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Hunger

von Nerys

Kapitel 1

Hunger

von Nerys



Die aufgehende Sonne tauchte den lehmigen Platz und die trist grauen Baracken des Lagers in rotgoldenes Licht. Mit einem langgezogenen metallischen Ächzen glitt das große Gittertor beiseite, das den Lebensraum der bajoranischen Insassen vom Bereich der cardassianischen Aufseher trennte. Ein paar Wachsoldaten betraten den leeren Vorplatz, um die Nachtwachen abzulösen. Ihre schweren Stiefel hinterließen tiefe Abdrücke im feucht schlammigen Grund. Beinahe jeden Morgen beobachtete das magere zehnjährige Mädchen diese Szenerie aus einem der zersplitterten Fenster des beengten Raumes, in dem es mit seinem Vater, seinen Brüdern und fünfzehn weiteren Bajoranern verschiedenen Alters schlief. Die Baracke beherbergte mehrere solcher Schlafräume, die sich ebenso viele Personen teilen mussten. Bisher hatte Nerys nur eine weitere dieser Behausungen von innen gesehen, doch das reichte, um zu wissen, dass sie alle völlig gleich sein mussten. Ihre Familie lebte erst seit wenigen Wochen hier, jedoch erschien es ihr wie eine kleine Ewigkeit. Sie krabbelte zurück auf ihre Schlafmatte und zog sich die zerschlissene Decke über den Kopf. In der tröstlichen Dunkelheit kniff sie die Augen fest zusammen. Die Geräusche des erwachenden Lagerlebens drangen nur noch gedämpft an sie heran. Sie versuchte ihre Gedanken mit aller Kraft auf das kleine Haus am Rande Hathons zu richten, das sie zuvor mit ihrer Familie bewohnt hatte. Ihre Phantasie brachte sie zurück dorthin, zurück in ihr kleines Zimmer, das sie unbeschreiblich vermisste. Ja, sogar der große Baum, der vor dem Fenster wuchs und in seinen Blättern viel Licht fing, fehlte ihr. Letzten Frühling hatte sich ein Pärchen Golddrosseln im Geäst angesiedelt, herrlich leuchtend gelbe Singvögel, die sie jeden Morgen mit ihren Melodien geweckt hatten.
„Steh auf, Nerys“, ertönte die Stimme ihres Bruders dumpf durch die Decke, ehe der Stoff ruckartig von ihrem Kopf gezogen wurde. Pohl sah sie vorwurfsvoll an. „Vedek Fala schimpft, wenn wir zu spät kommen!"
Sie beachtete den fast achtjährigen Jungen zunächst nicht, sondern richtete den Blick auf die Schlafstätten neben sich. Die ihres Vaters war bereits verlassen. Er musste früh mit der Arbeit beginnen und blieb immer den ganzen Tag lang fort, um abends mit ein wenig Nahrung zurückzukehren. Reon lag noch zusammengekauert unter seiner Decke. Er fieberte schon seit ein paar Tagen, war schwach und blass. Als sie ihm die Hand auf die heiße Stirn legte, blinzelte er.
„Pohl und ich gehen zum Unterricht“, sagte sie leise zu ihm, woraufhin er sich schwerfällig aufrichtete.
„Ich will auch mit!“
Nerys drückte ihn wieder zurück auf die Matte. „Nein, Papa hat gesagt, du musst hierbleiben und dich ausruhen bis es dir besser geht. Wir erzählen dir doch alles, versprochen.“
Widerwillig blieb der neunjährige Junge liegen. Nerys kramte unter der Decke ihrer eigenen Bettstatt ein lädiertes Stofftierchen hervor, das einmal weiß gewesen war, und dem bereits ein Auge sowie ein Bein fehlten. An manchem Stellen quoll das Füllmaterial heraus. Sie legte es auf Reons Brust. Das Plüschtier war ihr Ein und Alles, sie hatte es noch von ihrer Mutter, die vor Jahren schon gestorben war. Pohl zupfte sie ungeduldig am Ärmel, um ihr zu signalisieren, dass sie sich beeilen sollte. Rasch tauschte sie ihr Schlafgewand gegen ein zerschlissenes blaues Kleid. Gemeinsam tappten die beiden Kinder im Spießrutenlauf über den mit Matten bedeckten Boden. Nachdem sie den Waschraum aufgesucht hatten, begaben sie sich ins Freie, wo Vedek Fala bereits mit einigen Jungen und Mädchen auf löchrigen Decken saß. Nerys mochte den Unterricht, denn er war die einzige Freude, die es im Lagerleben gab. Es fiel ihr normalerweise leicht, den Worten des jungen Geistlichen zu folgen, doch diesmal raubte ihr das Grollen ihres vor Hunger schmerzenden Magens rasch die Konzentration. Sie hatte die letzten Tage über den Großteil ihrer kargen Essensration Reon überlassen, damit er wieder zu Kräften kam. Da ihre Mutter so früh gestorben war, betrachtete sie es als ihre Aufgabe, sich an deren Stelle um ihre jüngeren Brüder zu kümmern.

Nach dem Ende des Unterrichts zur frühen Mittagszeit winkte Vedek Fala die beiden Geschwister zu sich. Nerys senkte reuig den Blick. Ihm war sicher nicht entgangen, wie wenig sie seinen Worten gefolgt war. Einmal hatte er sie bei einer Rechenaufgabe aufgerufen, die sie nicht beantworten konnte. Doch er lächelte gütig.
„Geht es Reon denn noch nicht besser?“ fragte er sanft.
„Nein, er hat immer noch Fieber. Er kann heute wieder mein Essen haben“, erwiderte Nerys.
Fala nickte ihr anerkennend zu. „Das ist sehr fürsorglich von dir. Vergiss nur dich selbst nicht. Du brauchst doch auch Nahrung. Er holte aus seiner weiten Manteltasche ein Stück Brot und eine getrocknete Jumja-Frucht. „Hier, für dich.“
Dankbar nahm sie die Lebensmittel entgegen. Der Vedek schickte die beiden zurück in die Baracke und sie liefen über den Platz. Der lehmige Boden war inzwischen beinahe trocken und klebte kaum noch zwischen ihren bloßen Zehen. Sie waren noch ein Stück weit von dem niederen Bau entfernt, als sich ihnen zwei ältere Jungen in den Weg stellten, die bestimmt schon fünfzehn oder sechzehn waren und sie um gut einen Kopf überragten.
„Ihr habt etwas zu essen, der Vedek hat es euch gegeben“, bemerkte einer der beiden. „Gebt es her, dann könnt ihr vorbei.“
„Nein, das gehört uns. Besorgt euch selber etwas!“ rief Nerys trotzig.
Die Burschen sprangen jäh vorwärts, sodass einer von ihnen sie grob an den Schultern packen konnte, während der zweite versuchte, ihr das Stück Brot und die Frucht aus den Fingern zu reißen. Sie wehrte sich nach Kräften dagegen. Pohl trat seinerseits nach einem der Angreifer, um seiner Schwester zu helfen, doch der stieß den kleineren Jungen beiseite. Bevor die Lebensmittel kaputt gingen und niemand mehr etwas davon hatte, überließ Nerys sie den beiden, die zufrieden von dannen zogen.
„Das ist gemein!“ keuchte Pohl entrüstet. „Vedek Fala hat das Essen dir gegeben.“
Nerys trat mit Zornestränen in den Augen gegen einen Stein, woraufhin ein stechender Schmerz durch ihre Zehe schoss. „Ich wünschte, die fürchterlichen Löffelköpfe würden verschwinden und niemand müsste mehr Hunger haben!“
Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, besah sie sich Pohls Knie, das er sich aufgeschürft hatte, als er von dem großen Jungen auf den Boden gestoßen worden war. Die Wunde blutete zum Glück nur leicht. Sie hörte den Magen ihres Bruders grollen wie es auch ihr eigener tat. Im Moment war sie so hungrig, dass es ihr schwer fiel an etwas anderes zu denken. An der Hand zog sie Pohl das letzte Stück hinüber zur Baracke, wo sie Reon aufrecht auf seiner Matte sitzend vorfanden. Es schien ihm endlich besser zu gehen, seine blauen Augen waren nicht mehr so glasig. Gespannt ließ er sich die Ereignisse des Vormittags berichten. Seine jüngeren Geschwister erwähnten auch die unliebsame Begegnung mit den Burschen, die ihn wütend mit den Zähnen knirschen ließ. Gerade hatten sie ein Säckchen mit kleinen bunten Kieselsteinen hervorgeholt, um sich die Zeit mit einem Spiel zu vertreiben, als jemand den Schlafraum betrat. Bei der jungen blond gelockten Frau handelte es sich um Dorani, die Medizinerin, die nach Reon sehen wollte. Mit den Instrumenten und Medikamenten, die den Cardassianern in den Krankenhäusern zur Verfügung standen, hätte sie ihn ganz schnell heilen können, war Nerys überzeugt. Doch die Löffelköpfe teilten nicht, sie nahmen nur. So konnte Dorani lediglich seine Temperatur messen und ihm einen Kräutertee aufgießen.
„Das Fieber ist gefallen“, verkündete die junge Frau mit einem Lächeln. „Du musst dich noch ausruhen, damit du wieder zu Kräften kommst. Dann kannst du bald wieder mit deinen Geschwistern herumtoben.“
„Es ist so langweilig, ich will endlich aufstehen“, maulte der Junge unzufrieden.
Dorani streichelte ihm sanft durch das wirre braune Haar. „Ja, das glaube ich dir. Wenn du einen Rückfall bekommst, weil du zu früh aufstehst und dich anstrengst, wirst du noch länger hier liegen bleiben müssen. Das willst du doch nicht, oder?“
Widerstrebend schüttelte Reon den Kopf.
„Na siehst du. Versuch ein bisschen zu schlafen. Pohl und Nerys können später wiederkommen, um mit dir zu spielen.“ Sie zog seine dünne löchrige Decke zurecht und legte ihm das Stofftierchen, das von der Matte gerutscht war, wieder in den Arm. Ihr Blick glitt zu den beiden anderen Kindern, die schweigend zusahen. Sie scheuchte die Geschwister behutsam hinaus, damit der kranke Junge seine Ruhe hatte.

„Spielen wir Verstecken?“ fragte Pohl, als sie zusammen über den sandigen Platz gingen. „He Nerys, hast du gehört?“
Das Mädchen blickte abrupt auf und schüttelte verlegen den Kopf.
„Ich will Verstecken spielen. Du suchst mich, ja?“ wiederholte er nachdrücklich.
„Na dann ab mir dir!“ Sie hielt sich die Hände vor die Augen und begann langsam zu zählen. Breit grinsend rannte Pohl davon. Während ihre Lippen weiterhin Zahlen formten, glitten ihre Gedanken wieder davon. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie ihre Mutter ausgesehen hatte, doch in ihrem Kopf fand sie nur eine gesichtslose Frau, so sanft und zärtlich wie Dorani. Bestimmt war sie sehr schön gewesen, hatte weiches langes Haar gehabt und ein liebevolles Lächeln. Früher hatte Nerys ihren Vater oft gebeten, von ihr zu erzählen, doch weil ihn das sehr traurig machte, hatte sie schließlich damit aufgehört. Sie wollte nicht, dass er unglücklich war. Die verdammten gierigen Cardassianer trugen die Schuld daran, dass ihre Mutter viel zu früh gestorben war, weil sie ihre eigenen Mäuler reichlich stopften, während die Bajoraner Tag für Tag mit dem Hunger leben mussten oder an ihm zugrunde gingen. Stimmen weckten ihre Aufmerksamkeit und sie entdeckte in der Nähe ein paar Kinder, die mit einem verknautschten Ball spielten. Jäh fiel ihr Pohl ein. Sie hatte in ihren Überlegungen versunken auf das Weiterzählen vergessen. Bestimmt wartete er schon in seinem Versteck darauf, dass sie ihn endlich fand. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie schließlich in einem leeren Vorratscontainer auf ihn stieß. Er sprang heraus und rannte vor ihr her.
„Fang mich, Nerys, los fang mich!“
„Du frecher kleiner... Dich kriege ich!“ keuchte sie im Lauf.
Sie folgte ihm quer über den Platz bis ihr auf einmal fürchterlich schwindlig wurde. Ihre Knie fühlten sich weich und zittrig an. Warum war ihr nur so seltsam zumute, als wäre alle Energie aus ihr herausgeflossen? Am Ende hatte sie sich bei Reon angesteckt und wurde nun auch noch krank. Aber wer kümmerte sich dann um Pohl, während ihr Vater arbeiten war? Nein, sie durfte einfach nicht krank werden!
„Was ist denn, Nerys?“ fragte ihr Bruder, der vorsichtig näher kam. „Du kannst mich nicht austricksen.“
„Mir ist schlecht“, stammelte sie. „Geh mit den anderen spielen, ich schau zu.“
Sie ließ sich in den Schatten der Baracke an die raue Wand gelehnt sinken und beobachtete das Ballspiel. Die Kinder waren alle in Pohls Alter oder ein wenig jünger und schienen überhaupt nie müde zu werden. Inzwischen hatte der Schwindel nachgelassen, aber sie fühlte sich zu erschöpft um wieder auf die Beine zu kommen. Die Augen fielen ihr zu.

Als Nerys aufschreckte, bemerkte sie als erstes, dass Pohl und die anderen Kinder nicht mehr da waren. Die Sonne stand schon ziemlich tief, also musste sie eine ganze Weile gedöst haben. Ihr Magen schmerzte fürchterlich vor Hunger. Sie sprang so rasch auf, dass sie für einen Moment nur dunkle Schlieren sah und sich an der Hauswand abstützen musste. Eine Zeit lang suchte sie im Umkreis der Baracken nach ihrem Bruder, aber er war nirgendwo zu entdecken. Schon wollte sie zurück laufen, um im Schlafraum bei Reon nachzusehen, als sie Kinderstimmen vernahm. Ein paar Jungen und Mädchen standen in der Nähe des Lagertores an den hohen Gitterzaun gedrängt, tuschelten aufgeregt miteinander und zeigten immer wieder auf etwas jenseits des Geländes. Neugierig geworden trat Nerys neben ein kleineres Mädchen, um den Gegenstand des allgemeinen Interesses ebenfalls sehen zu können. In den Metalldrähten des Zaunes befand sich direkt über der Erde eine Lücke, die einem kleinen Körper Durchschlupf zu gewähren vermochte. Sie folgte den Blicken der anderen Kinder und prallte erschrocken zurück. Dort draußen war Pohl. Ihr Bruder bewegte sich geduckt in Richtung des Tors. Die Wachen waren momentan den Propheten sei Dank nirgendwo zu sehen, doch das konnte sich jeden Moment ändern. Der Junge spielte ein gefährliches Spiel.
„Pohl, bist du verrückt? Komm sofort wieder her!“ rief sie ihm zu.
Er hatte sie gehört, denn er wandte sich kurz zu ihr um, ehe er vorsichtig weiter schlich. Im nächsten Moment begriff sie, was er vor hatte. Neben dem Torpfosten lag eine Tasche aus fast schwarzem Material. Die Wachsoldaten bewahrten in solchen die Dinge auf, die sie während des Dienstes benötigten, so wie auch ihre Jause und Wasserflaschen.
„Propheten!“ flüsterte sie voller Sorge. „Lasst die Cardassianer ihn nicht bemerken.“
Der Junge erreichte sein Ziel unbehelligt und löste den Verschluss der Tasche. Seine kleine Hand verschwand darin, um blitzschnell einen Wecken hellen Gebäcks herauszubefördern. Ein triumphierendes Grinsen erschien auf seinem Gesicht und die wartende Kinderschar brach in Jubel aus. Dann ging alles furchtbar schnell. Ein uniformierter Cardassianer stand auf einmal mit wutverzerrtem Gesicht vor ihm. Er duckte sich unter der großen Hand hinweg, die nach ihm griff, und wirbelte herum. Doch der Soldat war schneller. Nerys klammerte sich an den Maschen des Zaunes so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, während sie zusehen musste, wie ihr Bruder unter einem wuchtigen Schlag in den Schlamm fiel.
„Du dreckiger kleiner Bastard! Dich werde ich lehren mich zu bestehlen“, keuchte er und richtete seine Disruptorpistole auf ihn.
„Nein! Bitte nicht! Er hat doch nur Hunger!“ schrie Nerys panisch.
Dem Soldaten entlockte das nur ein höhnisches Lachen. „Kein Verbrechen bleibt ungestraft, schreibt euch das hinter die Ohren, ihr Gören.“
„Bitte lassen Sie meinen Bruder gehen“, flehte das Mädchen ihn durch den Zaun an. „Er wird so etwas auch nie wieder tun.“
Der Cardassianer zog Pohl grob am Handgelenk in die Höhe und schleifte ihn zum Lagereingang. Nerys stürzte ihm entgegen. Die kurze Zeit, die das Tor brauchte, um aufzugleiten, erschien ihr beinahe endlos. Immer noch dem Disruptor in der einen Hand stieß er den wimmernden Jungen hinein. Seine Schwester wagte es nicht sich weiter zu nähern.
„Verschinde, Bursche! Das ist mehr als du verdienst.“
Nerys keuchte ungläubig und erleichtert auf, als Pohl auf sie zu rannte. Er hatte eine Schramme im Gesicht, doch immerhin lebte er. Auf einmal erfüllte ein Sirren und ein grünlicher Blitz die Luft. Der Junge schrie schmerzerfüllt auf. Wie in Zeitlupe stolperte er vorwärts und stürzte bäuchlings zu Boden. Ein hässlicher blutverschmierter Brandfleck war auf seinem Rücken in dem zerschlissenen Hemd erschienen. In der Luft lag der widerlich süßliche Geruch von verbranntem Fleisch. Nerys starrte entgeistert ihren reglosen Bruder an und dann den Cardassianer, der mit erhobenem Disruptor noch immer im offenen Eingang stand. Seine Lippen verzogen sich zu einem bösen Lächeln. Erst als er sich abwandte und das Tor sich knirschend schloss, erwachte sie aus ihrer Starre. Die anderen Kinder waren längst blindlings vor Angst davon gerannt. Nerys fiel neben Pohl auf die Knie, drehte ihn behutsam herum und zog ihn in die Arme. Seine blauen Augen waren halb geöffnet. Er versuchte zu sprechen, doch aus seinem Mund drang kein Laut. Sie legte ihm den Finger an die Lippen, damit er schwieg und sich nicht anstrengte.
„Halt durch, Pohl, alles wird gut. Die Propheten lassen nicht zu, dass du stirbst! Du bist doch mein Bruder“, flüsterte sie. „Pohl? Pohl! Neeein!!“
Schluchzend brach sie über seinem reglosen Leib zusammen. Ihre Tränen flossen auf sein Gesicht, das ruhig und friedlich war, als schliefe er nur. Er dufte einfach nicht tot sein!

Die Welt hörte auf zu existieren. Nichts war mehr wichtig. Nerys bemerkte weder, dass sie immer wieder von anderen Lagerbewohnern beobachtet wurde, in deren leere Augen sich eine Spur von Mitleid schlich, noch dass die Sonne langsam sank. Sie spürte die Kälte nicht, die von der Erde durch ihren Körper kroch. Der Abendhimmel leuchtete blutrot über den düsteren Baracken, ehe die Dämmerung hereinbrach. Wie in Trance wiegte sie ihren Bruder hin und her. Tränen hatte sie längst nicht mehr. Erst ein sanftes Paar Hände, das sie ergriff und von Pohl fortziehen wollte, ließ sie aus ihrer Starre erwachen. Sie wehrte sich erbittert dagegen von ihrem Bruder getrennt zu werden.
„Nein! Nein!“ schrie sie verzweifelt. „Pohl!“
Erneut wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt. Immer wieder rief sie mit tränenerstickter Stimme seinen Namen und klammerte sich mit ganzer Kraft an den kleinen zarten Körper, der erschreckend kalt geworden war.
„Lass los, Nerys. Du kannst ihm nicht mehr helfen. Komm her, meine Kleine“, sagte eine tiefe vertraute Stimme dicht neben ihr. Starke Arme schlossen sich um sie.
„Papa...“
Es war inzwischen so dunkel, dass sie sein Gesicht nur schemenhaft zu erkennen vermochte, doch er war es. Ihr Vater war da. Sie ließ sich von ihm halten und nun war er es, der sie vorsichtig hin und her wiegte. Aus dem Augenwinkel merkte sie, wie jemand eine Decke über den Leichnam ihres Bruders breitete. Er war tot. Sie schloss die Augen, wollte nichts mehr sehen.
„Pohl ist jetzt bei den Propheten. Er ist an einem besseren Ort.“
Behutsam streichelte ihr Vater ihr über das wirre rostbraune Haar. Als sie aufblickte, konnte sie sehen, dass seine nachtdunklen Augen feucht waren. Ihr Bruder war tot und sie trug die Schuld daran. Als die Älteste war es ihre Aufgabe, auf ihre jüngeren Geschwister aufzupassen. Doch sie hatte jämmerlich versagt, hatte nicht verhindert, dass Pohl den Cardassianer bestahl. Es war doch nur ein Stück Brot gewesen. Nur Brot! Der verfluchte Löffelkopf hatte ihm einfach in den Rücken geschossen. Er hatte ihn umgebracht! Dieser Gedanke setzte sich in ihr fest wie ein keimendes Samenkorn. Ihr Vater trug sie in die Baracke zu ihrer Schlafmatte auf dem Boden. Daneben schlummerte Reon selig und ahnte nicht, dass sie nie wieder gemeinsam zu dritt herumtoben, lachen und spielen würden. Ehe sie vor Erschöpfung einschlief, gab sie sich selbst ein Versprechen. Eines Tages, wenn sie alt genug dafür war, würde sie sich mit der Waffe in der Hand den Cardassianern entgegenstellen. Pohl sollte nicht umsonst gestorben sein.
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