dir das gut überlegen. Du hast mir die Nachricht gezeigt. Dieser Bub ist kein gewöhnliches elternloses Kind. Eines Tages wird sie ihn zurück fordern, was dann?“
„Ich überlasse ihr Dalan nicht!“ entgegnete Kira heftig. „Er ist mein Sohn durch das Blut, das in seinen und meinen Adern fließt. Wenn wir ihn adoptieren, wird er auch durch das Gesetz unser Sohn sein.“
Odo schnaubte verächtlich. „Ich kenne die Berichte über das Spiegeluniversum. Scheint nicht so, als würde sich irgendjemand dort um so etwas wie Gesetze scheren. Am allerwenigsten die Intendantin.“
„Und wenn schon. Mit etwas Glück bekommt die Allianz sie in die Finger, dann sehen wir sie nie wieder. Dalan hat es verdient in Frieden und Sicherheit aufzuwachsen.“
„Ja, das hat er.“ Der Formwandler betrachtete das zarte Geschöpf in seinen Armen, das völlig ahnungslos und unschuldig war. „Vielleicht wäre es besser für ihn, weit weg von allem zu sein, was noch an seine Herkunft erinnert.“
„Damit meinst du auch mich, nicht wahr?“ Kira schlug die Augen nieder. „Ich fühle mich verantwortlich für ihn. Es ist, als hätte ich eine zweite Chance erhalten, nachdem das Kind, das ich geboren habe, nicht mein eigenes war. Vielleicht haben mich die Propheten für Dalan bestimmt?“
„Ja, das mag sein, aber möglicherweise haben sie nicht die Rolle der Mutter für dich vorgesehen, sondern die Rolle einer Li’hana, einer Beschützerin.“
So überrascht, dass ihr die Sprache fehlte, blickte sie ihn an. Seinem Ausdruck zufolge, war das sein vollster Ernst. „Odo, du glaubst nicht an die Propheten.“
„Jedenfalls nicht so wie du, aber das hält mich nicht davon ab, die Geschichten und Erzählungen zu lesen, die du so liebst. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist eine Li’hana jemand, der einem meist nur einmal und für kurze Zeit im Leben begegnet, um einen zu schützen und zu leiten.“
Sie nickte leicht. Jedes Wort stimmte, so stand es geschrieben. Mittlerweile war Dalan satt und sie nahm ihn Odo wieder ab. Ob er recht hatte? Würde es dem Kleinen besser ergehen, wenn er nicht bei ihr aufwuchs? Während sie Dalan wickelte und in den Schlaf wiegte, verfiel sie ins Nachdenken, worüber sie die Anwesenheit ihres Gefährten beinahe vergaß.
Mit einem Zischen glitt die Tür vor ihr auf und sie betrat ihr Quartier. Es sah anders aus, doch hatte jedes Ding seine Richtigkeit. Vor dem Fenster stand ein großer Esstisch, an dem sechs Personen bequem Platz fanden. Im Moment saß dort jedoch nur eine kleine Gestalt mit dem Rücken zu ihr.
„Hallo“, sagte sie in einem neutralen Tonfall.
Daraufhin wandte sich die Person am Tisch um. Es war ein Bursche von vierzehn oder fünfzehn Jahren, der sie freudig anlächelte. Die Ähnlichkeit mit Bareil war unverkennbar, es waren dieselben sanften dunklen Augen, die ihr entgegenblickten.
„Da bist du ja, Mama“, erwiderte er. „Ich komme mit meinem Aufsatz nicht weiter. Kannst du mir helfen bitte?“
Sie nickte leicht und setzte sich auf den Sessel neben ihn, sodass sie einen Blick auf das Padd werfen konnte, welches er vor sich auf dem Tisch liegen hatte. „Worüber musst du denn schreiben?“
„Über meine Familie und ihre Geschichte. Wir sollen über unsere Herkunft nachdenken.“ Er seufzte demonstrativ. „Über dich und meine Großeltern habe ich einiges geschrieben, aber ich weiß gar nichts über meinen Vater. Du hast mir noch nie von ihm erzählt, oder wenigstens seinen Namen verraten.“
„Dalan, dein Vater ist doch Odo...“
„Ja schon, aber er ist nicht mein leiblicher Vater. Warum willst du mir nichts über ihn erzählen? Ohne ihn wäre ich gar nicht hier. Ich will wissen, wer er war.“
Kira erhob sich hastig von ihrem Platz, beinahe hätte sie ihren Stuhl umgestoßen. „Ein anderes Mal. Ich muss noch einmal weg. Wir reden später darüber.“
Beinahe fluchtartig verließ sie das Quartier wieder. Wie sollte sie ihm diese Frage beantworten? Sie konnte ihm nicht den Mann als seinen Vater präsentieren, dessen Gene er trug, denn dieser war vor seiner Zeugung gestorben. Zumindest in diesem Universum. Abgesehen davon, wäre Bareil Antos, ein Vedek und jemand, der Großes für Bajor getan hatte, eine prädestinierte Vaterfigur. Dennoch... sie konnte ihm nicht nur einen Teil der Wahrheit sagen und die ganze Wahrheit führte ins Spiegeluniversum, von dem sie sich geschworen hatte, ihm niemals ein Wort zu verraten. Jäh prallte sie gegen ein Hindernis, da sie in ihrem Überlegungen nicht auf den Weg geachtet hatte. Erschrocken sah sie auf - und blickte in ihr eigenes Gesicht.
„Nerys, wohin so eilig?“ flötete ihr Pendant von der anderen Seite mit honigsüßer Stimme.
„Was willst du?“ stieß sie trocken hervor.
„Ich denke, das weißt du. Mein Sohn ist inzwischen ein junger Mann und bereit seinen rechtmäßigen Platz einzunehmen - als Prinzregent von Bajor.“
Erschrocken wich Kira einen Schritt zurück, sie ertrug es nicht der verhassten Intendantin so dicht gegenüber zu stehen. „Geh in die Hölle zurück, aus der du gekommen bist! Du hast ihn als Baby verlassen, jetzt ist es zu spät. Er bleibt bei mir, wo er sicher ist!“
„Oh, mittlerweile solltest du wissen, dass ich immer bekomme, was ich will.“ Das falsche Grinsen auf ihren Lippen wuchs in die Breite und auf einmal hielt sie eine Phaserpistole in der Hand.
Schwer atmend schoss Kira in die Höhe. Sie benötigte einige Augenblicke um zu realisieren, dass sie sich in ihrem Bett befand. Aus der Wiege hörte sie Dalans leise Atemzüge, er schlief selig. Auf dem Chronometer las sie, dass ihr nur noch gut zehn Minuten bis zum Weckruf blieben und sie entschloss sich, gleich aufzustehen. Die Bilder des Traumes hatten sie verstört. Im anderen Zimmer wies sie den Computer an, das Licht einzuschalten. Ein Schatten schoss hinter ihr aus der offenen Tür, umkreiste sie und landete schließlich auf dem Fußboden. Der weiße Vogel trippelte ihr entgegen. Odo war von einem wirklichen Hori nicht zu unterscheiden, ehe sich seine Gestalt in die glänzend bernsteinfarbene Masse aufzulösen begann. In Sekunden bildete sich die vertraute humanoide Form. Schließlich standen sie voreinander, schweigend. Es war einer dieser Momente, in denen es keiner Worte bedurfte, um einander zu verstehen. Sie las in seinen Augen, dass er die Entscheidung erahnte, die sie soeben getroffen hatte.
Dalan konnte nicht bleiben, auch wenn es ihr das Herz brach, ihn fort zu lassen. Es ging um sein Bestes, nicht um ihres. Odo hatte so recht. Dass der kleine Bub weit weg von allem aufwuchs, was seine Herkunft zu erschließen vermochte, war die einzige Möglichkeit, ihn wirklich zu schützen. Bei ihr würde er nie ganz sicher sein. Niemand an Bord dieser Station durfte Kenntnis davon haben, wo und bei dem er künftig leben würde. Am allerwenigsten sie selbst! Die Propheten hatten sie letzten Endes doch nicht dazu bestimmt, seine Mutter zu sein. Wenn nur diese Stimme in ihrem Herzen verstummte, die vehement darauf beharrte, dass er ihr Sohn war und zu ihr gehörte. Ihr Verstand hatte ihr deutlich den einzig richtigen Weg gewiesen. Was noch blieb, war Dalan dem Vertreter der Jugendfürsorge zu übergeben, wenn dieser in ein paar Stunden eintraf. Aus dem Nebenzimmer drang leises Weinen. Ein paar kostbare Stunden, in denen sie so etwas eine Familie sein durften. Sie rang sich ein Lächeln ab, als sie Odo die Hand reichte, um mit ihm gemeinsam nach Dalan zu sehen.
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