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Hinter dem Zaun

von Nerys

Kapitel 1

Hinter dem Zaun


Die Welt hinter dem Zaun war so groß. Jeden Morgen stand das kleine Mädchen mit den verfilzten blonden Locken an derselben Stelle und sein Blick verlor sich weit in der Ferne. Sein magerer, nur in ein dünnes schäbiges Kleid gehüllter Körper schien viel zu zart für den heftigen kalten Wind zu sein, der zu dieser Jahreszeit oft über die Lande fegte, und der der stärker werden Kraft der Sonne trotzte. Im Lager begann der Tag früh für die erwachsenen und jugendlichen Insassen, die imstande waren, die kräftezehrende Arbeit für die cardassianischen Herren zu verrichten. Joss war mit ihren sieben Jahren dafür noch zu klein. Sobald der Morgen anbrach, floh sie aus der Baracke, in der sie zusammen mit ihrer Mutter schlief, denn sie wusste genau, dass dann der Cardassianer kam. Sie erinnerte sich an jenen Tag, als es das erste Mal geschehen war. Darel hatte ihre Tochter dazu gedrängt, wegzurennen, doch Joss hatte zu viel Angst gehabt und nicht gewusst, wohin sie laufen sollte. Weinend, mit der zerschlissenen Decke über den Kopf gezogen, hatte sie mit anhören müssen, wie der Soldat ihrer Mutter Leid antat. Seitdem flüchtete sie immer an den Zaun, um diese weite Welt jenseits des Elends im Lager zu betrachten, die so bezaubernd und verlockend war. Sie beobachtete einen bunten Vogel, der auf der anderen Seite in der Erde nach Nahrung pickte, bis er jäh einen Warnruf ausstieß und davon flatterte. Was ihn verscheucht hatte, war eine schmale Gestalt, die am Zaun entlang spazierte. Noch bevor Joss reflexartig zurückweichen konnte, bemerkte das fremde Mädchen, das etwa in ihrem Alter war, sie ebenfalls. Die kleine Cardassianerin war hübsch angezogen, trug ihre langen nachtschwarzen Haare zu ordentlichen Zöpfen geflochten und hielt ein Stofftierchen an die Brust gedrückt.

„Hallo“, sagte sie erstaunt zu ihrem Gegenüber. „Wer bist du?“

Die Bajoranerin kam zögernd näher. Sie hatte bisher nur große Cardassianer gesehen und nicht gewusst, ob diese auch Kinder hatten. Mit einem ratlosen Schulterzucken versuchte sie zu signalisieren, dass sie die unmelodische Sprache nicht verstand, die auch von den Wachen benutzt wurde.

„Ich bin Atreia“, fuhr das andere Mädchen fort, indem es auf sich selbst zeigte. Dann hob es das Stofftier. „Das ist Siv. Und wie heißt du?“

Sie begriff, was die Cardassianerin von ihr wollte, und wiederholte die Geste in ihre Richtung. „Joss.“

Atreia deutete auf ihr Gegenüber und dann auf den Zaun. „Warum bist du da drin?“

Verständnislos schüttelte die kleine Bajoranerin den Kopf. Sie wuste nicht, was sie sagen sollte, da das andere Kind ihre Sprache sicherlich genauso wenig beherrschte. Zu gerne hätte sie es gefragt, wie die Welt hinter dem Zaun war. Atreia zog einen Beutel aus der Tasche ihres Kleides und hielt ihn ihr hin. Darin befanden sich kleine bunte Kugeln, die Joss noch nie gesehen hatte. Verwirrt starrte sie auf das Säckchen, weil sie keine Ahnung hatte, wofür dessen Inhalt zu gebrauchen war.

Atreia fischte eine gelbe Kugel heraus. „Das kann man essen. Schmeckt gut.“ Sie steckte diese demonstrativ in den Mund, kaute darauf herum und grinste, als sie den Beutel erneut durch den Zaun hielt.

Zögernd nahm Joss eines der runden Dinger, welches eine rote Farbe besaß, und beäugte es misstrauisch. Ihr ausgehungerter Magen begehrte beim Anblick von etwas Essbarem sofort auf. Vorsichtig legte sie die Kugel zwischen die Zähne und biss hinein. Es knirschte kurz, dann spürte sie etwas Klebriges auf der Zunge. Eine köstliche Süße breitete sich in ihrem Mund aus. Noch nie hatte sie etwas gegessen, das so wohlschmeckend war. Sie bemühte sich, ganz langsam zu kauen, um die Leckerei möglichst lange zu genießen.

„Mhmm, das ist so gut“, kommentierte sie begeistert und leckte sich über die Lippen, auf denen noch ein Rest der herrlich süßen Füllung klebte.

Atreia lächelte breit. Die beiden Kinder teilten sich die bunten Naschereien, als gäbe es die größte Barriere zwischen ihnen nicht. Jene der Abstammung. In dem nussbraunen und dem hellblauen Augenpaar, die einander voller Neugier begegneten, lag nur eine einzige ungestellte Frage. Was lag hinter dem Zaun?

„Atreia! Wo bist du?“

Die herrische Männerstimme ließ die kleine Cardassianerin herumwirbeln. Ein Soldat in Uniform kam ihr mit erleichterter Miene entgegen. Rasch drückte sie Joss den Beutel in die Hand, die sich beim Anblick des Cardassianers erschrocken duckte. Dann lief sie ihrem Vater entgegen, der sie hochhob und einmal herumwirbelte. Joss rannte voller Angst davon, damit der Wachmann sie nicht bemerkte. In dem Säckchen lag noch eine letzte orangefarbene Kugel. Sie beschloss, die Süßigkeit ihrer Mutter zu schenken, wenn diese abends von der Arbeit zurückkehrte, und verbarg sie in der Tasche ihres Kleides.
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